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Fernand Léger

Fernand Léger (1881 - 1955):
Realismus auf neuer Grundlage (1913)


"Ohne den Anspruch erheben zu wollen, das Ziel und die Mittel einer bereits zu einer hinlänglichen Repräsentation gelangten Kunst zu erklären, werde ich versuchen - soweit dies möglich ist -, auf eine der vor den meisten modernen Bilder am häufigsten gestellten Fragen zu antworten. Ich stelle diese Frage ganz einfach: ,Was stellt das Bild dar?' Die Beantwortung dieser einfachen Frage ist also mein Ziel, und ich werde mich in einem kurzen Geplauder bemühen, die völlige Nichtigkeit der Fragestellung selbst zu beweisen.

Wenn die Nachbildung eines Gegenstandes in der Malerei einen Wert an sich besaß, so hätte jedes Bild - vom ersten, das eine imitative Qualität besaß, angefangen - darüber hinaus auch einen malerischen Wert. Ich glaube, es ist nicht nötig, dies zu betonen und zu diskutieren, denn ich bestätige damit nur bereits Gesagtes. Aber ich meine, es sollte hier wiederholt werden: "Der realistische Wert eines Werkes ist von jeder imitativen Qualität vollkommen unabhängig."

Diese Wahrheit muss als ein Dogma anerkannt werden, als Axiom für das allgemeine Verständnis der Malerei. Ich benutze absichtlich das Wort ,realistisch' in seinem eigentlichsten Sinn, denn die Qualität eines gemalten Werkes steht in direktem Verhältnis zu seiner Quantität an Realismus. Worin besteht in der Malerei das, was man Realismus nennt?

Definitionen sind immer gefährlich. Um eine Auffassung in wenige Worte zu kleiden, ist eine Bündigkeit nötig, die häufig der Klarheit ermangelt oder allzu sehr vereinfacht. Ich will es trotzdem wagen und von mir aus behaupten: ,Der bildnerische Realismus ist die simultane Anordnung der drei großen malerischen Qualitäten: der Linien, der Formen und der Farben.'

Kein Werk kann Anspruch auf echte Klassik erheben, d. h. auf die von der Zeit der Entstehung unabhängige Dauer, wenn man eine dieser Qualitäten zum Nachteil der beiden anderen überbetont. [...]
Die Impressionisten haben als erste den absoluten Wert des Sujets verworfen und nur mehr seinen relativen Wert berücksichtigt.

Das ist das Band, das alle modernen Entwicklungen verknüpft und erklärt. Die Impressionisten sind die großen Neuerer der gegenwärtigen Kunstrichtung, sie sind ihre ,Primitiven', in dem Sinne, dass sie im Wunsch, sich vom Imitativen zu befreien - die Malerei ausschließlich von der Farbe her betrachteten, wobei sie freilich nahezu jede Form und jede Linie vernachlässigten.

Ihr aus dieser Auffassung hervorgegangenes bewundernswertes Werk fordert ein neues Farbverständnis. Ihr Bemühen um reale Atmosphäre ist bereits auf das Thema bezogen: die Bäume, die Häuser vermischen sich und sind eng miteinander verbunden, eingehüllt in einen farbigen Dynamismus, den die Impressionisten mit ihren Mitteln noch nicht weiterzuentwickeln vermochten.

Die Imitation des Sujets, die ihr Werk noch enthält, ist aber bereits nur noch Anlass zur Mannigfaltigkeit, - ein Thema und nicht mehr. Eine grüne Borte an einem roten Teppich ist für die Impressionisten nicht mehr das Verhältnis zweier Gegenstandsformen, sondern die Beziehung zweier Farbtöne, eines Grün und eines Rot.

Nachdem einmal diese Wahrheit in lebensvollen Werken ausgedrückt worden war, musste es unvermeidlich zu den Auffassungen in unserer Gegenwart kommen. Ich möchte einen besonderen Nachdruck auf diesen Zeitpunkt innerhalb der französischen Malerei legen: - in diesem Augenblick, so meine ich, begegneten sich die beiden großen Bildauffassungen: der visuelle Realismus und der vorstellige Realismus. Der erste beendet hier seine Bahn, die die Entwicklung von den alten Meistern bis zu den Impressionisten umfasst, und der zweite, der vorstellige Realismus, beginnt mit ihnen.
Der erste braucht, wie ich sagte, notwendig den Gegenstand, das Sujet, die perspektivischen Mittel, die heute als negativ und antirealistisch betrachtet werden. [. . .]

Die sentimentale Konzeption in der bildenden Kunst greift zweifellos am ehesten an das Herz der breiten Masse. Die alten Meister mussten, über die bildnerischen Qualitäten hinaus, diesem Bedürfnis mit ihren Bildern Rechnung tragen und ein komplexes, auf die Gesellschaft ihrer Zeit bezogenes Werk schaffen. Sie mussten die Architektur in ihrem gemeinverständlichen Ausdruck unterstützen. Sie brauchten das Literarische, das geeignet war, das Volk zu belehren, zu erziehen und zu unterhalten. In dieser Absicht schmückten sie Kirchen, Grabmäler und Paläste mit dekorativen Fresken und Bildern, die die großen Taten der Menschheit darstellten. Das Beschreibende war ein Gebot der Zeit. [...]
Für unsere Künstler, die im Grunde wie alle Welt und in einer gleichermaßen geistigen, nur eben andersartigen Epoche leben, war eine neue Kühnheit und ein persönliches Konzept nötig, um die neue Weise des Schemas durchzusetzen und die alten Vorstellungen von Perspektive und Sentimentalität zu zerstören.

Wenn - so möchte ich weiter ausführen - unsere Epoche sich nicht dafür eignen sollte, wenn sich ihre Kunst nicht mit dem Charakter der Epoche in Übereinstimmung befände und lediglich die Entwicklung der vorangegangenen Epochen fortführte, so wäre sie nicht lebensfähig.

Das heutige Leben, zersplitterter und rascher als das der vorangegangenen Epochen, musste zu dem künstlerischen Ausdrucksmittel des dynamischen Divisionismus führen. Das Sentimentale, die Empfindungsweise des Sujets in einem allgemein verständlichen Ausdruck, ist an einen entscheidenden Punkt gelangt, der genauer beschrieben werden muss. [.. .]

Ohne die gegenwärtige Entwicklung mit den wissenschaftlichen Entdeckungen zur Zeit jener Revolution vergleichen zu wollen, die sich am Ende des Mittelalters durch Gutenbergs Erfindung im Bereich der Ausdrucksmittel der Menschheit vollzog, möchte ich doch darauf aufmerksam machen, dass die modernen mechanischen Verfahren - die Farbphotographie, der Cinematograph, die Fülle mehr oder weniger populärer Romane, die Verbreitung des Theaters - die Ausführung eines visuellen, sentimentalen, beschreibenden und allgemein verständlichen Sujets durch die bildende Kunst wirksam ersetzen und künftig überflüssig machen.

Ich frage mich wirklich: - worauf wollen alle jene mehr oder weniger historischen oder dramatischen Bilder in den französischen ,Salons' angesichts des ersten Bildschirms des Kinos noch Anspruch erheben?

Niemals ist visueller Realismus so intensiv dargestellt worden.

Vor einigen Jahren konnte man noch behaupten, es fehle immerhin die Farbe. Aber die Farbphotographie ist erfunden. Die Bilder mit solch realistischen Themen haben nicht mehr die gleiche Bedeutung. Ihre populäre Seite, die einzige, die ihnen eine Daseinsberechtigung gab, verschwindet. Manche Arbeiter, die man früher in den Museen vor einem Reiterangriff des Herrn Detaille oder einer historischen Darstellung des Herrn J.-P. Laurens bewundernd stehen sehen konnte, - die trifft man dort nicht mehr: sie sind im Kino.

Auch jene Durchschnittsbürger und kleinen Kaufleute, die vor fünfzig Jahren all die kleinen Meister aus dem eigenen Stadtbezirk und aus der Provinz leben ließen, können deren Dienste jetzt durchaus entbehren.

Die Photographie erfordert weniger Sitzungen als das Porträt, gibt die Ähnlichkeit getreuer wieder und kostet weniger. Der Porträtmaler stirbt aus, die Genre- und Historienmaler werden nicht ihren schönen Tod sterben, sondern von ihrer Epoche getötet werden.

Das eine hat das andere getötet. Nachdem sich die Ausdrucksmittel derart vervielfältigt hatten, musste sich die bildende Kunst logischerweise auf ihr Ziel: den vorstelligen Realismus beschränken (er entstand bei Manet, entwickelte sich bei den Impressionisten und bei Cézanne und wurde bei den heutigen Malern weitgehend allgemein).

Selbst die Architektur, die sich all ihrer repräsentativen Verzierungen beraubt sieht, gelangt nach
Jahrhunderten eines unechten Traditionalismus zu einem modernen und zweckmäßigen Konzept.
Die Kunst der Architektur bleibt in den Grenzen ihrer Mittel, der Linienverhältnisse und des Gleichgewichts der großen Volumen; das Dekorative wird selbst räumlich gestaltet und Teil der Architektur. Jede Kunst isoliert sich und beschränkt sich auf ihren Bereich.

Die Spezialisierung ist das Moderne. Die Malkunst, ebenso wie alle anderen Ausdrucksweisen des menschlichen Geistes, muss sich diesem Gesetz unterwerfen. Diese Spezialisierung ist logisch. Indem sie jedem die Beschränkung auf sein eigentliches Ziel auferlegt, erlaubt sie ein Verdichten der Ergebnisse.

Dadurch gewinnt die Malkunst an Realismus. Das moderne Konzept liegt folglich nicht in einer vorübergehenden Abstraktion, die nur für einige Eingeweihte taugt, es liegt im Gesamtausdruck einer neuen Generation, deren Bedürfnissen es sich fügt und auf deren Bestrebungen es antwortet."
(1913)