1924 Mac Orlan, Pierre

Nach oben  Zurück  Weiter

PIERRE MAC ORLAN

 

George Grosz

 

 

Von den deutschen Künstlern kannte man vor allem George Grosz in Frankreich. Marcel Ray stellte ihn 1920 in der ersten Nummer der >Cahiers d'aujourdhui< vor. Auch Mac Orlan interessierte sich für Grosz: ein Beweis dafür, daß man in seinem Werk vor allem einen Spiegel der Nachkriegssitten sah. Sein Werk ist das Satyricon von Weimar. »In Georges [sic] Grosz hat Deutschland seinen Daumier gefunden«, lautet die Überschrift eines Artikels von Florent Fels in >Les Nouvelles Littéraires< (vom 11. April 1924). Die Tatsache, daß Grosz sich mit dem >häßlichen< Deutschen anlegt, trägt sicher zu seinem Erfolg in Frankreich bei. Ein Erfolg, der durch die Ausstellung in der Galerie Joseph Billiet im November/Dezember 1924 bestätigt wird. Das Vorwort zum Katalog von Pierre Mac Orlan ist eine glänzende Würdigung des Werkes von Grosz. Das Interesse wird durch zwei Veröffentlichungen wachgehalten, die einen Überblick über den Maler und sein Werk geben. Die eine stammt von Léon Bazalgette, »George Grosz, der Mensch und sein Werk« (Paris 1926), die andere von Marcel Ray, »George Grosz« (Paris 1927). Spätere Aufsätze ordnen Grosz dort ein, wo er sich selbst sieht: auf den Spuren von Hogarth, Goya und Daumier. Roger Avermaete widmet ihm eine umfassende Arbeit in > Arts et métiers graphiques< Nr. 14 (vom 15. November 1929). Der Autor nennt Grosz "Ohne Zweifel... den größten lebenden Zeichner". Seine Collagen hingegen werden nicht ernstgenommen, seine Gemälde nicht einmal erwähnt.

 

 

Quelle: Pierre Mac Orlan, George Grosz, Vorwort zum Katalog der Ausstellung George Grosz, Joseph Billiet, Paris 1924

 

 

 

Das aufmerksame Europa mit seinen Leidenschaften, die schläfrige Revolte, das triumphierende Spiel von dümmlich in chemische Sinnenlust verliebten Mädchen, die mittelmäßigen Bürger, die man frei herumlaufen läßt, und die Straße selbst haben ihren Dichter in der fremdartigen und starken Persönlichkeit        von George Grosz gefunden, den Frans Masereel und Joseph Billiet heute zum erstenmal dem französischen Publikum vorstellen.

 

Seit dem Krieg ist so etwas wie eine soziale Phantastik bei allen europäischen Völkern entstanden, die im Krieg waren. Das Blut der Menschen hat seinen tragischen Wert verloren, und die Gesichter sind geheimnisvoller geworden. Die Gesellschaftsschichten, von denen jede vor zehn Jahren noch ihre eigene Tradition besaß, die sie voneinander unterschied, haben sich in den neuen Kombinationen der Lichter auf der Straße vermischt, in der provisorischen Unredlichkeit, welche die Menschen zur Eroberung eines so rasch wie möglich verwirklichten Vergnügens führt. Wenn sich, seit dem Krieg, die Menschen von denen unterscheiden können, die vor ihnen kamen, so geschieht dies ein wenig durch ihren passiven Gehorsam den Gesetzen der Geschwindigkeit gegenüber. Und die alten Worte, die sich zum Beispiel früher mit 120 Umdrehungen drehten, tun dies heute mit 2000 Umdrehungen, der Sprachmechanismus kann ihnen nicht folgen. Uns fehlen die Worte, um den >Expressionismus< unserer Zeit zu verwirklichen.

 

Grosz hat die Sprache gefunden, die er zur Entfaltung seiner Vision braucht. Wenn er eine Photographie zerschneidet und sie mit seinem außerordentlichen Verständnis für das Phantastische und das menschenmordende Elend in Verbindung setzt, so ist das der Kampf mit allen Mitteln, um direkt zum Ziel zu gelangen. Für ihn sind Dinge und Menschen transparent; er vermengt mit den edlen Kräften der Revolution die wesentlichen Gerüche im Leben des Volkes, wo das Blut die Temperatur der Gasse annimmt. Ich kenne nichts Tragischeres als das Werk dieses ergreifenden und zärtlichen jungen Mannes. Alles in der Gasse, und die Mittler der Gasse beleben sich in einer zauberhaften, zotigen und brutalen Raserei — wie im täglichen Leben. Allein ein Mann mit ganz reiner Denkungsart kann, zu manchen Stunden, diese Verzweiflung der Leidenschaften und der Verhaltensweisen ersinnen. Grosz ist der überragende Dichter der revoltierenden Gasse. Er erlebt ihre Freuden und ihre Seufzer mit, er kennt die für Mord prädestinierten Häuser, die Zimmer, in denen das Öfchen angezündet wird, die trostlosen Sackgassen, in denen das Elend alle Forcen literarischer Sinnenfreude annimmt. Vor einer von geheimnisvollen Kräften geschüttelten Menschheit, vor einem Wunsche nach Reinheit, der zu den geometrischen Formen einer unendlich oft reproduzierten Bienenwabe führt, ist der Mensch nur noch eine mehr oder weniger bewegliche Larve, die zwischen Messer und Maiglöckchenzweig zögert. So sieht die Welt der internationalen Lumpen, des internationalen Elends, der internationalen Dummheit aus, wenn George Grosz in seinen Gefühlen Ordnung schafft, indem er in sich selbst alle Bogenlampen ansteckt. Und der Schatten beschert ihm sein Volk: das Straßenmädchen, den Armen, den Reichen, den Versehrten, den Mörder auf leisen Sohlen, die Gasse, die immer ein wenig nach Blut riecht, die winzige, niederträchtige Kleinigkeit auf der Straße, wenn alles in der Dämmerung gärt.