Wassily Kandinsky - abstrakt oder konkret 1938

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abstrakt oder konkret?

 

«abstrakt oder konkret» ist ein Text, den Kandinsky schrieb für den Katalog der Tentoonstelling abstracte Kunst im Stedelijk Museum, Amsterdam, 1938.

 

 

 

 

Heute zählt die sogenannte abstrakte Malerei schon mehr als 25 Jahre ihres Lebens.

Diese Tatsache allein widerlegt eine Menge der «Vorwürfe», die dieser Malerei besonders zu Anfang von allen Seiten temperamentvoll ge- macht wurden.

 

Hier will ich nur den wesentlichsten der Vorwürfe berühren. Es wurde nämlich behauptet (was auch noch heute manchmal vorkommt), die Ausdrucksmittel der abstrakten Malerei wären so beschränkt, so schnell zu erschöpfen, daß diese Form sich selbst das Todesurteil ausspricht. Deshalb wurde die abstrakte Malerei wiederholt zu Grabe getragen.

 

Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten? Es wäre schlimm! An dieser Stelle kann ich die theoretische Widerlegung der schlimmen Behauptung weglassen. Wozu die Theorie, wenn wir diese vom Amsterdamer Gemeindemuseum veranstaltete Ausstellung vor Augen haben? Diese Ausstellung spricht nicht mit Worten, sondern mit Taten und beweist, daß die abstrakte Form nach jeder «Grablegung» immer und immer an Kraft, Ausdruck und unbegrenzten Möglichkeiten zunahm. Ausdrucksmöglichkeiten!

 

Was kann und soll die Kunst überhaupt und die Malerei insbesondere zum Ausdruck bringen?

 

Komplizierte Frage, auf die die Antwort einfach ist.

 

Zum Ausdruck wird bei jedem neuen echten Werk eine neue, noch nie dagewesene Welt gebracht. Also ist jedes echte Werk eine Neuentdeckung – neben die bereits bekannten Welten wird eine neue, bis dahin unbekannte Welt gestellt. Darum sagt jedes echte Werk «Da bin ich!»

 

Ein wesentlicher Augenblick. Hier ist an der Zeit, die Frage zu stellen, wie (Formfrage!) ein realistisches, ein naturalistisches, ein kubistisches, ein surrealistisches Werk (bitte zählen Sie sich die sämtlichen übrigen «Ismen» selbst auf) im Vergleich zum abstrakten Werk zu- stande kommt.

 

In jedem mehr oder weniger «naturalistischen» Werk wird ein Teil der bereits existierenden Welt entliehen (Mensch, Tier, Blume, Gitarre, Pfeife …) und unter das Joch des künstlerischen Ausdrucks gebogen. Zeichnerische und malerische «Verarbeitung» des «Gegenstandes». Die abstrakte Kunst verzichtet auf Gegenstände und ihre Verarbeitung. Sie schafft sich die Ausdrucksformen selbst.

 

Wie dies geschieht, ist eine komplizierte Frage. Ich könnte nur eins sagen: meiner Überzeugung nach soll dieser schöpferische Weg ein synthetischer sein. Das heißt, Gefühl («Intuition») und Kopf («Berechnung») arbeiten unter gegenseitiger «Kontrolle». Dies kann auch verschieden gemacht werden. Was mich anlangt, ziehe ich vor, während der Arbeit nicht zu «denken». Es ist nicht ganz unbekannt, daß ich nicht wenig an theoretischen Kunstdingen «geprüft» habe. Aber: wehe dem Künstler, der sein «inneres Diktat» während der Arbeit «kopfmäßig» stört.

 

So stellt die abstrakte Kunst neben die «reale» Welt eine neue, die äußerlich nichts mit der «Realität» zu tun hat. Innerlich unterliegt sie den allgemeinen Gesetzen der «kosmischen Welt».

So wird neben die «Naturwelt» eine neue «Kunstwelt» gestellt – eine ebenso reale Welt, eine konkrete. Deshalb ziehe ich persönlich vor, die sogenannte «abstrakte» Kunst Konkrete Kunst zu nennen.