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Die "Wilden" Deutschlands

(1911)

In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als ›Wilde‹, nicht Organisierte gegen eine alte, organisierte Macht. Der Kampf scheint ungleich; aber in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Ideen. Die gefürchteten Waffen der ›Wilden‹ sind ihre neuen Gedanken; sie töten besser als Stahl und brechen, was für unzerbrechlich galt.

Wer sind diese ›Wilden‹ in Deutschland?

Ein großer Teil ist wohlbekannt und vielbeschrien: Die Dresdener ›Brücke‹, die Berliner ›Neue Sezession‹ und die Münchener ›Neue Vereinigung‹.

Die älteste von den dreien ist die ›Brücke‹. Sie setzte sofort mit großem Ernst ein, aber Dresden erwies sich als ein zu spröder Boden für ihre Ideen. Die Zeit war wohl auch noch nicht gegeben für eine breitere Wirkung in Deutschland. Erst einige Jahre später brachten die Ausstellungen der beiden anderen Vereinigungen neues, gefährliches Leben in das Land.

Die ›Neue Sezession‹ rekrutierte sich anfänglich zum Teil aus Mitgliedern der ›Brücke‹; ihre eigentliche Entstehung aber war eine Ablösung unzufriedener Elemente aus der alten Sezession, die diesen zu langsam marschierte; sie übersprangen kühn die dunkle Mauer, hinter der die alten Sezessionisten sich verschanzt hatten und standen plötzlich, wie geblendet, vor der unermeßlichen Freiheit der Kunst. Sie kennen kein Programm und keinen Zwang; sie wollen nur vorwärts um jeden Preis, wie ein Strom, der alles mögliche und unmögliche mit sich führt, im Vertrauen auf seine reinigende Kraft.

Der Mangel an Distanz verbietet uns den Versuch, hier Edles von Schwachem zu scheiden. Die Kritik träfe auch nur Belangloses und steht entwaffnet und beschämt vor der trotzigen Freiheit dieser Bewegung, die wir ›Münchener‹ nur mit tausend Freuden begrüßen.

Die Entstehungsgeschichte der ›neuen Vereinigung‹ ist versteckter und komplizierter.

Die ersten und einzigen ernsthaften Vertreter der neuen Ideen waren in München zwei Russen, die seit vielen Jahren hier lebten und in aller Stille wirkten, bis sich ihnen einige Deutsche anschlössen. Mit der Gründung der Vereinigung begannen dann jene schönen, seltsamen Ausstellungen, die die Verzweiflung der Kritiker bildeten.

Charakteristisch für die Künstler der ›Vereinigung‹ war ihre starke Betonung des Programms; einer lernte vom andern; es war ein gemeinsamer Wetteifer, wer die Ideen am besten begriffen hatte. Man hörte wohl manchmal zu oft das Wort ›Syn these‹.

Befreiend wirkten dann die jungen Franzosen und Russen, die als Gäste bei ihnen ausstellten. Sie gaben zu denken und man begriff, daß es sich in der Kunst um die tiefsten Dinge handelt, daß die Erneuerung nicht formal sein darf, sondern eine Neugeburt des Denkens ist.

Die Mystik erwachte in den Seelen und mit ihr uralte Elemente der Kunst.

Es ist unmöglich, die letzten Werke dieser ›Wilden‹ aus einer formalen Entwicklung und Umdeutung des Impressionismus heraus erklären zu wollen (wie es z.B. Niemeyer in der Denkschrift des Düsseldorfer Sonderbundes versucht). Die schönsten prismatischen Farben und der berühmte Kubismus sind als Ziel diesen ›Wilden‹ bedeutungslos geworden.

Ihr Denken hat ein anderes Ziel: Durch ihre Arbeit ihrer Zeit Symbole zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören und hinter denen der technische Erzeuger verschwindet.

Spott und Unverstand werden ihnen Rosen auf dem Wege sein.

Nicht alle offiziellen ›Wilden‹ in Deutschland und außerhalb träumen von dieser Kunst und von diesen hohen Zielen.

Um so schlimmer für sie. Sie mit ihren kubistischen und sonstigen Programmen werden nach schnellen Siegen an ihrer eigenen Äußerlichkeit zugrunde gehen.

Dagegen glauben wir – hoffen wir wenigstens glauben zu dürfen –, daß abseits all dieser im Vordergrunde stehenden Gruppen der ›Wilden‹ manche stille Kraft in Deutschland um dieselben fernen und hohen Ziele ringt, und Gedanken irgendwo im stillen reifen, von denen die Rufer im Streite nichts wissen.

Wir reichen ihnen, unbekannt, im Dunkeln unsere Hand.


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›Die Wilden Deutschlands‹ (Herbst 1911)
Aus: Der Blaue Reiter. München 1912 (2. Auflage 1914), S. 5–7
Wiederabdruck in: Der Blaue Reiter. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. München 1965, S. 28–32
Manuskript verschollen