Wassily Kandinsky - Linie und Fisch 1935

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Linie und Fisch

 

«Linie und Fisch» ist in der Zeitschrift Axis No 2/1935 in London erschienen. Hier zeigt Kandinsky, daß ein Fisch und eine Linie, das heißt jeder einzelne «Gegenstand» für sich, seine eigene Reali- tät besitzt.

 

 

Einerseits sehe ich keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer sogenannten «abstrakten» Linie und einem Fisch.

 

Aber eine wesentliche Ähnlichkeit.

 

Diese isolierte Linie wie auch der isolierte Fisch sind lebendige Wesen mit ihnen eigenen Kräften – verborgenen Kräften. Es sind Kräfte des Ausdrucks für diese Wesen und Kräfte des Eindrucks für die menschlichen Wesen. Weil jedes Wesen ein beeindruckendes «Gesicht» hat, das sich durch seinen Ausdruck manifestiert. Aber die Stimme dieser verborgenen Kräfte ist schwach und begrenzt.

 

Es ist die Umgebung der Linie und des Fisches, die das Wunder zustandebringt,, daß die verborgenen Kräfte erwachen, der Ausdruck strahlend wird und der Eindruck tief. Statt einer schwachen Stimme hört man einen Chor. Die verborgenen Kräfte sind dynamisch ge- worden.

Die Umgebung ist die Komposition.

 

Die Komposition ist die organisierte Summe von inneren Funk- tionen (Ausdrücken) aller Teile des Werkes.

 

Aber von einer anderen Seite gesehen, wird der Unterschied zwischen der Linie und dem Fisch wesentlich. Es ist der, daß der Fisch schwimmen, essen und gegessen werden kann. Er besitzt also Fähigkeiten, von denen die Linie ausgeschlossen ist.

 

Aber diese Fähigkeiten des Fisches sind notwendige Zugaben für den Fisch selbst wie für die Küche, nicht jedoch für die Malerei. Und da sie nicht notwendig sind, sind sie überflüssig.

Das ist der Grund, warum ich die Linie dem Fisch vorziehe – wenigstens in meiner Malerei.