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Blaise Cendrar

Blaise Cendrar :
Warum zerfällt der Kubus? (1919)

aus: >Pourquoi le 'Cube' s'effrite<, in La Rose Rouge, Paris, 15. Mai 1919, S. 33-35



Blaise Cendrars (1887-1961), Weltenbummler und anarchischer Freigeist, muß unter die bedeutenden Gestalten der französischen Dichtung des frühen 20. Jahrhunderts gezählt werden. In seiner Lyrik wie in seinem Leben verschrieb er sich dem Dynamischen und den Erfindungen und Lebensweisen des neuen Jahrhunderts; Flugzeug, Kino, die Wolkenkratzer von New York, Jazz und die Traumwelt von Hollywood. Cendrars kannte alle großen Künstler seiner Zeit. Er war ein enger Freund von Robert und Sonja Delaunay, besonders von Leger, mit dem er die instinktive Zuneigung zum breiten Volk und zum Volksleben in den Straßen der Städte teilte.

Cendrars' Einschätzung des Kubismus gehört zweifellos zum Ungewöhnlichsten und Überraschendsten innerhalb der kritischen Literatur über die Bewegung. Statt von einer der üblichen Ansichten auszugehen, stellt er unbefangen allgemeine Kategorien künstlerischer Probleme auf und verweist auf Lösungen, die nach seiner Meinung durch das kubistische Unternehmen eingeschränkt werden. Cendrars verwirft die Feinheiten des Stils und missversteht die Collagen völlig. Er sucht nach einer weniger komplexen, weniger intellektuellen Kunst, in der die Farbe den Vorrang haben soll. Dabei dachte er vermutlich unbewusst an seine enge persönliche und künstlerische Beziehung zu Delaunay vor 1914 zurück. Nichtsdestoweniger wirft Cendrars durch seine schroffe Direktheit allgemeine Fragen über den Kubismus auf, die in den verwickelten theoretischen Gedankengängen anderer Kritiker leicht übersehen werden können.



"... Man kann bereits den Tag voraussehen, an dem der Begriff 'Kubismus' nur mehr einen klassifizierenden Wert haben wird, um in der Geschichte der zeitgenössischen Malerei gewisse Versuche der Maler in den Jahren zwischen 1907 und 1914 zu bezeichnen. Es wäre töricht, die Bedeutung der kubistischen Bewegung abzuleugnen und dumm, darüber zu lachen. Aber es ist ebenso töricht, bei einer Doktrin, die bereits eine Epoche bezeichnet, stehen bleiben zu wollen und nicht zuzugestehen, dass der Kubismus nicht mehr genügend Neues und Überraschendes bietet, um noch Stoff für eine neue Generation zu liefern.

* Er besteht nun seit zehn Jahren.
* Dieser Abschnitt scheint überwunden.
* Die 'Front-Generation' ist für andere Probleme aufgeschlossen, ihr Streben zielt in eine neue Richtung. Vor allem fühlt sie sich im Besitz ihrer Kräfte. Sie will aufbauen. Und ich glaube nicht, daß sie sich in langen theoretischen Erwägungen verliert, denn sie hat die Elemente in der Hand: die Farbe. Sie baut also mit der Farbe.

Ich will weder die Geschichte des Kubismus aufzeichnen noch eine Darstellung seiner Doktrin. Ich verweise auf die Werke; sie zeigen die hohe Stellung dieser Malerei. Hier möchte ich mich darauf beschränken, den anfänglichen Grundirrtum des Kubismus einer Kritik zu unterziehen. Ein durchaus theoretischer Irrtum, der heute in einem zweiten äußerlichen Prozess zum Zerfallen des 'Kubus' führt.

Was waren die vier theoretischen Hauptanliegen der kubistischen Maler?

1. Das Bemühen um Tiefe (Realität, Sur-Realität, Leben);
2. Das Studium der Volumen (Raum);
3. Das Studium der Maße (Zeit);
4. Kritik und Revision all dessen, was in der Malerei 'Handwerk' ist (Technik).

Ich fasse als Formel zusammen: Die Tiefe durch die Ausstrahlung der Volumen und die Multiplikation der Maße mit Hilfe einer durchdachten Technik zu realisieren.

Diese Formel wurde niemals gänzlich befolgt. Von Anfang ,an haben die kubistischen Maler sie sonderbarerweise eingeengt, indem sie den Punkt eins aus den Augen verloren, um ihn mit den zusammenhängenden Punkten zwei und drei zu verschmelzen. Unter dem Vorwand, die Realität enger zu fassen, haben sie gewissermaßen den Raum mit der Zeit multipliziert, was sie naiverweise die 'vierte Dimension' nannten. Damit schufen sie eine Irrlehre: sie näherten sich stets nur der Realität des Objekts und nicht der Realität an sich. Anders gesagt, sie studierten die Entfaltung im Raum, d. h. die Materie (des Objekts), und nicht die Entfaltung in die Tiefe, d. h. das Prinzip (der Realität).

Auf die Realität des Objekts zurückgeführt, wurden aus den synthetischen, Bemühungen analytische Bemühungen. Daher beobachten wir, wie schnell die kubistischen Maler sich gezwungen sahen, nur noch Stilleben zu malen, und, die Wirkung für die Ursache nehmend, bald echte Materialien in ihre Bilder einzuführen wie Flaschenscherben, Kragen, Zeitungen, Hölzer, nachgeahmte Hölzer, Stoffe, Haare, sogar 'das Objekt' selbst, wie man es im Handel findet. Das bedeutete, das Gegenteil von dem finden, was man suchte. Denn dieses inkongruente Objekt musste bildnerisch 'arrangiert' werden; so geriet man bis an das 'Modische'. Deshalb kam der Kubismus, der die Malerei erneuern sollte, niemals über die Grenzen des 'Geschmacks' hinaus. Er errichtete eine Hierarchie von Trugbildern, was in der Kunst die äußerste Irrlehre darstellt. (Hier ist man der Zauberei nahe, und ich bin sicher, dass der Kubismus, unter okkultem Gesichtspunkt geprüft, erschreckende und schreckliche Geheimnisse offenbaren wird. Manche kubistischen Bilder lassen an gewisse Verfahren der Schwarzen Magie denken, die einen unerwarteten, verwirrenden, schädlichen Zauber freisetzen: sie behexen im wörtlichen Sinne. Sie sind magische Spiegel, Zaubertafeln.)

Das ist der Grund, warum sich die heutige Jugend, die gesund, kräftig und lebendig ist, davon lossagt. Es gelingt dem Kubismus nicht, sie zu verwirren, trotz mancher richtigen Aspekte und der Reinheit der angewandten Mittel. Denn die Jugend von heute bringt gerade den Punkt wieder zu Ehren, der im kubistischen Versuch versäumt wurde: das Studium der Tiefe. Die Jugend von heute hat Sinn für die Wirklichkeit. Sie verabscheut die Leere, die Destruktion, sie räsoniert nicht über den Schwindel. Sie hält sich aufrecht. Sie lebt. Sie will konstruieren. Man konstruiert nur in der Tiefe. Und die Farbe stellt das Gleichgewicht dar. Die Farbe ist ein sinnliches Element. Die Sinne sind die Realität. Deswegen ist die Welt farbig. Die Sinne konstruieren. Und also der Geist. Die Farben tragen die Melodie. Indem sie die Farbe vernachlässigten, vernachlässigten die kubistischen Maler das emotionelle Prinzip, das von jedem Werk verlangt, dass es, um lebendig zu sein (lebendig an sich, jenseits des Realen), ein sinnliches, nicht lange überdachtes, absurdes, lyrisches Element enthalte, das vitale Element, das das Werk aus den Vorhöfen herausführt.

Gegenüber der konstruktiven Malerei von morgen verhält sich der theoretische Kubismus wie das Völkerkundemuseum im Trocadero zum Eiffelturm: ohne Zukunft, ohne Morgen, ohne mögliche Nutzanwendung. Dieser Vergleich bezieht sich auf die Theoretiker der Gruppe. Wenn, ihnen zum Trotze, das kubistische Experiment nicht völlig verfehlt war, so verdanken wir das den drei Antitheoretikern der Gruppe, drei Malern von Temperament, die die drei aufeinander folgenden Aspekte des Kubismus repräsentieren, nämlich Picasso, Braque und Fernand Leger."