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Erinnerungen an den Alotria-Kreis

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Erinnerungen an den Alotria-Kreis

(1918)

Unser Oktober- und Novemberheft enthielt Aufsätze von Louis Corinth über die Münchner Allotria; zu diesen Aufsätzen erhalten wir von dem derzeitigen Präsidenten der Allotria, Herrn Professor Gabriel von Seidl, nachstehende Zuschrift mit dem Ersuchen um Veröffentlichung:

»In Ihrer Zeitschrift veröffentlichen Sie Erinnerungen des Herrn Lovis Corinth an die Allotria.

Die Allotria besteht seit 34 Jahren, Herr Corinth gehörte ihr nur verhältnismäßig kurze Zeit als Mitglied an. Es ist nicht zu verwundern, daß das Erinnerungsbild aus früherer Zeit, das Herr Corinth entworfen hat, weder äußerlich richtig noch innerlich wahr ist. – Die noch übrig sind von denen, die damals ein Stück Lebens- und Künstlerglück gefunden, geschaffen und genossen haben, empfinden es peinlich, daß diese reiche Zeit in so dürftiger und entstellter Gestalt literarisch auflebt, oder gar fortleben konnte.

Wir verwahren uns dagegen, daß die Corinthschen Aufsätze etwa als ›Quelle‹ angesehen werden könnten für die besondere Art der Gesellschaft oder für die Charakteristik einzelner unserer Freunde.

Viele haben wir verloren, denen zulieb wir dies sagen müssen. Aber auch Lebende, die sich noch mit uns in der Allotria freuen, wollen wir vor Unbill schützen.«

Gabriel von Seidl.


Erinnerungen an den Allotria-Kreis

Diese mir vom Vorstande der Allotria erteilte strenge Rüge glaubte ich dem Leser nicht vorenthalten zu dürfen, zuerst aus dem Grunde, daß er wissen sollte, welch böser Mensch der Verfasser dieser Erinnerungen wäre, und dann aus reiner Menschenliebe, um dem Vorstande eine zweite derartige Gemütsaufregung zu ersparen.

In der Gespensterstunde kam Gustav Schwabenmaier aus der Unterwelt zu mir geschwebt. Wie er den Brief durchgelesen hatte, sagte er höhnisch: »Recht g'schieht dir Saupreuß, Lackl g'scheerter, warum tust a aus der Schul schwätze.« Auf meine Beschwerde hin, daß ich aber auch für die Zukunft als Quellenschöpfung verboten wäre, [⇐131][132⇒] erstrahlte sein ganzes rundes Gesicht von dem sonnigsten Grübchenlächeln, und seine großen braunen Augen, über denen die Brauen sich gleich Adlerfittichen schwangen, blitzten mich funkelnd an. Dann verschwand er unter Dröhnen und Donnern, nicht ohne mir noch vor her seine letzten vier Worte zugerufen zu haben.– – – ? – – – – –.

Die Gemütlichkeit des Münchnerischen Künstlerlebens kulminierte zu Anfang der achtziger Jahre im vorigen Jahrhundert in der jungen, kurz vorher gegründeten Allotria. An Charakteren war dieser Verein reich; aber trotzdem ragten aus dieser Ansammlung einige Riesen hervor, die zwar keine nennenswerten Kunstwerke hinterlassen haben, aber kraft ihrer Lebenskunst als Genies bezeichnet werden müssen. Viele dieser Originale haben zwar einen »lütten Schuß« Ähnlichkeit mit Rameaus Neffen, besitzen aber in Witz und Ernst eine geradezu antike Größe. Als Beispiel sei das Sterben Gedons vorgeführt.

Gedon war der erste Präsident der Allotria. Er war eine verkleinerte Ausgabe des Universalgenies Lionardo. Er baute, bildhauerte, sammelte; ein Kleinod seiner Sammlung soll ein gotischer Schuh gewesen sein. München war zu jener Zeit gerade von dem Renaissancedusel ergriffen; in diesem Stil baute er auch das Schack-Haus, das jetzt im Besitz des Deutschen Kaisers ist, und um das jeder rechte Münchener Bürger einen weiten Bogen macht, um ja nicht die ihm so verhaßten preußischen Fahnenstangen und Adler zu Gesicht zu bekommen.

Noch in den besten Jahren erkrankte Gedon an einem krebsartigen Leiden. Von den Ärzten hatte er genaue Aufklärung verlangt, und im besonderen mußten sie ihm den Zeitpunkt angeben, wann er nicht mehr aus dem Hause durfte. Als nun die Stunde gekommen war, bestimmte er noch ein Abschiedsfest in der Allotria. Alles fand sich natürlich ein. War die eigentümliche Feier auch anfangs ernst und von trauriger Stimmung, so wirkten doch die Getränke, und gegen Morgen soll kaum ein Abend fröhlicher geendet haben wie dieser. Von da ab ist Gedon lebend für niemand mehr sichtbar gewesen. Ich finde im ganzen Plutarch keinen Helden, dem sich nicht dieser Leidende würdig zur Seite stellen könnte.

Der Nachfolger Gedons im Vorsitz war Lenbach. Er verstand es, eine Schar Trabanten um sich zu sam meln, um die ihn jeder König beneiden konnte. Ich denke da hauptsächlich an das Freundespaar: Gustav Schwabenmaier und Stäbli.

Letzterer ist auch als Landschaftsmaler zu Ehren und Würden gekommen, sowohl in seiner Schweizer Heimat als auch in München, aber es war etwas spät; die goldene Medaille im Glaspalast hat er sogar erst als Toter erhalten. Schwabenmaier war als Vereinsdichter berühmter als in seinem Beruf als Maler.

»Guschtav Schwabemaier« nannte er sich in seinem schwäbischen Dialekt; »Guschtävle« riefen ihn die Freunde.

»Was tut mir vieles Wissen not!

Als Brunnquell froher Lieder

Lacht mir ein Mund vom Küssen rot

Wohl unter dem blinkenden Flieder!

Grundsätze brachtest du zu mir,

Wo sind sie nun geblieben?

Ich sage offenherzig dir,

Mein Grundsatz ist, zu lieben.

Wo Tugend gegen Liebe ficht,

Muß Liebe immer siegen;

Drum tröste dich und weine nicht,

Du mußtest unterliegen.«

So sang er in der Blüte seines Lebens.

»Bayersdorfer sagt, die Lyrik von mir ischt guet, aber die Prosa taugt nix.«

Damit meinte er seinen Künstlerroman, der immer in embryonischem Zustand blieb. Er wollte aber an ihm Geld verdienen; so ging er abends bei den Gästen in der Allotria mit Anteilscheinen zu je 100 Mark hausieren. Selbstverständlich kauften einige der reichen Allotrianer dieselben, ohne eine Miene zu verziehen. Er ermunterte auch ängstliche Gemüter:

»Wenn einer von den Herre nicht genügend Geld habe sollte, so könne sich zwei oder mehrere z'sammetun – i nehm's a so.«

Von einem Verehrer hatte er ein kostbares Damenbrett geschenkt bekommen mit wundervoll geschnitzten Reliefs auf den runden weißen und schwarzen Steinen.

Wie ein Cerberus packte er nun jeden an, der zum erstenmal die Räume der Allotria betrat. Ob der Neuling wollte oder nicht: Er mußte mit ihm »um eine Fläsch Mühle fahre«. Er gewann nämlich immer und hatte auf diese Weise für jeden Abend sein Quantum Wein bei der Hand. Die wenigen Male, daß er einen Stärkeren fand, war er viele Stunden mißmutig, aber um die »Fläsch« kam der Sieger dennoch nicht.

Er war in der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig gewesen: »Sey du froh, daß dei' Vater Gerbermeischter war, der meinige war Professor, drum han i a nix.«

So manches Mal steckten ihm seine Mietsleute einen Taler in die frischgewichsten Stiefel. Aus seiner Kindheit konnte er sich entsinnen, daß er dem Uhland in Tübingen einen Schneeball in die Überziehertasche geworfen hatte.

Außer der Allotria hatten alle ihre Stammtische in bestimmten Gastwirtschaften der Stadt. Sie verteilten sich auf diese, wie die gegenseitige Sympathie sie zusammenführte.

Ein Hauptlager – gewissermaßen die Allotria im kleinen – war die Veltliner in der Schillerstraße. Hier hingen stattliche Ölgemälde an den Wänden: Tauschartikel für genossenen Wein. Da saßen sie dann lachend und schwatzend zusammen: der Stäbli, der Bayersdorfer, der Schwabenmaier, der Sachse Arthur Langhammer, Emélé, ein Badenser, der seinen Namen mit Akzenten auf den »E's« auf seine Faust verschönt hatte, und andere mehr.

Unter den Tischen und in der Küche trieb Hipp sein Wesen, der Hund Langhammers. Ein zottiger, gelber Scherenschleifer, dessen Stolz war, ohne Schwanz auf die Welt gekommen zu sein. Wie ein Bär trottete er einher; all sein Mienenspiel lag in seinem Gesicht, was viel mehr ausdrückte als bei seinen Kameraden Gesicht, Ohren und Schwanz zusammen.

Feig und klug war er. Außer auf seinen Streifzügen aus Privatvergnügen gehorchte er seinem Herrn und den anderen Onkels aufs Wort.

»Hipp, geh mit dem Onkel So und So!« befahl ihm Langhammer, wenn er allein sein wollte, und er ging.

»Dreh den Kopf nach links« und er tat es, sobald er Modell stehen mußte. Nur mit leisem Wimmern und flehenden Augen bat er um Pausen, wenn's ihm zu lang schien.

In der Küche der Veltliner hatte er die Geliebte seines Herzens: eine schwarze Katze. Zwischen Furcht und Verlangen wie das Spinnenmännchen forschte er nach Genüssen auf Hundeart, um dann vor der Fauchenden eiligst zu entwischen.

Er ist schon lange dahin. Eine eingerahmte Locke, mit blauer Seide gebunden, hing zu seinem Gedächtnis an der Wand beim Stammtisch.

Langhammer war das mauvais sujet der Gesellschaft. Man sah es seinen großen kugelrunden Augen an, wer zum Verulken an die Reihe kommen sollte.

Als nun Emélé seinen jüngeren Bruder, der sich aus Baden zum Besuch eingefunden hatte, in die Veltliner mitbrachte und ihn der Korona vorgestellt hatte, arbeitete es in Langhammer, und er kam mit der Frage heraus:

»Herr Emélé, schreibt sich Ihr Bruder auch mit dem accent aigu hinten?«

Die Antwort des Errötenden war:

»Ach! Was wollen Sie, so 'n junger Mensch.« – –

Er muß übrigens ein umständlicher, gewissenhafter Herr gewesen sein.

Er fing wohl eine Erzählung an:

»Es war im Jahre neunundsechzig; der Kürze wegen lasse ich achtzehnhundert aus;« – oder er fragte einen aristokratischen Maler:

»Sagen Sie, Herr Graf, ist Ihre Frau Gemahlin eine direkte Nachkommin des berühmten Generals von York?«

»Jawohl,« bestätigte der Gefragte, »sie ist eine Enkelin von ihm.«

Der andere druckte dann eine Weile herum und endigte die Unterhaltung mit den Worten:

»Meines Wissens hatte General von York keine Kinder.«

Schwabenmaier schrieb hier, wo er sich wie zu Hause fand, seine literarischen Werke nieder. Ein Blatt Papier auf dem Tisch neben dem roten Wein, den Bleistift gedankenvoll an den kleinen Mund gelegt, sah er mit seinen großen braunen Augen, über die weitgeschwungene Brauen lagerten, in die Ferne. Wegen Weitsichtigkeit trug er bei diesen Arbeiten immer eine stahlgefaßte Brille, die er am Hinterkopf mit einem Bindfaden zusammengebunden hatte. »Gedankensplitter«, allgemeine Weisheiten wollte er herausgeben.

Der kleine Langhammer half ihm dann manches Mal auf die Sprünge. »Schwabenmaier, schreib«, so befahl er:

»Selbst der beste Essig ist sauer.«

»Halt dein sächs'sche Rand, Rindviech dummes,« erwiderte der, stärkte sich mit einem Schluck und dachte weiter nach.

Stäbli lächelte meistens nur jeden freundlich an und beschränkte sich auf die Phrase: »By Gott, der Wi ischt guat« –; war er besonders aufgelegt, sang er das traurige Lied vom unglücklichen »Schwalangär« (Chevauleger). Seitdem ihn der Prinzregent zum Professor ernannt hatte, trug er eine weiße Krawatte und weiße Weste, beide Sachen hielt er peinlich sauber.

Einstmals trafen die Freunde zu einem Ausflug auf dem Bahnhof zusammen. Als letzter kam Stäbli an, unter dem einen Arm eine eingewickelte Flasche, das war selbstverständlich, aber in der Linken hielt er wie ein Blumenbukett eine Tüte.

»Staab, was hascht da in der Hand?« fragte Schwabenmaier. »Hier han i Rotwin, und weischt, wenn i son Trillilio in der Hand hab un eppas auf d' West tropft, dann han i hier Salz und das streu i drauf.« Da war das Guschtävle schon ein anderer Kerl, dem konnten die Kleider am Leib aussehen wie sie wollten, und beim Schlafengehen am frühen Morgen war es ihm erst recht wurscht, wie sie sich gruppierten. Er war auf ein Schloß am Bodensee geladen, und da er sich den nächsten Tag um 12 Uhr immer noch nicht sehen ließ, trat der besorgte Gastfreund in die unver schlossene Stube. Da lag alles wie Kraut und Rüben auf dem Boden. Kopfschüttelnd hob der Mann jedes Stück auf und legte die Sachen auf den Stuhl.

Schwabenmaier erwachte, was er durch ein Geräusch kundtat und dabei ein Bein aus der warmen Umhüllung emporstreckte. Blinzelnd hörte er die Vorwürfe des andern, dann erwiderte er: »Weg'n so'n lumpigtes Gräfle wie du ändert der Guschtav Schwabemaier noch lang net seine Gewohnheite.«

Sprach's und wich von dem Lager, gleichgültig, ob das »Gräfle« seinen einfachen Herrichtungen für den Tag beiwohnen wollte, oder es doch vorzog, zu verschwinden.

Das Leben, so sie führten, war nicht dazu angetan, lange zu währen. Der Wechsel in Entbehrungen und Überfluß, selten genügendes Essen und immer unmäßiges Trinken schwächten doch schon in den vierziger Lebensjahren ihre Widerstandskraft. Ich glaube, Stäbli starb zuerst.

Stäbli zog sich in den letzten Jahren des öfteren in ein Krankenhaus zurück, um seinen Körper von der allzu großen Anhäufung von Alkoholsubstanz und deren Folgen zu befreien. War er auf solche Weise von Zeit zu Zeit für seine Freunde unsichtbar, pflegte wohl Schwabenmaier zu sagen: »Der Staab hat wieder die Reblaus.« Stäbli selbst nannte es nach der neumodischen Krankheit zwar zögernd, aber doch be stimmt: die Influenza, sein blauroter Kopf wurde bei dieser Notlüge noch farbiger.

Einmal schon war er bei dem Tode haarscharf vorbeigestreift. Zu dem Mittagstisch in der Veltliner kam er eines Tages blaß und verstört hereingestürzt, fiel fast bewußtlos auf den nächsten Stuhl, nur noch die Worte vorstammelnd: »I han Chloroform getrunke.« Zum Glück war der Ober- und Unterleibsarzt der ganzen Sippe anwesend, »der Doktor«. Dieser war nicht allein der Arzt ihrer Körper, sondern ebenso auch ihrer Seelen, denn er sang die schönsten Schnadahüpfl und verstand sie vortrefflich mit der Gitarre zu begleiten.

So manchen Moralischen jagte er mit seiner Zitherklampfen und seinen oberbayrischen Volksweisen von dannen.

»Der Dokter« nahm sich nun den Stäbli vor, und durch Einfüllung von schwarzem Kaffee und mit Frottieren brachte er ihn allmählich wieder so weit zum Bewußtsein, daß er den Hergang erzählen konnte: In letzter Zeit hatte er zum Paletteputzen statt Terpentin dies gottverdammte Zeug benutzt, und da er gerade Durst verspürte, die Augen aber noch mit seiner Malerei beschäftigt waren, reckte er seine Hand nach altgewohnter Weise nach dem Fensterbrett und hatte anstatt des erfrischenden Kirschwassers dies Saug'süff ergriffen.

Eine Gelbsucht war die Folge dieser Verwechslung der Flaschen. Diese Krankheit überwand er wohl, aber die Reblaus blieb ihm treu, ergriff ihn immer mehr, bis sie ihn endlich in das Grab brachte.

Der Guschtav Schwabemaier bekam die Wassersucht. In der Schloßwirtschaft zu Schleißheim verbrachte er die letzten Jahre. Fast alle Tage besuchten ihn aus München seine Freunde. Sie hatten die Taschen und Arme voll Mitgebrachtem, wie er es liebte: Flaschen von Portwein und Sekt, selbst Schachteln schwedischer Streichhölzer und hauptsächlich Zigarren. Wer nichts brachte, war auf Zeiten hinaus, bis er sich besserte, seiner Ungnade verfallen. Strathmann und seine Frau, die zufälligerweise nichts da hatten, konnten sich nur durch alle möglichen Versprechungen für das nächste Mal loskaufen. Da die Tage dahingingen, ohne daß sie sich bei Schwabenmaier wieder sehen ließen, bekamen sie folgendes Gedicht auf einer Postkarte zugesandt:

»Einzig ist dies Ehepaar.
Was er verspricht, verspricht auch sie,
Doch ein Versprechen, das ist klar,
Das er vergißt, vergißt auch sie.
Hat Karl den Mund weit aufgerissen,
Sein Weiberl schließt ihn zu mit Küssen,
Ja, glücklich sind die zwei vereint.
Herzlichen Gruß! Ein kranker Freund!«

Seinerseits kam er auch noch viel nach München, wo der Wirt der Veltliner ihm stets ein Zimmer frei hielt. Auch dem zwei Stunden entfernten Dachau, das mit Schleißheim durch eine geradlinige Chaussee, an der ein Wassergraben entlang läuft, verbunden ist, stattete er Visiten ab, um mit seinem Spezi Arthur Langhammer zu konferieren. Bei der abendlichen Rückkehr war ihm das junge Bier auf den Magen geschlagen.

Fluchend mit schwerfälligem Gange suchte er wenigstens den in der Mitte der Wegstrecke liegenden Gasthof zu erreichen. Es war innen alles im tiefen Schlaf. Wütend klopfte er an die Tür, daß das ganze Haus dröhnte. Endlich kamen scharrende Schritte und eine ärgerliche Stimme fragte nach dem Begehr. Darauf Schwabenmaier: »Wirt, mach auf! i bin da! der Guschtav Schwabemaier.«

Die Tür ging knarrend auf und der Wirt hielt krampfhaft die Nase fort. Schwabenmaier wies auf seinen Anzug und das am Wege fließende Wasser.

Verständnisinnig nickte der Wirt.

Dann ward ihm ein Bett bereitet und im neuen Hemde wollte er sich hineinlegen. Da hörte er verhaltenes Kichern, und nun sah er zuerst, daß noch mehrere Mägdebetten herumstanden.

»I bin doch ein Kavalier«, sagte er, wenn er dieses Abenteuer erzählte, »und da bin i denn zuerst zu jeder herangetrete und han gefragt, ob i den Dame mit etwas aushelfe könnt.« Dann erst, als alle Damen sich seinen Diensten ablehnend verhielten und sich die Decken g'schämig bis über die Ohren gezogen hatten, suchte er sein keusches Lager auf, um der so notwendigen Ruhe zu pflegen. Den nächsten Morgen fand er seinen Anzug sauber und gebügelt vor seinem Bett und die Mägde an der Arbeit. Noch ein paar Galanterien und er trollte davon.

Allmählich mußte er sich bequemen, ein beschaulicheres Leben zu führen. Der Leibdoktor sagte bei einem Besuch: »Der Schwabenmaier gefällt mir nicht, er hat weiße Ohren – ein schlimmes Zeichen.« Aber er fand sich schwer in die Entsagungen. Als einer von uns sich in der Vesperzeit ein Glas Milch bringen ließ, schüttelte er den Kopf: »Wie kann man Milch trinke, wenn man net muß.«

Des Wassers aber wurde immer mehr. Mit philosophischer Ruhe sah er den Operationen der Abzapfung zu, in der Rechten ein Glas Rotwein, das er in Zwischenpausen zum Munde führte. Wie es schon ganz auf die Neige ging, traf seine Schwester ein, um ihn zu pflegen. Meistens war er bettlägerig, durch seine geliebte Fläsch wurden seine Lebensgeister immer noch neu belebt. Als er nun wieder halb träumend dahinduselte, trat seine Schwester zu ihm:

»Guschtävle!« fragte sie leise, »willst du vielleicht ein Glas Sekt?«

Er aber rief ihr die landläufige Münchnerische Aufforderung, aus vier Worten bestehend, zu, wandte ihr den Rücken – und war tot.

Die Trauerkunde flog von Atelier zu Atelier, von Stammtisch zu Stammtisch. Münchens Maler waren alle in Schleißheim eingetroffen, um ihn – den Guschtav – zur ewigen Ruhe zu begleiten. Auch der Kriegerverein, dessen Ehrenmitglied er als Inhaber des Eisernen Kreuzes war, hatte sich eingefunden, um die gewohnten Salven über dem Grabe abzuschießen. Ebenfalls die Bewohner des Ortes und der Umgegend; auch selbst der Bürgermeister von Schleißheim, mit dem er wegen eines schlechtgemachten, natürlich unbezahlten Schuhzeuges in ewiger Feindschaft gelegen hatte.

Es war eine Menschenanhäufung wie auf dem Salvator oder Oktoberfest; inmitten dieser Menge der von Veteranen getragene schwankende Sarg.

Da neigt sich ein Kopf zum andern, jeder tuschelt seinem Nächsten mit vorgehaltener Hand etwas zu, worauf auf allen Gesichtern ein leises Lächeln aufblitzt wie ein Licht in tiefster Dunkelheit. Was sie einander zuraunten, waren die letzten Worte Guschtav Schwabemaiers.

Wir befinden uns jetzt auf dem Wege zur Allotria. Wir biegen von dem runden Karolinenplatz, auf dessen Mitte der Obelisk mit den vier Widderköpfen an den Ecken des Sockels und der Inschrift »Auch sie starben für das Vaterland« steht, in die Barerstraße ein. Hier, ungefähr im sechsten Hause zur Linken, ist die Wirtschaft »Zum goldnen Lamm«. Wenn wir durch den Flur und Hof schreiten, ist schon aus dem Innern des Hinterhauses fröhliches Lärmen zu hören.

Das Vorderzimmer mit dem altdeutschen Ofen ist leer; steigen wir einige Stufen hinunter und öffnen die Tür, so liegt vor uns ein großer Saal, der von einem von der Decke hängenden Lüsterweibl erleuchtet ist. Wir gewöhnen uns an die Beleuchtung: Uns gegenüber stützen romanische Säulen eine Galerie, an diese schließt sich eine Kanzel, von der jeder Neuaufgenommene eine Rede halten muß. An den weißgetünchten Wänden hängen dunkle Bilder. Rechts von uns schiebt sich eine Wand vor, die zu der Bühne gehört. Ein Gewimmel von Hunden aller Sorten – hauptsächlich Schnauzl und Dackel – wälzen sich am Boden herum, jagen sich, kläffen jeden an. An den braunen Tischen sitzen schwatzend, rauchend, kartenspielend die Allotrianer. Dort spielt Lenbach seinen Tarock, rechts von ihm sitzt auf eigenem Stuhl sein schwarzer Spitz mit weißer Vorderpfote. Jeden Abend fand sich der weltberühmte Porträtist hier ein. Zuerst ißt er Abendbrot, meistens abgebräunten Kalbskopf, und dabei wird ein Journal angesehen. Wenn Lenbach ein Zeitungsblatt oder eine Reproduktion genau betrachten wollte, schob er die bekannte Brille auf die Stirn und hält das Blatt ganz nahe an das rechte Auge, denn das andere war fast blind. Dann wird Cercle gehalten. Der eine erhält Lob, der andere Tadel; manche treffende, witzige Bemerkungen werden ausgetauscht; zuletzt bleiben noch drei an dem Tische, das sind seine Tarockkumpane. Die Karten werden gebracht; wer gibt? Abheben! Rot ist Trumpf usw.

Die Reihen der Tische hinunter sitzen sie gesteckt voll.

In einem Winkel längs der Galerie an einer der romanischen Säulen geht es besonders lebhaft zu. Hier drängt sich ein ganzes Rudel zusammen, selbst aus dem hintergelegenen Billardzimmer mit dem Queue in der Hand sind einige herzugeeilt. Alles sieht zu dem Tisch herüber, wo Schwabenmaier – natürlich noch ehe er gestorben – sich einen Neuling gekapert hat und um die bewußte Fläsch »Mühle fährt«. Offenbar führen sie irgendeinen Streich gegen ihn im Schilde.

Vertieft in eine komplizierte Stellung, merkt Schwabenmaier nicht im geringsten auf seine Umgebung. Da ruft aus dem Knäuel der andern die Tante: »Guschtävle, ich hab' eine Zigarr' vom Prinzregent.« Das war eine gewöhnliche Geschichte, denn der Prinzregent verteilte bei seinen Atelierbesuchen stets Zigarren.

Noch in Gedanken an den nächsten Zug streckt Schwabenmaier seine Hand aus und befiehlt: »Gib sie her.« Er beißt darauf, flucht und wirft sie weit weg mitten in den Saal, daß alle Hunde mit eingezogenen Schwänzen und johlendem Geheul unter die Tische flüchten. Die Zigarre war von Holz gewesen. Das Gelächter über den gelungenen Witz kann sich jedermann selbst ausmalen. Guschtävle lächelte auch ein weniges, zog dann seinem Partner alle Mühlen zu, worauf er mit der gewonnenen Fläsch vergnügt an einen andern Tisch trottete. Das Corpus delicti – die hölzerne Zigarre – hat aber Strathmann in seine Raritätensammlung getan, und man kann noch heute an der tiefen Einkerbung das starke Gebiß des seligen Gustav bewundern.

Als die Allotria noch ihr erstes Lokal im »Abenthum« innehatte, drängten sich auch Leute zu einem Tische, neugierig gespannt, wie die Sache enden sollte.

Hier spielte ein schwerer breiter Mann ruhig seine Karten aus, nahm Stich um Stich an sich, wurde aber viel daran von einem dunkeln, elegant gekleideten Herrn gehindert, der ihm zwischen den Karten eine Menge Tausendfrankennoten auf den Tisch zählte und dabei lebhaft und eindringlich auf ihn in französischer Sprache einredete.

Endlich ward das dem Kartenspieler zu bunt, er schob die Banknoten beiseite, daß einige auf den Boden flatterten, und sagte in gurgelndem kölnischen Dialekt sehr ungebärdig: »Aber nun lassen Sie mich doch endlich meinen Tarock zu Ende spielen.« Das war Leibl, der dem Pariser Kunsthändler Goupil sein berühmtes Bild »In der Kirche« verkaufen sollte. So sehr der Franzose auch bat und flehte, Leibl bestand auf hunderttausend Franken. Bestärkt wurde er hierin durch Gedon, der ihm immer wieder sagte: »Nicht weniger, das Bild ist besser wie eines von Holbein.« Als der Franzose endlich das Vergebliche seiner Angebote einsah, packte er achselzuckend seine Scheine in die Tasche, begab sich in sein Hotel und reiste zurück, nicht ohne vorher seinem Geschäftsfreunde in München hinterlassen zu haben, daß solche Preise nur für Meissoniers angelegt werden könnten.

In dem Abenthum war es auch, wo ein Fest für Lenbach veranstaltet wurde, als er auf längere Zeit seinen Wohnsitz nach Rom verlegen wollte. Wir jungen Akademiker saßen in dem öffentlichen Gastzimmer der Wirtschaft und lauschten ehrfurchtsvoll auf das geringste Geräusch, das zu uns herübertönte, wenn die Tür zu der Gesellschaft auf Augenblicke geöffnet wurde.

Die Feste waren immer reich an Geschmack und Geist. Schwabenmaier, Horstig und Langhammer verfaßten Spottverse auf die Mitglieder.

Lossow hatte einst »Das Lied an der Lahn« in seinen tausend Versen illustriert. Es war eine erotische Ungezogenheit, die nicht seinesgleichen hat. Damals wurde es für die Eingeladenen und Mitglieder reproduziert. Er selbst, Lossow, hätte beinahe den Staatsanwalt auf den Hals bekommen, denn die Feststimmung war so animiert gewesen, daß der größere Teil morgens früh noch zum Donysl zu Weißwürst und frischem Anstich ging. Dabei waren denn eine große Anzahl der Prachtblätter liegengeblieben, und prüdere Gäste, die sie in die Hand bekamen, fühlten ihr Schamgefühl aufs äußerste verletzt.

Heute ist nur noch ein von der Zeit vollständig zerschlissenes Exemplar in der Bibliothek der Allotria zu sehen.

Mit der Vergrößerung des Lokals in der Barerstraße wurden auch die Feste dementsprechend reichhaltiger und umfangreicher, ja, man kann wohl sagen, einzig dastehend in der Welt. Waren doch die ersten Kräfte in Musik, Gesang und Schauspielkunst gerade gut genug, dieses launige Künstlervölkchen zu amüsieren. Gura sang Balladen, Nachbaur, der Brillantennazi genannt, seinen ewigen Postillion, der Generalmusikdirektor Levy gab hin und wieder etwas auf dem Klavier zum besten, der Fischer-Franzl die wuchtigen Kompositionen Wagners und der Komiker Dreher seine Schwänke. Auch der Tenor Kraus hat sich hier hören lassen, und vier Musiker aus der Hofoper bildeten eine ständige Kammermusik.

Alljährlich, falls nicht sonst noch mehreres zu feiern notwendig war, wurde und wird noch das Stiftungsfest feierlich begangen. Dann waltete die »Tante« – so wurde der Maler Laeverenz genannt – ihres Amtes und las mit weicher, eindringlicher Stimme die Bierzeitung vor; auch alle Anträge gingen durch sie an den Präsidenten Lenbach. Dieser hielt seine stolpernde, aber immer sachliche Festrede im derbsten Niederbayrisch.

Auf ein Klingelzeichen verstummt die lärmende Unterhaltung; wie der Vorhang sich hebt, bietet sich den Augen ein wundervolles Bild auf der Bühne dar.

Man hört zuerst gar nicht die Musik, die bereits eingesetzt hat, so sind alle Sinne von der fabelhaft raffinierten Dekoration und dem Kostüm der Menschen, die dort oben agieren, eingefangen: Ein Park mit Marmorfassaden und Zypressen. Die Musiker in weitwallenden antiken Gewändern, nackte schöne Kinder hielten ihnen die Noten.

Es konnte wohl auch geschehen, wenn der größere Schwarm weg war, gegen Morgen, und der Fischer-Franzl, die Virginia im Mundwinkel, seine donnern den Wagner-Akkorde aus dem erzitternden Klavier herausholte, daß die Kellnerinnen aus der vorderen Wirtschaft hineinschlichen und den Spielenden umzingelten: »Gengen's zu, Herr Profeesser, hören's auf! un spüelen's ein Frangßä.«

Gehorsam ändert Fischer-Franzl den Rhythmus: Die Paare schwenken herum, chassieren vorwärts und rückwärts. Mit Juhu und frenetischem Gelächter wird die grandechaine in die Runde getollt, und als das Schluß-en-avant mit aufgerafften Röcken und hochgeworfenen Beinen den Boden erschüttert, huschen die Mäuse in ihre Löcher zurück und die paar übriggebliebenen Hunde wimmern und heulen in ihrem gestörten Schlaf.

Aber manches Mal kam es vor, daß die Tänzerinnen aufhörten, zum Klavier stürzten und schimpften: »Ja, was wär' denn dös, der Fischer-Franzl kann ja nit amal ein Frangßä spüelen.« Und sie ließen nicht eher nach, als bis er die ganze Tour von neuem anfing und sie zu ihrer Zufriedenheit 'runterhämmerte.

Schwabenmaier war nicht fürs Tanzen, seine Liebhabereien waren auf anderem Gebiete. Er wurde viel von den Kellnerinnen umschwärmt, und manche wollte wohl auch die Rolle von Potiphars Weib bei ihm übernehmen. Zur Erklärung dieser Bevorzugung pflegte er des öfteren zu erzählen, daß er jeder eingestände, unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit, daß die Glut seiner Liebe schon am Verlöschen wäre, und da lachte er mit seinen Grübchen in den runden Backen: »Jede will nun den Ehrgeiz habe, den Funke wieder zur Flamme zu errege.«

Mit Vorliebe wurden Geburtstage hervorragender Mitglieder gefeiert. Oberländers fünfzigster gab Anlaß dazu und Nachbaurs siebzigster. Das Nachbaur- oder Nazi-Fest entbehrte nicht eines Humors, der den Gefeierten eigentlich stark verulkte. »Diese Mannderl auf der Bühne«, fing Lenbach seine Festrede an. Seine Liebhaberei für Diamanten an den Fingern und sonst überall diente ebenso zu starken Veralberungen wie seine ewige Sucht, den Postillion von Lonjumeau singen zu wollen. Es wurde ein Nazional-Denkmal enthüllt; auf dem Sockel stand der langbärtige Harburger als Doppelgänger des Sängers im Postillionkostüm und sang die Arie. Daran schloß sich eine Revue, in der seine andern berühmten Gestalten vorbeizogen: Masaniello, der Troubadour, Walter Stolzing, George Brown, Tannhäuser usw., und alle sangen:

»Oho! oho! so schön, so froh, oh!
Du Postillion von Longjumeau« usw.

Der gute Nachbaur, dem kein Argwohn seine kindliche Seele belastete, saß da, große Tränen der Rührung rollten über sein noch immer schönes Tenorge sicht.

Eine andere Kategorie Feste wurden arrangiert, sobald befreundete – hauptsächlich mit Lenbach befreundete – Fremde den Besuch der Allotria versprachen.

So erschien Herbert von Bismarck. Lenbach zog mit ihm von Tisch zu Tisch und hinter ihm folgte ein passives Mitglied, das zur Sicherheit einen Stuhl mit sich schleppte, mit dem Gedanken: »Wo ihr sitzet, da sitze ich auch.« Nachbaur sang natürlich den Postillion, Gura die Balladen von Loewe, und zu jedem sagte Seine Exzellenz dankend: »Sie haben mir einen iroßen Genuß bereitet.« Dann hielt er über »seinen väterlichen Freund und Erzeuger«, so nannte er nämlich seinen Vater, eine Rede, die von Lenbach erwidert wurde, der blaß, mit tränenerstickter Stimme das Lob des Alten sang. Ein schlechtes Subjekt verglich diese Tränen mit Danziger Goldwasser.

Und nun der Ehrentag der Allotria. Als der große Bismarck selbst – den alten Säbelschleifer nannte ihn das »Bayrische Vaterland« – in ihren Räumen geweilt hatte.

»Der Zug bewegt sich nach dem Palais des Kunstmalers von Lenbach, wo Seine Durchlaucht auch wohnen wird.« So stand es an den Anschlagsäulen. Es war dieses seine Reise über München nach Wien zur Hochzeitsfeier seines Sohnes Herbert, nachdem er schon seine Abdankung erhalten hatte.

Lenbach und Schwabenmaier erwarteten ihn an der schmiedeeisernen Pforte, die zu dem Pallazzo führte. Schwabenmaier hatte das Eiserne Kreuz an die Brust geheftet und rühmte noch viele Jahre später, daß der alte Titan sich beim Verlassen des Wagens auf seine Hand gestützt hätte.

Dann ging es abends zur Allotria. Das Lokal war natürlich überfüllt, und an diesem Abend ist es das einzige Mal gewesen, daß auch Damen, meistens den Frauen und Verwandten der Mitglieder, der Eintritt erlaubt wurde. Sie wurden auf der Galerie gewissermaßen interniert.

Unter brausendem Hoch wurde Er empfangen. Alle Augen hingen an seiner Riesengestalt, an seinem verhältnismäßig kleinen Kopf und dem hellrosigen Teint seines Gesichtes.

Die »Tante« schleppte einen Humpen heran, der wohl ein ganzes Faß Flüssigkeit enthielt, und Bismarck hob ihn federleicht mit einem Arm empor, führte ihn zum Munde und trank auf das Wohl und Gedeihen der berühmten Allotria.

Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.

Kaum daß er die Gesellschaft verlassen hatte, drängte sich alles wie ein Mann zu seinem Bierglas, um die Lippen an die Stelle legen zu können, wo er getrunken hatte, womöglich noch ein Tröpfchen zu erhaschen. Darin waren die Frauen die Rasendsten. Hatte sie vorher der Respekt vor der Sitte des Hauses in ihrer haremsartigen Abgeschlossenheit ruhig zu verharren gezwungen, so stürzten sie sich jetzt wie Furien herunter, drängten alles beiseite und nur dieses einzige Bierglas war das Ziel der Wünsche von unzähligen Armen und Händen.

Gustav Schwabenmaier aber griff in die Saiten und sang:

»Ein Jubelruf durchbraust das Reich
Vom Zugspitz bis zum Meere,
Dem Retter deutscher Einigkeit,
Dem Rächer deutscher Ehre.
Der deutsche Michel, erst verlacht,
Du hast ihn zum Manne, zum Helden gemacht.
Wenn der Michel sonder Scham
Im Reichstag wieder zu Ehren kam,
Erscheint dein Werk erst wundergleich,
Aus solchem Stoff schufst du das Reich.«

»Dein Zugspitz!« Dieses Ende fügte Strathmann stets hinzu, wenn er die vielen Male nachher das Gedicht in später Nachtstunde vordeklamierte. Die Entgegnung Schwabenmaiers waren dann ebenso regelmäßig »seine letzten vier Worte«, die er noch im Sterben gesprochen.

Über das Bismarckfest ist nichts mehr gegangen. Die Allotrianer schenkten dem Fürsten aus Dankbarkeit und zum Gedenken jenen Humpen, den er allein nur mit einer Hand hatte heben und zum Munde führen können; – das Gefäß war ein mittelalterliches Meisterstück und hatte einer Schusterinnung gehört. – Sie begnügten sich selbst seit der Zeit mit einer getreuen Kopie.

Wie schon vorher geschildert, erschien Herbert Bismarck, später auch der zweite Sohn des großen Reichskanzlers, Wilhelm, in den Räumen des Vereins. Solange der Alte und seine Söhne lebten, blieb die Allotria in engster Verbindung mit dieser ersten Familie des Deutschen Reiches. Sie starben, und vor einigen Jahren ist Lenbach gestorben, und bald folgte ihm seine getreue »Tante«; von der alten Garde sind nur wenige übriggeblieben.

Jede Körperschaft hat die Epoche des Aufstrebens, seine Glanzzeit, die Zeit des ruhigen Besitzes, die dann zum Niedergang und zum allmählichen Absterben führt. So auch die Allotria.


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Erinnerungen an den Allotria-Kreis

Ihre höchste Blüte, die ich mich in diesen Blättern zu schildern bemüht habe, war in den Jahren 82–97 etwa, der Kürze wegen lasse ich wie unser Freund Emélé »Achtzehnhundert« aus.

Erstdruck: Berlin (Paul Cassirer) 1909. Der Text hier folgt der 2. überarbeiteten Auflage von 1918.
Quelle: Corinth, Lovis: Legenden aus dem Künstlerleben. 2. Auflage, Berlin: Bruno Cassirer, 1918.