Der metaphysische Aspekt

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Giorgio de Chirico

 

Der metaphysische Aspekt

 

 

Quelle: Chirico, Giorgio de: Das Mysterium der Kreation (1911-1915), Wahnsinn und Kunst. In: „Wir Metaphysiker". Gesammelte Schriften. Hrsg. Schmied, Wieland. Berlin 1972.

 

Giorgio de Chirico, 1888- 1978, italienischer Maler. 1911-1915 in Paris, 1917 Zusammentreffen mit Carlo Carrá in Ferrara, „Pittura Metafisica", in den zwanziger Jahren Rückkehr zu einem romantischen Neoklassizismus, zeitweilig Zusammenarbeit mit den Surrealisten, Beteiligung an der ersten surrealistischen Ausstellung, lebt in Rom.

 

 

 

1

 

Wenn ein Kunstwerk wirklich unsterblich sein soll, muß es alle Schranken des Menschlichen sprengen: Es darf weder Vernunft noch Logik haben. Auf diese Weise kommt es dem Traume und dem Geiste des Kindes nahe.

 

Das große Kunstwerk bewirkt der Künstler in den tiefsten Tiefen seines Seins. Dorthin dringt kein Rauschen des Flusses, kein Gesang der Vögel, kein Rascheln der Blätter.

 

Was ich höre, gilt nichts. Es gibt nichts, das meine Augen öffnet und meinen Blick schärft. Was vor allem anderen Not täte: die Kunst von allem Hergebrachten zu entrümpeln, von jedem Sujet, jeder Idee, jedem Gedanken, jedem abgestandenen Symbol.

 

Wir müßten sehr viel selbstsicherer werden. Die Inspiration zu einem Werk, die Konzeption eines Bildes müßte etwas sein, das keinen Sinn in sich hat, auch kein Sujet, und unter den Gesichtspunkten der menschlichen Logik „überhaupt nichts mehr besagt". Ich meine, daß eine derartige Inspiration oder Konzeption so stark sein müßte und uns eine derartige Freude machen, einen Schmerz bereiten sollte, daß uns ein Trieb zum Malen zwingt, der heftiger ist als der, der einen Verhungernden treibt, wie ein Tier nach dem Stück Brot zu schnappen, das ihm in die Hände fällt. An einem klaren Winternachmittag war ich im Hofe des Schlosses von Versailles. Alles hielt Ruhe und schwieg. Alles kam mir seltsam vor, alles stellte Fragen. Ich sah in diesem Augenblick, daß jeder Winkel des Schlosses, jede Säule, jedes Fenster von beseelten Rätseln erfüllt waren. Die steinernen Helden standen um mich herum, leblos unter dem hellen Himmel, in den kalten Strahlen der Wintersonne, die „ohne Liebe" war - wie ein Lied aus der Tiefe. Ein Vogel sang in einem Vogelbauer, der vor einem Fenster hing. Ich begriff auf einmal das Mysterium, das den Menschen dazu bringt, etwas zu erschaffen. Die Kreationen aber kamen mir geheimnisvoller vor als die Schöpfer. Eine der befremdlichen Gaben, die wir aus urgeschichtlicher Zeit behielten, ist das Ahnungsvermögen. Es wird immer existieren. Es ist gleichsam ein immerwährender Beweis für den Nonsens des Universums. Der erste Mensch muß überall Vorahnungen gehabt haben und auf Schritt und Tritt von Schauer ergriffen worden sein. [...]

 

 

2

 

Es gilt als grundsätzlich erwiesen, daß der Wahnsinn ein immanentes Element jeder profunden Äußerung der Kunst ist.

 

Schopenhauer definiert den Wahnsinnigen als Menschen, der das Gedächtnis verloren hat. Eine scharfsinnige Definition. Die Logik unseres normalen Tuns und Lebens ist nämlich ein kontinuierliches Band der Erinnerung an die Beziehungen zwischen der Umwelt und uns. Wählen wir ein Beispiel: Ich betrete ein Zimmer und sehe einen Mann, der im Sessel sitzt. Unter der Decke hängt ein Vogelbauer mit einem Kanarienvogel. An den Wänden entdecke ich Bilder, in einem Regal Bücher. Das alles überrascht mich nicht und setzt mich nicht in Verwunderung. Ich habe alles in Erinnerung. Nehmen wir aber einmal an, daß aus unerklärlichen, meinem Willen nicht unterworfenen Ursachen die Kette der Erinnerung für einen Augenblick durchreißt. Wer weiß, wie ich dann den sitzenden Mann, den Vogelbauer, die Bilder, das Bücherregal sähe? Wer weiß, welches Staunen, welchen Schrecken ich empfände, wenn ich die Szene betrachtete? Oder ob sie vielleicht freundlich und tröstlich wirken würde? Die Szene hätte sich nicht verändert. Ich wäre es, der sie unter einem anderen Gesichtspunkt sähe. Damit sind wir beim metaphysischen Aspekt der Dinge. Ich kann daraus folgern, daß jede Sache zwei Aspekte hat. Der eine ist der geläufige, den wir fast immer wahrnehmen und den die Menschen generell sehen. Der andere ist der spektrale oder metaphysische Aspekt. Ihn können nur wenige in Stunden der Erleuchtung und der metaphysischen Abstraktion erkennen. Es ist so wie bei Körpern, die von einer Materie überdeckt sind, die kein Sonnenlicht durchläßt. Sie erscheinen erst unter der durchdringenden Kraft von künstlichem Licht, wie unter Röntgenstrahlen. Seit einiger Zeit neige ich allerdings zu der Meinung, daß die Dinge mehr als diese beiden Aspekte haben könnten. Sie könnten noch andere aufweisen, alle verschieden vom ersten, aber eng verwandt mit dem zweiten, dem metaphysischen. [...]        

 

1911-1915