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Daniel-Henry Kahnweiler

Daniel-Henry Kahnweiler:
Der Weg zum Kubismus (1920)

aus: Der Weg zum Kubismus, München, 1920; Neuauflage, Stuttgart, 1958 S. 49 ff.


Daniel-Henry Kahnweiler (geb. 1884) hat einen ebenso wesentlichen Anteil an der Geschichte des Kubismus wie die Dichter und Maler selbst. Seit den Anfängen des Kubismus war er der wichtigste Kunsthändler dieser Richtung, und durch die energische Tätigkeit, die er seit 1910 durch Ausstellungen des Kubismus außerhalb Frankreichs entfaltete, ist er zum großen Teil für dessen Ausbreitung als Stil in der Welt verantwortlich. Neben seiner Tätigkeit als Kunsthändler schrieb Kahnweiler zahlreiche Artikel und Bücher. Als erstes Buch erschien Der Weg zum Kubismus, das für das kritische Denken über moderne Kunst von großem Einfluss war.

Dieses Werk wurde während des Ersten Weltkrieges geschrieben, als sich Kahnweiler in der Schweiz aufhielt. Eine Kurzfassung der ersten vier Kapitel wurde 1916 veröffentlicht1. Es zeigt den philosophischen Grundzug in Kahnweilers Anschauung, der in dieser Richtung während der Kriegsjahre durch Lektüre und Studium bestärkt wurde.

Obgleich er später seine Ideen änderte, verlegt Kahnweiler hier den entscheidenden Augenblick der Entfaltung des Kubismus in den Sommer 1910, als Picasso in Cadaques begann, die Konturen von Figuren und Objekten außer acht zu lassen und willkürliche geometrische Flächen zu benutzen, die die Figur mit ihrem Hintergrund in Verbindung brachten. An einer anderen Stelle dieses Buches betrachtet Kahnweiler das 'papier colle' und die Collage nicht als besonders bezeichnende Neuerungen. Wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit musste er allzu bald nach der Entwicklung dieser neuen Technik Frankreich verlassen, als daß er ihre historische Bedeutung hätte erfassen können. Neben Salmon jedoch war Kahnweiler einer der ersten, der die schöpferische Bedeutung der Demoiselles d'Avignon erkannte, die er in diesem Buch, wenn auch ohne das Bild mit dem heute üblichen Namen zu bezeichnen, erörtert.


"Noch viel wichtiger aber, der entscheidende Schritt überhaupt, der den Kubismus loslöst von der bisherigen Sprache der Malerei, ist der Vorgang, der sich gleichzeitig in Cadaques (in Spanien, am Mittelmeer, nahe der französischen Grenze) vollzieht. Dort verbringt Picasso seinen Sommer. Wenig befriedigt kehrt er im Herbst nach Paris zurück, nach Wochen qualvollen Ringens, mit unvollendeten Werken. Aber der große Schritt ist getan. Picasso hat die geschlossene Form durchbrochen. Ein neues Werkzeug ist geschmiedet für den neuen Zweck.

Durch Jahre des Suchens war bewiesen, dass die geschlossene Form einen dem Streben der beiden Künstler genügenden Ausdruck nicht zuließ. Die geschlossene Form nimmt den Körper hin als umschlossen von seiner Oberfläche -Haut usw. - und bemüht sich nun, diesen geschlossenen Körper darzustellen. Ohne Licht ist kein Körper sichtbar. Sie malt also diese 'Haut', auf der sich, als der Berührungsstelle von Körper und Licht, beide zur Farbe vereinen. Damit ist schon gesagt, dass sie die Form der Körper nur vortäuschen kann, durch Helldunkel. In der dreidimensionalen Körperwelt bleibt auch nach Abzug des Lichtes der Körper noch tastbar, und die Erinnerungsbilder der Tastwahrnehmungen können bei sichtbaren Körpern auch nachgeprüft werden. Schon die differente Stellung der Netzhaut hat bei dreidimensionalen Gebilden ein gewisses Ferntasten zur Folge. Im zweidimensionalen Gemälde fällt dies alles weg, und die geschlossene Form hatte daher, in der Renaissancemalerei, das Licht als Farbe auf der Oberfläche des Körpers zu malen gesucht, um so die Form vorzutäuschen. Also nur 'Vortäuschung'. Da nun der Farbe oblag, als sichtbar gewordenes Licht, als Helldunkel, die Form zu gestalten, so konnte sie nicht zugleich folgerichtig als Lokalfarbe angebracht werden, noch überhaupt als 'Farbe' gebraucht werden, sondern nur als objektiviertes Licht.
Ferner störte beide Maler die notwendig eintretende Deformation, die bei vielen Beschauern anfänglich quälend wirkte. Picasso selbst erzählte oft das Witzwort seines Freundes, des Bildhauers Manolo, vor einem seiner figürlichen Gemälde: >"Was würdest du sagen, wenn deine Eltern dich am Bahnhof von Barcelona mit solchen Fratzen abholen würden?< Drastisches Beispiel von Beziehung von Erinnerungsbildern auf im Gemälde dargestellte Figuren. 'Deformationen' als Ergebnis des im Formenrhythmus gegliederten 'realen Gegenstands', verglichen mit den Erinnerungsbildern des Beschauers, vom gleichen Gegenstande, waren aber unvermeidlich, solange eine auch nur entfernte 'Naturähnlichkeit' des Kunstwerks beim Beschauer diesen Konflikt hervorrief. Mittels der vereinigten Entdeckungen Picassos und Braques aus dem Sommer 1910 erwuchs nun die Möglichkeit, durch eine neue Malweise diese Fehler zu vermeiden.

Einerseits gestattete Picassos neue Methode, die Körperlichkeit der Dinge und ihre Lage im Räume 'darzustellen', anstatt sie durch illusionistische Mittel vorzutäuschen. Es handelt sich um eine Darstellungsweise, die mit der geometrischen Zeichnung eine gewisse Ähnlichkeit hat, wenn es sich darum handelt, einen Körper darzustellen. Das ist selbstverständlich; haben doch beide als Ziel die Darstellung, auf der zweidimensionalen Fläche, der dreidimensionalen Körper. Der Maler beschränkt sich ferner nicht darauf, den Gegenstand so zu zeigen, wie er von einem gegebenen Standpunkte aus gesehen würde, sondern stellt ihn, wenn das zur Anschaulichkeit nötig ist, von mehreren Seiten dar, von oben, von unten. Die Darstellung der Lage der Dinge im Räume geschieht so: Anstatt von einem angenommenen Vordergrunde auszugehen und von diesem aus durch perspektivische Mittel eine scheinbare Tiefe vorzutäuschen, geht der Maler von einem festgelegten und dargestellten Hintergrunde aus. Von diesem ausgehend, arbeitet nun der Maler nach vorne, in einer Art Formenschema, in dem die Lage jedes Körpers deutlich dargestellt ist, durch sein Verhältnis zu dem festgelegten Hintergrunde und den anderen Körpern. Diese Anordnung wird also ein deutliches plastisches Bild ergeben. Wenn aber nur dieses Formenschema vorhanden wäre, so wäre es unmöglich, etwas 'Dargestelltes' aus der Außenwelt in dem Gemälde zu sehen. Es würde einfach als eine Anordnung von Flächen, Zylindern, Vierecken usw. gesehen werden.

Hier springt die von Braque gefundene Einführung undeformierter realer Gegenstände ein. Indem nämlich 'reale' Einzelheiten dieser Art im Gemälde angebracht werden, entsteht dadurch ein Reiz, an den sich Erinnerungsbilder anknüpfen, die im Bewusstsein nun aus dem 'realen' Reize und dem Formenschema den fertigen Gegenstand konstruieren. So entsteht im Bewusstsein des Beschauers die volle gewünschte körperliche Darstellung.

Nun kann die zur Aufnahme der einzelnen Teile in die Einheit des Kunstwerks nötige Rhythmisierung vorgenommen werden, ohne dass störende Deformationen entstehen, da ja der Gegenstand gar nicht auf dem Gemälde 'vorhanden' ist, das heißt im Gemälde noch nicht die geringste Naturwahrscheinlichkeit hat, der Reiz also mit dem Assimilationsprodukte nicht in Konflikt geraten kann. Auf dem Gemälde; Formenschema und kleine reale Einzelheiten als Reize, im höchsten Sinne in der Einheit des Kunstwerks begriffen. Im Bewusstsein des Beschauers erst das fertige Assimilationsprodukt, menschlicher Kopf zum Beispiel. Ein Konflikt ist hier unmöglich, und doch wird das einmal 'erkannte' Objekt im Gemälde 'gesehen', als dargestellt mit einer Eindringlichkeit, deren eine illusionistische Kunst unfähig ist.

Was die Farbe betrifft, so war ihre Verwendung als Helldunkel in Wegfall gekommen. Sie konnte also frei verwendet werden, als Farbe, in der Einheit des Kunstwerks. Zur Darstellung der Lokalfarbe genügte es, diese auf ganz geringer Ausdehnung anzubringen, damit sie im Bewusstsein des Beschauers dem fertigen Gegenstande einverleibt werde.

Um mit Locke zu sprechen: Zwischen primären und sekundären Qualitäten unterscheiden unbewusst diese Maler. Die primären Qualitäten, als die wichtigsten, suchen sie möglichst genau darzustellen. In der Malerei wären das die Form des Körpers und seine Lage im Räume. Die sekundären aber - hier Farbe und Tastqualitäten- werden nur angedeutet, um erst im Bewusstsein des Beschauers dem Körper zugeteilt zu werden.

Eine unerhörte Freiheit schenkt diese neue Sprache der Malerei. Sie ist nicht mehr an das mehr oder weniger 'naturähnliche' optische Bild gebunden, das ein einziger Standpunkt von einem Gegenstande gewährt. Sie kann, um von seinen 'primären' Eigenschaften eine gründliche Darstellung zu geben, sie als stereometrische Zeichnung auf der Fläche aufzeigen, oder gar, mittels mehrerer Darstellungen des gleichen Gegenstandes, eine analytische Beschreibung von ihm geben, die der Beschauer erst in seinem Bewusstsein wieder zu einem Gegenstande verschmilzt. Die Darstellung braucht auch nicht die immerhin geschlossene der stereometrischen Zeichnung sein, sondern - das eben war ja der große Schritt von Cadaques - farbige Flächen, durch ihre Richtung, Stellung zueinander usw., können das Formenschema zusammenbringen, ohne sich zu geschlossenen Körpern zu fügen. Statt einer analytischen Beschreibung kann der Maler auch, wenn er das vorzieht, auf diese Weise eine Synthese des Gegenstandes schaffen, das heißt, nach Kant, >dessen verschiedene Vorstellungen zueinander hinzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis begreifen<."