1977 Kunstfotografie und Iimpressionismus

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Petr Tausk

 

Die Kunstfotografie und die impressionistischen
Einflüsse um die Jahrhundertwende

 

 

Quelle: Tausk, Petr: Die Geschichte der Fotografie im 20. Jahrhundert. Köln 1977, S. 14 ff.

 

Petr Tausk, geb. 1927 in Prag. Fotograf und Theoretiker.

 

 

 

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, das auch den Beginn unseres geschichtlichen Rückblicks markiert, waren die meisten Fotografen grundsätzlich um eine möglichst vollständige Annäherung an malerische Phänomene bemüht. Diese Haltung läßt sich ziemlich weit zurückverfolgen, denn schon nach 1854 strebte O. G. Rejlander, der oft als „Vater der Kunstfotografie" bezeichnet worden ist, ganz bewußt in diese Richtung. Auch für seinen Zeitgenossen Henry Peach Robinson bedeutet die Nachahmung der Malerei ein absolutes Ideal, wie er auch in seinem Buch ,Pictorial Effect in Photography' mit enthusiastischer Aufrichtigkeit zugestanden hat. In Anlehnung an den Titel seiner berühmten Publikation sprach man sogar in England, Amerika und einigen weiteren Ländern vom ,Pictorialismus', um diese Zielvorstellung der Fotografie zu kennzeichnen.

 

Mit den Wandlungen in der Malerei änderten sich allmählich auch die Vorbilder für die Kunstfotografie. Besonders wichtig war der Sieg des Impressionismus, dessen Ausbildung als Stilrichtung gewissermaßen von der Fotografie mit beeinflußt wurde. [...]

 

Da die Impressionisten Augenblickseindrücke ähnlich wie die Fotografie darstellen wollten, mußten sie die Maltechnik vereinfachen, um das Gemälde in kurzer Zeit vollenden zu können. Daher malten sie mit breiten Pinselstrichen, wodurch zugleich diffuse Konturen entstanden. Mit Hilfe der Kamera studierten die Impressionisten die wechselnden Lichtverhältnisse in der Natur und erzielten auf diese Weise eine subtile Behandlung atmosphärischer Zuständlichkeit in ihren Bildern. Obwohl solche Gemälde von der Fotografie inspiriert wurden, unterschieden sie sich am Ende grundsätzlich in Schärfe und Detailreichtum von den Lichtbildern. Die Kunstfotografen, die einem malerischen Ideal anhingen, waren ihrerseits sehr geneigt, sich von diesen typischen fotografischen Eigenschaften zu lösen. Diese Bestrebungen kamen schon in der Aufnahmetechnik zum Tragen. Die vielleicht einfachste Methode bestand darin, daß der Fotograf das Objektiv seiner Kamera absichtlich unscharf einstellte. Ein anderes Mittel ergab sich aus der Benutzung eines Stativs, das der Fotograf vor dem Auslösen der Aufnahme in leichtes Schwingen versetzte. Schließlich verwendete man auch als Objektivvorsatz eine Glasplatte, die ein wenig mit Vaseline in ihrer Klarheit getrübt wurde. Manchmal nutzten die Fotografen sogar die Mängel der damaligen Aufnahmematerialien zur Erzielung malerischer Effekte aus. So waren die fotografischen Platten bzw. Filme um die Jahrhundertwende gegen Lichthöfe, die in der empfindlichen Schicht durch die Lichtreflektion an den Grenzen zwischen Glas (oder Filmunterlage) und Luft entstanden, nicht so gut geschützt wie heute. Bei Motiven mit starken Kontrasten oder Gegenlichtaufnahmen ließen dann diese Lichthöfe die Bildkonturen in einem schimmernden Aureoleneffekt erscheinen.

 

Die Eingriffe, die zu impressionistisch wirkenden Fotos führen sollten, wurden noch sichtbarer in der Positivtechnik vorgenommen. Statt fabrikmäßig erzeugter Fotopapiere bevorzugte man für sogenannte Edeldrucke selbsthergestellte Materialien. Als Edeldrucke bezeichnete man die Ergebnisse komplizierter Kopierverfahren. Einige von ihnen beruhten auf der Erkenntnis, daß die auf dem Papier haftende Schicht organischer Kolloide, denen man Bichromatsalze hinzufügte, an den belichteten Stellen unlösbar wurde, während sie in un-belichteten Bereichen mit warmem Wasser ausgewaschen werden konnten (sogenannte Auswaschreliefs). Dem Kolloid konnte man auch noch unlösbare Pigmente oder feinste Kohle beimengen; im letzten Fall spricht man dann vom ,Carbon-Prozeß' (Carbon = Kohle). Bei den Gummidrucken diente Gummi Arabicum als Kolloid, bei Pigment- oder Kohledrucken erfüllte eine Gelatineschicht die gleiche Funktion. Später, nach 1907, wurde auch der Bromöldruck sehr beliebt. Bei diesem Verfahren ging man von dem normalen Bromsilberbild, das in einem speziellen Bad ausgebleicht wurde, aus. In die Gelatineschicht ließ man Wasser eindringen, wobei die ursprünglich hellen Stellen. an denen sich also keine Silberverbindungen mehr befanden, mehr Wasser annahmen. Nach Beseitigen der Wassertropfen von der Oberfläche wurde das feuchte Papier mit einer Fettfarbe, die an verschiedenen Stellen der Oberfläche proportional zu deren Wassergehalt haftete, bestrichen. Dadurch wurde das Bild von neuem sichtbar gemacht.

 

Mit diesen Edeldruckverfahren konnte man die Konturenschärfe verringern, wobei auch noch die kleinsten Details einen verwischten Effekt erhielten. Zugleich verminderte sich der Umfang der Tonwerte. Alle diese Eigenschaften trugen dazu bei, daß das Lichtbild den Eindruck eines Gemäldes vermittelte. Besonders hoch wurden als Unterlage sogar jene Papiersorten geschätzt, wie sie von Malern benutzt wurden. [...]

 

Die Bewunderung der Edeldrucke ging dann schließlich so weit, daß manche Fotografen das Negativ nur als ein Pendant zum Untergrund eines Ölgemäldes betrachteten und erst in der Arbeit am Positiv die eigentliche schöpferische Tätigkeit sahen. In dieser .Hauptstufe wurden dann oft auch manuelle Eingriffe, wie das Abdecken mancher unerwünschter Partien mit rotem Farbstoff im Negativ oder das Ergänzen des Bildes durch handgezeichnete Einzelheiten, durchgeführt. Die für die Edeldrucke benutzten Kopiermaterialien, die sich die Fotografen selbst zubereiteten, waren nur sehr schwer reproduzierbar, so daß eigentlich jede Kopie von demselben Negativ gewissermaßen ein Unikat war. Auch diese Erfahrung wurde von den Kunstfotografen sehr begrüßt, da auf diese Weise eine für die Malerei typische Einzigartigkeit auch in der Fotografie erreicht wurde.

 

Die Annäherung der Kunstfotografie an die Malerei machte sich auch stark in der Themenwahl bemerkbar. Besonders bevorzugt waren Sujets, in denen sich das Licht nebelartig zerstreute. In ihren selbstkomponierten Stilleben wählten die Fotografen als Bestandteile des Bildes oft verschiedene Gegenstände aus Glas, das die Lichtstrahlen durch Brechung und Reflexion weicher werden ließ. Besondere Vorliebe genossen auch Landschaften und Straßenszenen in leichtem Dunst. Dasselbe galt für Aufnahmen von Waldszenen, wobei das Licht durch die Blätter fiel und so eine malerische Atmosphäre schuf. [...]

 

Bei den Landschaftsaufnahmen betonte man grundsätzlich alle romantisierenden Elemente. Manchmal plazierten die Fotografen sogar eine romantisch posierende Person als Staffage in den Vordergrund ihrer Lichtbilder, wie dies auch bei einer Aufnahme von Hugo Erfurth, der hauptsächlich als Porträtist berühmt wurde, geschah.

 

Natürlich war auch das Porträt, das praktisch seit der Erfindung der Fotografie immer im Mittelpunkt des Interesses stand, ein wichtiges Thema der Kunstfotografie. Dabei bemühten sich die Fotografen zur Erzielung malerischer Effekte um eine weitgehende Stilisierung. Diese Auffassung läßt sich gut an einem Porträt aus dem Werk von H. Berssenbrugge demonstrieren. Das Ausschalten der Halbtöne durch die Gummidrucktechnik ließ das Haar auf dem Lichtbild als dunkle Masse erscheinen, wodurch die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das in hellen Tonwerten gehaltene Antlitz gerichtet wird. Diese Lösung wird noch durch die weiße Bekleidung des Modells sowie durch das kalkulierte Kompositionsprinzip unterstrichen, daß sich die Grenzen zwischen dunklen und hellen Partien ungefähr im .Goldenen Schnitt' befinden.

 

Künstlerische Stilisierung zeigt sich ebenso in dem Porträt .Rodin — der Denker', das Edward J. Steichen fotografierte. Die Atmosphäre des auf dunklen Tonwerten beruhenden Bildes und das zweckmäßige Ausnutzen der Profilsilhouette verleihen dieser wirklich klassischen Fotografie eine ungewöhnliche Wirkung. Malerische Erfahrungen und eine romantische Interpretation vereinigten sich oft auch bei den Aktstudien. Die rein dokumentarische Abbildung der Fotografie erbrachte eine nüchterne, fast aggressive Darstellung des Modells, die für die damalige Moralanschauung und den konventionellen Geschmack noch problematisch war. Um jeden Anschein einer naturalistischen Wirkung des nackten Körpers zu beseitigen, erfand man daher künstliche, dekorativ wirkende Posen und steigerte deren Wirkung noch dadurch, daß man das Modell mit Stoffen drapierte.

 

Eine rein künstliche Anordnung wurde auch bei den anderen Szenen angewandt, z. B. in den allegorischen Szenen O. G. Rejlanders und in den poetischen Erzählungen H. P. Robinsons aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, und die Methode des Posierens fand in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg noch weiterhin viele Anhänger. Richard Polak ging im Arrangieren nach malerischen Bildern so weit, daß er seine Modelle den Gestalten der älteren niederländischen Maler anpaßte. Oft ließen sich jedoch die Fotografen von zeitgenössischen Kunstrichtungen beeinflussen. Besonders wichtig waren in dieser Hinsicht Jugendstil und Symbolismus, von denen z. B. merklich Frantisek Drtikol beim Arrangement seiner allegorischen Kompositionen beeinflußt wurde.

 

[...] Die Kunstfotografie war lange in ihrer vom Impressionismus geprägten Konzeption lebendig, denn ihr Aufkommen läßt sich um das Jahr 1890 datieren, ihr Höhepunkt um das Jahr 1910, wobei festzuhalten ist, daß ihre Einflüsse dann noch tief in den dreißiger Jahren als Nachklang fortwirkten. Gleichzeitig muß betont werden, daß diese Trends praktisch weltweit wirksam waren; allerdings fielen die Ergebnisse durch die sehr unterschiedliche Bildauffassung in den einzelnen Ländern meist verschieden aus. In Frankreich, der Heimat des Impressionismus, lag nicht nur der Kulminationspunkt dieses Stils, sondern hier trat die Anlehnung der Fotografie an die malerischen Vorbilder auch am reinsten in Erscheinung; als wichtigste Initiatoren sind Robert Demachy und Constant Puyo anzuführen. [...]

 

Will man diese ziemlich lange erste Periode der Kunstfotografie mit ihren vielseitigen Erscheinungsformen bewerten, so ist hervorzuheben, daß die Fotografen sich ein breites Spektrum der Manipulation mit verschiedensten Lichteffekten eroberten. Diese wertvollen Erfahrungen konnten viele von ihnen später, als sie sich von der Kunstfotografie abgewandt hatten, auf andere Weise ausnutzen. Darin lag sicherlich, wie auch in den Erkenntnissen über den Bildaufbau, ein wichtiger Gewinn, obwohl diese Effekte oft über die Aussagemöglichkeiten des Bildinhalts gestellt wurden und damit zu einem unkritischen Romantizismus beitrugen. Zu den negativen Eigenschaften der Kunstfotografie gehörte die Betonung jener Elemente, die typisch malerisch waren und in direktem Widerspruch zu der Eigenheit des fotografischen Abbildens standen. Hier lag der Grund dafür, daß die Fotografie in dieser Epoche die Anerkennung als eigenständige Gattung unter den Künsten nicht erobern konnte.

 

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Rejlander, Oscar Gustave (1813—1875), englischer Fotograf: Ausbildung als Maler und Lithograf. Er entwickelte als Exponent der „Pictorial Photography" bereits um 1850 die Negativmontage;

 

Robinson, Henry Peach (1830- 1901). englischer Porträtfotograf;

 

Kunstfotografie: Mit der Entwicklung der Edeldruckverfahren (Bromöldrucke, Gummidrucke) in den 90er Jahren war die technische Voraussetzung gegeben, durch eine begrenzte Farbwiedergabe malerische Wirkungen mit Hilfe der Fotografie zu erzielen. Das bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuverfolgende Abhängigkeitsverhältnis der Fotografie von der Malerei wurde in den Fotografien der Pictorialisten („Kunstfotografen") um 1900 in extremer Form deutlich; Impressionismus: s. S. 43;

 

Erfurth, Hugo (1874- 1948), deutscher Fotograf. Bekannt durch einen malerischen und betont psychologisierenden Porträtstil;

 

Steichen, Edward (1879— 1973), amerikanischer Fotograf. 1902 Gründung der Foto-Secession in New York: Polak, Richard, Kunstfotograf;

 

Drtikol, Frantisek (1883- 1961), tschechischer Fotograf. Das fotografische Werk ist in den allegorischen Arrangements von Jugendstil und Symbolismus beeinflußt;

 

Demachy, Robert (1859—1938), französischer Amateurmaler und Amateurfotograf: das fotografische Werk ist geprägt von der impressionistischen Malerei;

 

Puyo, Constant (1857— 1933), französischer Berufsfotograf, dessen Werk stark von einem malerisch-impressionistischen Stil beeinflußt ist.

 

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Zeitgenössische Stellungnahme (1907):

 

„Die alte Bildnisfotografie verfiel, weil sie in den Bann einer Manier geriet, die mit dem Kultus von äußerlichem Tand, von technischen Kunststücken das wahre Leben und die Innerlichkeit erstickte. Wollten wir nun eine andere .moderne' Manier zum Dogma machen, so würde das über kurz oder lang zu derselben schablonenhaften Leere führen, deren uns die alte Atelierkunst so überdrüssig werden ließ.

 

Es ist verkehrt, den Mangel an Gehalt der Fotografien alten Stils auf das 'mechanische' Arbeiten des fotografischen Apparats zurückzuführen, und nunmehr eine .künstlerische' Fotografie der mechanischen entgegenzustellen. [...] Der Fotografie unserer Zeit, die Gefahr läuft, auf das tote Gleis einer anderen künstlerischen Mache zu geraten, muß man die erste Forderung nach Wahrheit und Leben eindringlich entgegenhalten. In die Schönheitsphraseologie des Ateliers fuhr die Amateurfotografie. die mit der bequemen Trockenplatte, den fixen Momentkameras erblühte, wie ein Sturmwind hinein. Das Bild des Amateurs zeigte das Leben, wie es ist, mit allen herzhaften Schroffen und Kanten. Jetzt wurde das Drahtpuppenhafte der Atelierporträts jedem klar. Aus den Glaskästen ging die Fotografie hinaus in Luft und Leben. Hätte man sie nun sich frei, selbständig, in kühner Ungebundenheit entwickeln lassen, so wäre alles gut. Aber die Ästhetiker bemächtigten sich der Sache. Nicht natürliche, nein künstlerische Fotografie wurde Feldgeschrei. Man begann, die Fotografie durch die Brille der Kunst zu sehen. Anstatt sie frei wachsen zu lassen, pfropfte man ihr ein ausgeklügeltes ästhetisches Schema auf. Eine neue Fälschung droht an Stelle der alten zu treten." (Fritz Loescher: Die Bildnis-Fotografie. G. Schmidt Verlag. Berlin 1907, S. 108 ff.)

 

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Literatur:

 

Rotzler, Willy: Fotografie als künstlerisches Experiment. Frankfurt/M. 1974.
Stelzer, Otto: Kunst und Fotografie. München 1966.
Lichtwark, Alfred: Die Bedeutung der Amateurfotografie. Halle 1894.
Pollack, Peter: Die Welt der Fotografie. Düsseldorf 1962.
Pawek, Karl: Das Bild aus der Maschine. Freiburg 1968.