Wassily Kandinsky - Zugang zur Kunst 1937

Nach oben  Zurück  Weiter

Zugang zur Kunst

 

Die Texte Kandinskys erschienen seit 1934 ausschließlich in den freien Ländern: Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Holland und in der Schweiz. Auch stellte er in diesen freien Ländern seine Bilder aus, währenddem sie in Deutschland als «entartete Kunst» verfemt waren. Für Eri Udstilling, Kopenhagen, 1937, schrieb er nachstehende Studie, die, getragen von einer Skepsis der technischen Entwicklung gegenüber, das Primat des Geistigen betont.

 

 

 

«Die Zeit der Technik.»

 

Neues, aber bereits altes Thema.

 

Man gewöhnt sich schnell an immer neue Wunder, und die alten Märchenträume sind überflügelt worden.

 

Atomzerspaltung ist «altes Spiel» geworden. Der Flug in die Stratosphäre steht an der Schwelle des «alten Spiels». Die unhörbaren «Ultratöne» fangen an, «hörbar» zu werden, werden fügsam und dienen praktischen Zwecken. Das Überfliegen des Nordpols führt heute zu Küssen an Flugplätzen und Bahnhöfen. Wie lange noch?

 

Der Bedarf an Wundern scheint bald total gedeckt zu werden. Was können dagegen die «Wunder der Kunst»?

 

Logik. Mathematik – Kalkulation. Die unerschöpfliche Quelle immer neuer Wunder. Ein sich in Unendlichkeit verlierender Weg. Die Mathematik erobert sich von Tag zu Tag wichtigere Plätze in verschiedensten Wissenschaften und darüber hinaus. Die Kalkulation versagt scheinbar nie auf verschiedensten Gebieten. Die Logik schneidet manchmal Fratzen. Bleibt aber sicher.

Ist dies auch die unerschöpfliche Quelle der «Wunder der Kunst»? Der sich in Unendlichkeit verlierende Weg der siegesreichen Kunst?

 

2 Heringe + 2 Heringe = 4 Heringe. Scheint ein ewiges Gesetz zu sein, das stets unerschüttert bleibt.

 

2 Gelb + Gelb = ? Manchmal = 0.

 

In der Kunst wird nicht selten Vergrößerung durch Verminderung erreicht. Wo bleibt die Kalkulation? Die Logik schmunzelt verlegen. Die Mathematik faßt sich am Kopf.

Wer will noch ein Kunstwerk errechnen?

 

Der Künstler «hört», wie ihm «jemand» sagt: «Halt! Wohin? Die Linie ist zu lang. Etwas abnehmen, aber nur etwas! ‚etwas‘ sage ich Dir.» Oder: «Willst Du das Rot lauter klingen lassen? Schön! Also etwas Grün hinein. Also etwas ‚brechen‘ abnehmen. Aber nur ‚etwas‘ sage ich Dir.» Was Henri Rousseau für das «Diktat seiner verstorbenen Frau» hielt.

 

«Die verstorbene Frau» ist die unerschöpfliche Quelle der «Wunder der Kunst». Der sich in Unendlichkeit verlierende Weg.

 

Man muß nur zu «hören» verstehen, das heißt wenn die Stimme klingt. Wenn nicht, dann ist es aus mit der Kunst.

 

So werden vom Künstler die Formen «erfunden», «gemessen», und so entsteht die «Proportion», das Gleichgewicht. Die «Konstruktion»! Das hilft aber alles nicht, wenn der «Beschauer» kein «Ohr» hat. Er braucht nicht zu hören, was erst entstehen soll, aber den «Klang» des bereits entstandenen Werkes muß er hören können.

 

Der «Beschauer» ist aber zu oft von Propellern betäubt. Das «reale Leben» hat ihn geblendet. Hier liegt der Grund der heutigen Behauptung, die Kunst hätte die Beziehungen zum Leben verloren.

Nein. Nicht die Kunst hat die Beziehungen verloren, sondern die Menschheit im ganzen. Die Beziehungen nicht zum Leben, sondern zum Leben.

 

Das Leben besteht nicht nur aus «Realitäten». Wo würde dann das Unreale bleiben? Wo würde dann der Traum einen Platz für sich finden? Nicht der Traum der «Siebenmeilenstiefel», der bereits ver- wirklicht wurde. Der Traum der «unrealen» Welt, die mit der realen Welt zusammen die Welt bildet.

 

Der «geistige» Mensch ist kastriert worden, nur ein Halbwesen steht an der Stelle des Ganzen.

Als die Menschen sich zu «alten Zeiten» (vor dem bis heute noch nicht «bezahlten» Weltkrieg) über unsre Träume mokierten, waren sie noch lebendig, da sie vor Empörung spuckten. Als sie spuckten, hatten sie scheinbar eigne Träume, die von unsren Träumen beleidigt wurden. Die Menschen spuckten, weil sie das Werk erlebten, wenn auch verkehrt. Wenn sie heute diese, wenn auch verkehrte, Beziehung zur Kunst verloren haben, so ist der «Propeller» nicht wenig daran schuld.

 

Nein, es ist kein Größenwahn zu behaupten, daß die heutige Kunst nicht weniger zu «sagen» hat, als es vor hundert und noch mehr Jahren der Fall war.

 

Eher mehr.

 

Vor 25 Jahren hat die Malerei, und ziemlich bald danach die Plastik, eine neue «Sprache» entdeckt – das «Reden» mit ausschließlich künstlerischen Mitteln – ohne jeden «Zusatz».

 

Diese Sprache ist die sogenannte «abstrakte», oder wie man sie sonst nennt. Wie sonderbar ist es, daß gerade diese «reine», unvermischte Sprache (ohne «Parasiten»), mancher Meinung nach, den Riß zwischen Kunst und Leben vollbrachte.

 

Die Kunst schien dem Leben nicht mehr folgen zu können. Oder war es das Leben vielleicht, das der Kunst nicht mehr zu folgen vermochte?

 

Diese Frage möchte ich mit «Ja!» beantworten. Mit einem ganz energischen «Ja!»

 

Die heutige Menschheit ist allerdings nicht selbst daran schuld, daß sie alles in der Welt ausschließlich rein materialistisch aufzufassen vermag, und daß sie vor Dingen, zu welchen sie einen «materiellen» Weg nicht findet, verständnislos und verwirrt steht. Oder – besser gesagt – solchen «unverständlichen» Dingen ruhig den Rücken kehrt, ohne sich um einen «Zugang» zu bemühen. Sie trägt hier keine eigne Schuld, aber Folgen einer fremden.

 

Soll es immer auch weiter so bleiben? Ist der «Riß» zwischen Kunst und Leben unkurierbar?

Diese Frage möchte ich mit einem energischen «Nein!» beantworten.

 

Nein, und nochmals nein! Es bleibt nicht so, da das «Halbwesen» nur eine Übergangserscheinung ist, da der Mensch letzten Endes nicht dazu fähig ist, stets sich mit nur einer einzigen Seite zu begnügen, da ihm ein Bedürfnis angeboren ist, auch nach der «andren Seite» zu hungern und zu dursten.

 

Diese andre Seite ist eben die Kunst, die allein die Fähigkeit und die Kraft in sich trägt, das sagen zu können, was das Leben notgedrungen verschweigt.

 

Und: nur diese beide zusammen – Leben und Kunst – erfüllen das Leben. Und diese beiden zusammen lassen das Leben erraten. Wenigstens ahnen.

 

Die Ahnung ist schon viel. Sie ist ein Versprechen, daß die fatale Einseitigkeit einmal aufzuhören verurteilt ist und durch die Vielseitigkeit ersetzt wird, die endlich das Leben immer mehr erkennen läßt.

 

Ich bitte um Erlaubnis, ein paar Worte über meine Malerei zu sagen. Ich bitte, nicht zu glauben, daß meine Malerei «Geheimnisse» vor Ihnen zu enthüllen sucht, daß ich (wie manche glauben) eine spezielle «Sprache» erfunden habe, die «erlernt» werden muß und ohne die meine Malerei nicht «entziffert» werden könnte.

 

Man soll die Sache nicht komplizierter machen, als sie in der Wirklichkeit ist. Mein «Geheimnis» besteht ausschließlich darin, daß ich seit Jahren die glückliche Fähigkeit erwarb (vielleicht unbewußt erkämpfte), mich (und damit meine Malerei) von «Nebengeräuschen» zu befreien, weil für mich jede Form lebendig, klang- und damit ausdrucksvoll wurde. So erwarb ich gleichzeitig die glückliche Fähigkeit, die leiseste Sprache zu «hören». Und damit kam die nicht weniger glückliche Möglichkeit, aus dem unendlich großen «Formenschatz» vollkommen frei und hemmungslos die Form herauszuholen, die ich für diesen augenblicklichen Fall (= Werk) benötige. Ich brauche mich dabei nicht um den «Inhalt» zu kümmern, sondern nur und aus- schließlich um die richtige Form. Und die richtig herausgeholte Form drückt ihren Dank dadurch aus, daß sie selbst ganz allein für den Inhalt sorgt.

 

Hier liegt die Lösung der Frage «Abstrakte Kunst». Die Kunst bleibt stumm nur für den, der die Form nicht zu «hören» vermag. Aber! nicht nur die «abstrakte», sondern jede Kunst, wenn sie auch durch und durch «realistisch» ist.

 

Der «Inhalt» der Malerei ist Malerei. Hier braucht nichts entziffert zu werden: der Inhalt redet freudeerfüllt zu dem, für den jede Form lebendig, also inhaltsvoll ist.

 

Der, zu dem die Form «spricht», wird nicht unbedingt nach «Gegen- ständen» suchen. Ich will gern anerkennen, daß der «Gegenstand» für manchen Künstler eine Ausdrucksnotwendigkeit ist, wobei aber der Gegenstand nur eine Zugabe der Malerei bleibt. Der Folgenschluß ist also der, daß man den Gegenstand nicht für etwas Unumgängliches in der Malerei zu halten braucht. Er kann ebenso leicht störend wirken, wie es zum Beispiel für mich in meiner Malerei der Fall ist. Glauben Sie auch bitte nicht, daß ich vor Ihnen ein «Programm» entwickle. Und ganz besonders bitte ich nicht zu glauben, daß ich Ihnen gern ein «Programm» aufhalsen möchte.

 

Programme können ganz schön und verlockend sein, aber nur dann, wenn sie aus den fertigen Werken herauskristallisiert werden. Sie sollen Folgen des Werkes sein, aber nicht sein Ursprung.

Das Schaffen ist frei und soll frei bleiben. Das heißt es soll keinem Druck unterliegen. Mit der einzigen Ausnahme des Druckes, der vom «inneren Diktat» verursacht wird – von der «Stimme der verstorbenen Frau». Deshalb erschrecke ich persönlich nicht, wenn sich unter meine Formen eine Form hineinschmuggelt, die an eine «Naturform» er- innert. Ich lasse sie ruhig stehen und will sie nicht streichen.

 

Wer weiß, vielleicht sind unsre «abstrakten» Formen alle miteinander «Naturformen», aber … keine «Gebrauchsgegenstände». Diese Kunst- und Naturformen sind «zwecklos», wodurch sie eine noch klarere Stimme besitzen, für die ein «Ohr» notwendig ist.

 

Nochmals: man soll sich vor programmatischer Kunst hüten, und nur und immer einer undefinierbaren Sehnsucht folgen. Weil die Kunst immer der Ausdruck der Sehnsucht war, heute ist und in der Zukunft immer eine Sehnsucht bleibt.

 

Das Glück des Künstlers ist die Möglichkeit, die Sehnsucht in Formen kleiden zu können – mehr oder weniger. Sein Unglück ist die Unmöglichkeit, die Sehnsucht durch Formen restlos zum «Ausdruck» zu bringen.

 

Ich weiß, wie schwer es manchem fällt, diesen Ausdruck zu «lesen» – besonders, wenn er aus «abstrakten» Formen spricht. Mancher «Beschauer» erschrickt, weil es ihm scheint, der Boden wäre unter seinen Füßen weggerissen worden, er «hänge in der Luft».

 

Besonders heute wird es vom «normalen» Menschen verlangt, er soll «mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen». Leider folgt er zu oft diesem Befehl, wobei er scheinbar vergißt, daß heute sogar sein Körper den uralten Traum des Fliegens erreicht hat, schon heute über den Nordpol und in die Stratosphäre zu fliegen vermag. Bald erreicht er vielleicht in der «letzten» Höhe den letzten irdischen «Deckel».

 

Wie viel leichter dagegen ist das «Fliegen» in der Kunst, wozu nicht einmal ein Flugzeug notwendig ist.

 

Erlauben Sie mir, Ihnen zum Schluß ein kleines Zitat aus meiner kurzen Autobiografie zu bringen, die 1913 erschien (Kandinsky, Verlag «Der Sturm», Berlin): «… Lösung befreite mich und öffnete mir neue Welten. Alles ‚Tote‘ erzitterte. Nicht nur die bedichteten Sterne, Mond, Wälder, Blumen, sondern auch ein im Aschenbecher liegender Stummel, ein auf der Straße aus der Pfütze blickender, geduldiger weißer Hosenknopf, ein fügsames Stückchen Baumrinde, das eine Ameise im starken Gebiß zu unbestimmten und wichtigen Zwecken durch das hohe Gras zieht, ein Kalenderblatt, nach dem sich die bewußte Hand ausstreckt und aus der warmen Geselligkeit mit den noch im Block bleibenden Mitblättern gewaltsam herausreißt – alles zeigte mir sein Gesicht, sein inneres Wesen, die geheime Seele, die öfter schweigt als spricht. So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte Punkt (= Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir seine Seele. Die war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu begreifen, die heute im Gegensatz zur ‚Gegenständlichen‘ die ‚Abstrakte‘ genannt wird.»