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Im Fegefeuer des Krieges

(1914)

»Im Anfang war die That.«

Was wir Krieger in diesen Monaten draußen erleben, überragt in weitem Bogen unsre Denkkraft. Wir werden Jahre brauchen, bis wir diesen sagenhaften Krieg als That, als unser Erlebnis werden begreifen können.

Vielleicht schürfen die in der Heimat Verbliebenen schon ein paar Schichten tiefer in seinen Geheimnissen. Wir, die wir draußen sind, immer Erwartungen und Befehle im Kopf, unermüdlich reiten und marschieren, um dann ein paar Stunden wie Bären zu schlafen; – wir können nicht denken. Wir können nur primitiv erleben; unser Bewußtsein schwankt oft zwischen zwei Fragen: Ist dieses tolle Kriegsleben nur ein Traum, oder sind unsre Heimatgedanken, die uns manchmal streifen, der Traum? Eher scheint beides ein Traum zu sein, als beides wahr.

Wir hegen an einem Waldrand mit unsern Munitionswagen; gewitterartig rollt der Kanonendonner am ganzen Horizont. Überall die kleinen Sprengwölkchen; beides gehört schon zur Landschaft, wie auch das Echo, das jeden Schuß verdoppelt weiterträgt.

Plötzlich ein merkwürdiges Surren, das in einem ungeheuren Bogen über uns weggeht, ungleich, in steten Schwingungen, übergehend von hellem Pfeifen in tiefes Brummen; wie der hohe weite Schrei eines Raubvogels, immer kurz hintereinander, mit dem Eigensinn des Tieres, das keinen anderen Ruf kennt. Dann in der Ferne der dumpfe Knall. Es sind schwere feindliche Artilleriegeschosse, die über uns wegrasen, nach einem uns unbekannten Ziel. Ein Schuß zieht den anderen nach; der Himmel steht im reinsten Herbstblau und doch fühlen wir die hohen Rinnen, in denen die Geschosse ihn durchstürmen.

Der Artilleriekampf hat selbst für den Artilleristen oft etwas Mystisches, Mythisches. Wir sind Kinder zweier Welten. Wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts erfahren täglich, daß alle Sage, alle Mystik, aller Okkultismus einmal Wahrheit wird, also auch einmal Wahrheit gewesen ist.

Was Homer von dem unsichtbaren, donnergrollenden Zeus singt, dem fernhintreffenden, und von Mars mit seinen unsichtbaren Pfeilen, wir haben es zur Wahrheit gemacht.

Und doch schützt uns alles Wissen nicht vor dem mystischen Schauer.

Man sagt uns, daß das nahe Städtchen S. vom Feind in Brand geschossen wird, also liegen wir wohlgeborgen unter dem Zenith der großen Geschoßkurve. Wir bleiben die Nacht in Stellung; das Sausen tönt über uns laut singend durch die klare Nacht. Wir schlafen in unsre Mäntel gehüllt. Die Pferde senken die Köpfe und ruhen im müden Stehen.

Nun ist ein jeder für sich und kann träumen, denken, wenn der Schlaf ihm nicht die Gedanken wegreißt.

In einer kleinen Ecke unsres Bewußtseins grübeln wir vielleicht noch zwischen Wachen und Schlafen: Kaum war ein großer Krieg weniger Rassenkrieg als dieser.

Wo ist heute die germanische Rasse? Hat dieses Wort je ein größeres Fiasko erlebt? Man wird sich endgiltig (sic!) daran gewöhnen, statt ›germanisch‹ das Wort ›deutsch‹ zu setzen; dafür wird der deutsche Adler auch ein paar wuchtige Krallen mehr in sein Wappen bekommen. Den neuen deutschen Adler möchte ich gern zeichnen, wenn dieser Krieg einmal vorbei ist.

Ja, wenn der Krieg einmal vorbei ist, – was wird dann in Deutschland? Wird es neben dem politischen Deutschland auch ein künstlerisches geben?

Wir haben in den letzten Jahren vieles in der Kunst und im Leben für morsch und abgethan erklärt und auf neue Dinge gewiesen.

Niemand wollte sie.

Wir wußten nicht, daß so rasend schnell der große Krieg kommen würde, der über alle Worte weg selbst das Morsche zerbricht, das Faulende ausstößt und das Kommende zur Gegenwart macht.

»... sondern man soll den Wein in neue Schläuche fassen.«

Durch diesen großen Krieg wird mit vielem anderen, das sich zu Unrecht in unser zwanzigstes Jahrhundert hinübergerettet hat, auch die Pseudokunst ihr Ende finden, mit der sich der Deutsche bislang gutmütig zufrieden gegeben hat.

Der Drang der Deutschen, formbildnerisch neues in Musik, Dichtung und Kunst aufzunehmen, war in der letzten Generation so gering, daß man sich die schlechtesten und fadenscheinigsten Wiederholungen alter guter Kunstformen gefallen ließ. Das Volk als Ganzes ahnte wohl den großen Krieg sicherer als der Einzelne und spannte alle seine Nerven nach ihm.

Kunst in solcher Wartezeit war nicht aktuell; Kunst als Volksthat unzeitgemäß.

Das Volk ahnte, daß es erst durch den großen Krieg gehen mußte, um sich ein neues Leben und neue Ideale zu formen. Es behielt recht mit seinem Unwillen, in elfter Stunde neue Kunstideen aufzunehmen. Man sät nicht feinen Samen, wenn ein Sturm am Himmel steht.

Er ist schnell hereingebrochen und hat manche zarte Saat zerstört.

Ich glaube nicht, daß viel von dem, was wir neuen Maler in Deutschland vor dem Kriege geschaffen haben, Wurzel fassen konnte. Wir werden von vorn anfangen müssen zu arbeiten; erst an uns selber in der Schule dieses großen Krieges, dann an unserm deutschen Volk. Denn wenn das große Aufatmen kommt, wird der Deutsche auch wieder nach seiner Kunst fragen, ohne die er in keiner reifen Zeit war.

Er war Bildner in der Gotik, Dichter und Musiker im neunzehnten Jahrhundert und wird wieder Bildner im zwanzigsten Jahrhundert sein. Wir Deutsche sind seit der Gotik formbildnerisch unsagbar arm geworden; wir besorgten anderes für die Welt; heute besorgen wir das Letzte: diesen entsetzlichen Krieg. Wer ihn draußen miterlebt und das neue Leben ahnt, das wir uns mit ihm erobern, der denkt wohl, daß man den neuen Wein nicht in alte Schläuche faßt. Wir werden das neue Jahrhundert mit unserm formbildnerischen Willen durchsetzen.

»Wer da hat, dem wird noch gegeben werden.«

Wie viele Gedanken Christi sind heute noch ungewußt, ungenutzt, verschwiegen. Jede Zeit hat ihren Christus, den sie verdient, und nimmt so viel aus diesem unerschöpften Born, als ihre Krüge fassen.

Der große Nazarener hat die Gesetze der Natur in tuitiv erfaßt. Seine bilderreiche Sprache hat neben unsrem neuen erkenntnistheoretischen Denken ihre Wucht nicht verloren. Seine tiefsten Gedanken wandeln noch parallel mit unserm Forschen; wir hören noch immer das Murmeln dieses lebendigen Quells neben uns.

In so wilden Tagen wie den unsern werden alle uralten Fragen neu gestellt, manche toten, totgesagten Fragen stehen auf aus ihren Gräbern. Alle großen Ereignisse der Weltgeschichte sind große Gerichtstage für die menschliche Erkenntnis. Die ehrwürdigsten Meinungen und Glaubenssätze, die in der Not unsrer Zeit geboren,] werden neu gewogen. Was gestern galt, ist heute verpaßt und abgethan. Nur die guten Dinge bleiben, die echten, inhaltsschweren, wahren; sie gehen geläutert und gestählt durch das Fegefeuer des Krieges.

Wir Europäer haben in jahrhundertelanger ernster, gemeinsamer Arbeit einen solchen echten – nach Menschenwissen echten, wahren – Schatz gehoben, ein Erbgut, das noch jeden Krieg überdauert hat und an dem kein Rost nagt: die »exakten Wissenschaften«. Zum ersten und einzigen Male ist dem menschlichen Geist das »Absolute« geglückt: sich ein Reich zu schaffen, das auch »nicht von dieser Welt« ist und doch alles, was Welt ist, fühlend und ordnend durchdringt. Die Wissenschaften kennen keine nationalen Schranken, die Politik hat keinen Raum in ihnen. Alle modernen Menschen, alle guten Europäer stehen im Bann und Bunde dieses Reiches.

Vestigia terrent! Wir können es nicht gutheißen, daß dem Geiste dieses obersten europäischen Gewissens entgegen einige deutsche Gelehrte mit gutem Namen etwas unternommen haben, das in Europa wie ein Signal zum Bannbruch wirken könnte: sie verzichten »in deutschem Nationalgefühl auf die ihnen durch Auszeichnungen von englischen Universitäten, Akademien und gelehrten Gesellschaften erwiesenen Ehren und die damit verbundenen Rechte«. Das ist nicht gut. Hier wird auf dem freien Forum der Wissenschaft ein Zaun errichtet; er kann nicht lange stehen; denn die Wissenschaft ist stärker, eine geistige Macht, die sich in's Unendliche dehnt; aber der Versuch ist eben darum nicht gut, weil er keine Zukunft in sich trägt. Alle nationale, allzu nationale Erregung unsrer Tage kann ihn nicht rechtfertigen.

Der Feind steht nicht dort, wohin der Pfeil abgesandt wurde.

Unser deutscher Kulturgeist und nationaler Impuls muß in ganz anderer Richtung aktiv und aggressiv werden.

Soll der Krieg uns das bringen, was wir ersehnen und das in einem Verhältnis zu unsern Opfern steht – der Atem stockt vor dieser Riesengleichung – wird sie aufgehen? –, so müssen wir Deutsche nichts leidenschaftlicher meiden als die Enge des Herzens und des nationalen Wollens. Sie verdürbe uns alles. Wer hat, dem wird gegeben werden. Nur mit dieser Devise werden wir auch geistig die Sieger bleiben und die ersten Europäer sein. Der kommende Typ des Europäers wird der deutsche Typ sein; aber zuvor muß der Deutsche ein guter Europäer werden. Das ist er heute nicht immer und überall.

Das Deutschtum wird nach diesem Kriege über alle Grenzen schwülen. Wenn wir gesund und stark bleiben und die Frucht unsres Sieges nicht verlieren wollen, brauchen wir eine ungeheure Saugkraft und einen Lebensstrom, der alles durchdringt, ohne Angst und Bedenken vor dem Fremden, Neuen, das uns unsre Machtstellung in Europa bringen wird. Wie früher einmal Frankreich das Herz Europas war, wird es von nun an Deutschland sein, wenn es sich nicht durch nationale Engherzigkeit um die Frucht seiner Siege bringt. Das sollten die Unsern in der Heimat bedenken. Wir, die wir im Felde stehen, atmen eine freiere, ritterlichere geistigere Athmosphäre (sic!). Wir duellieren uns mit dem Gegner; wir sehen nur ihn, den Soldaten vor uns. Wir schlagen ihn, aber wir denken nicht daran, die französische Kultur auszuschwefeln. Manche Nachricht, die uns von daheim erreicht, riecht leider stark danach. Hat man in unsrer Heimat [Angst] Bangen vor der Siegesbeute? Denkt man, dass sie unverdaulich sein wird? Wir strömen nicht über die Grenzen, um nachher eine chinesische Mauer um unser Haus zu ziehen. Wir sind reich und stark genug, um im Kriege der Festungen und im Frieden des Zaunes zu entraten. In geistigen Dingen dürfen wir nicht ängstlicher, engherziger sein als in allem anderen. Auch in der Kunst darf es nicht anders sein. Kannten wir doch ehedem auch nie Furcht vor dem Fremden. Haben die maurisch-französischen Einflüsse der deutschen Gotik geschadet? Freuen wir uns nicht heute noch, wenn wir diesem graziösen Reichtum begegnen, den unsre alten Künstler zu dem ihrigen gemacht haben? Der orientalische Einfluss von der Gotik bis zur Renaissance ist wahrlich nicht auf die Verlustliste der deutschen Kunst zu setzen. Unsre deutschen Bibeln sind darum nicht weniger deutsch.

So wird es auch an unserm Talente liegen, die von Übergeistigung und Auflösung bedrohte Kunst der heutigen Romanen unsrer kommenden Kultur zu assimilieren, – nicht um die zu konservieren, sondern um uns zu bereichern, im Bewusstsein unsrer unverbrauchten Kraft und aus Freude am Reichtum. Aus dem Osten (slawisch und orientalisch) wird sich unsre Kunst auch manchen Edelstein nehmen, ihn neu in unsrer Kunst zu fassen.

Kein fremder Reichtum darf uns fremd sein, wenn wir reich bleiben wollen.

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›Im Fegefeuer des Krieges‹ (Oktober 1914)

Sechs Seiten maschinenschriftliche Kopie mit handschriftlichen Verbesserungen von Maria Marc; 1948 vom Herausgeber durchgesehen und mit dem damals noch im Original vorliegenden Manuskript des dritten Teils berichtigt.

Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum