1977 Die Hybris der Photographie

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Hermann Beenken

 

Die Hybris der Photographie

 

 

Quelle: Beenken, Hermann: Die Hybris der Fotografie. In: Kunst und Künstler. Bern 1973.

 

 

 

Vor einem Dutzend Jahren hätte man die Frage, ob Photographie in dem gleichen Sinne Kunst sein könne wie Malerei oder Graphik, mit einem mitleidigen Achselzucken erledigt. Nur zu deutlich machte sich der Photograph zum Affen des Malers, nannte sein Institut, weil er Bildnisse mit schummrigen Schattensaucen übergoß: Atelier Rembrandt, schuf gelegentlich widerwärtige Mischformen von Photographie und Radierung, betonte überhaupt, indem er wenigstens mit wuchtigem Namenszuge signierte. Manuelles. Persönliches, und dies alles hieß dann „künstlerische Photographie". Außerhalb der vier Wände des „Lichtbildkünstlers" aber gab sich über den geistigen Rang solchen Treibens wohl niemand ernst zu nehmenden Zweifeln hin.

 

Inzwischen ist die Photographie „sachlich" geworden, und eine gewisse Richtung der modernen Kunst ist es auch. Die Kunst selber hat sich der Photographie angenähert, es gibt — vor kurzem noch unerhört — einen nicht zu leugnenden Einfluß von Photographie auf Malerei. Die Photographie ihrerseits hat einen erstaunlichen Vorstoß in die Sphäre der bildenden Kunst unternommen. indem sie den Bereich des für sie Bildwürdigen auf das umfassendste ausdehnte, wobei mit der Erweiterung ihres Gegenstandsgebietes zugleich das gegenständliche Interesse als solches vielfach hinter dem ästhetischen in neuer Weise zurücktrat. Der Formwert der Sachen, des Alltäglichen. Unscheinbaren, das war es, was den Kameramann plötzlich fesselte; ihn zu erfassen aber bedurfte es eines Auges, das ästhetischem Formverhalten zugewandt, das künstlerisch zu wählen imstande war. Qualitätsunterschiede zwischen Bild und Bild traten sehr bald an den Tag, bestimmte Photographenpersönlichkeiten wußten von sich reden zu machen, solche, die sicher auch den Durchschnitt ihrer Handwerksgenossen weit überragten, und so entstand auch der Geltungsanspruch. Photographie sei etwas wie Kunst. Zuletzt hat diesen Anspruch ein Kunsthistoriker und Kunstschriftsteller von nicht zu unterschätzenden Qualitäten, Franz Roh, theoretisch vertreten.

 

Es ist heute nötig, sich mit den tief wurzelnden Mißverständnissen auseinanderzusetzen, die diesem Anspruch zugrunde liegen. Zunächst aber gilt es, jene neue Bewertung des photographisch erzeugten Bildes als Faktum und Zeugnis für einen Wandel des Kunstwollens im Zusammenhange mit anderen Erscheinungen der Gegenwartskunst kunsthistorisch ganz zu begreifen. Wir stehen vor der unbestreitbaren Tatsache, daß das optische Phänomen, ganz gleich ob „gegenständlicher" oder „ungegenständlicher" Art. einen Bildwert bekommen hat. Schon der Impressionismus hatte sich am Gegenstande als solchem in hohem Grade desinteressiert erklärt. Liebermanns Höherbewertung des gut bemalten Spargelbündels im Vergleich mit der schlecht gemalten Madonna war deutlichstes Zeichen hierfür, und der Gegensatz dieser Anschauung gegen die von der Würde des Gegenstandes tief durchdrungene Kunstauffassung des Klassizismus war ganz offenbar und bewußt. Für die impressionistische Einstellung war das Wertgebende das Persönliche, die Auffassungs- und Darstellungsweise des Malers, und diese wurde auch noch im Expressionismus, der vielfach ja geradezu eine Hypertrophie des Subjektiven darstellt, auf das stärkste betont. Die Wandlung, die wir in den letzten zehn Jahren erlebten, lag nun darin, daß man dieses Subjektive, Persönliche in ganz eigentümlicher Weise von den objektiven künstlerischen Verwirklichungen wieder abzuziehen begann, daß man zum mindesten seine ausdrückliche Betonung vermied. Die Wandlung Kandinskys — wobei das Problem, ob und wieweit dieser Maler als Künstler gelten darf, unerörtert sei — läßt die allgemeinere Umstellung besonders deutlich erkennen: Alles, was um 1914 Handschrift, also unmittelbarer Ausfluß des Innerseelischen, Persönlichen war, ist um 1924 gelöscht. Zirkel und Lineal werden zu Instrumenten des Malers, mit ihnen wird die neue Formumgrenzung geschaffen. Und der Konstruktivismus der Jüngeren, von denen ein Moholy-Nagy und ein El Lissitzky immerhin zu beachten sind, hat dann ganz sachlich und schlicht das ästhetische und das künstlerische Problem gleichsam auf den Experimentiertisch gelegt. Farbige Flächen, so oder so geordnet, oft in interessanter und nie gesehener Weise irrational-räumlich einander überschichtend oder vor lackierten Schwarzhintergründen in geheimnisvoller Schwebe befindlich, das war nun Bild. Diese Maler aber gehörten auch zu den ersten, die ihr Augenmerk der Photographie zuwandten. Und zwar in gleicher Weise — das ist bezeichnend — der gegenständlich orientierten wie dem abstrakten Photogramm.

 

Mit dem Aufkommen des Photogramms wurden auch die photographische Platte, das photographische Papier als mögliche Träger mehr oder weniger abstrakter räumlicher und formaler Bildwirkungen und irreal-magischen Stimmungsgehaltes erkannt. Welche Überraschungen erlebte man nicht schon beim Übereinanderaufnehmen und Übereinanderkopieren! Das war genau jene irrational das Nahe und Ferne verflechtende, alles ins Ungreifbare, Imaginäre verrückende Räumlichkeit, die zuerst in gewissen expressionistischen und kubistischen Bildern beglückend entgegengetreten war. Daß man diese Reize zu sehen, in bisher als bloßes Abfallsprodukt Betrachtetem einen optischen Wert und zugleich auch einen bestimmten geistigen Ausdrucksgehalt zu erkennen begann, war die fruchtbare Folge eines Vordringens echter Kunst selber zu neuen Seh- und Formungsmöglichkeiten gewesen. Es war auch nicht einzusehen, warum man das Entstehen solcher photographischer Bildwirkungen dem bloßen Zufall überlassen, warum man nicht nachhelfen sollte, um ästhetisch Eindrucksvolles und Interessantes zu schaffen. Eine völlig andere Frage aber ist es, ob man auf diesem Wege etwas wie Kunst zu schaffen vermochte. Zu diesen auf Realisierung abstrakter Formverhalte gerichteten Tendenzen der neuen Kunst steht „die neue Sachlichkeit", der „magische Realismus" nur scheinbar und äußerlich in einem Gegensatze. Das Interesse an Gegenständen braucht zunächst einmal an der Gegenständlichkeit dieser Gegenstände gar nicht weiter interessiert zu sein.

 

Gerade von der sachlichen Photographie wird dies vielfach gelten. Eine photographierte Kartothek wird nicht aus Interesse an der Kartothek als solcher, sondern aus Interesse an einem Formbestande und seiner ausdrucksmäßigen Wirkung aufgenommen, also aus einem vom Gegenständlichen losgelösten Interesse. Andererseits freilich ist die neusachliche Kunst durchaus nicht immer in dieser Weise gegenstandsuninteressiert, vielmehr ist ihr der gegenständliche Tatbestand oft gerade ein sachliches Dokument. Ein Stück Maschine etwa repräsentiert die Welt der Technik, des Kapitalismus, ein stillebenhaft gemaltes Schützengrabenbild die des Krieges, und zwar in ausgesprochen anklägerischer Weise: allgemeinmenschliche und politische Stellungnahmen werden dem Bildbeschauer nahegelegt. Besonders bezeichnend für diese Art „Sachlichkeit" ist die Photomontage: der Ausschnitt dient zur Vertretung eines Ganzen oder geradezu einer allgemeinen gegenständlichen Sphäre: Großstadt, Verkehr, Presse usw., und zwar gewinnt er diese Fähigkeit, allgemeineres Wesen zu repräsentieren, besonders durch die Art entfremdender und alle Naturzusammenhänge sprengender Nachbarschaftszuordnung. In dieser Hinsicht ist die Photomontage dem Dadaismus vergleichbar. — Dies alles sind völlig neue und spezifisch moderne Möglichkeiten von Bild- und Wirkungsabsicht.

 

Solches „die Sache als Dokument sprechen lassen" ist mit dem Interesse an abstrakten Formverhalten durchaus auf den gleichen geistesgeschichtlichen Generalnenner zu bringen. Beide Male wird ein Wesen enthüllt, Wesen eines Formverhaltes, Wesen eines Sachverhaltes, dies spricht im Bild. Der Künstler möchte den Anschein erwecken, als träte er ganz in den Hintergrund — eine seltsame Fiktion unserer immer noch unendlich subjektivistischen Zeit —; aber auch das persönliche Mitleben des Beschauers mit Gestalten im Bilde, etwa im Sinne der Publikationsmalerei des neunzehnten Jahrhunderts, wird nicht in Anspruch genommen. Sach- und Formverhalt erheben den Anspruch auf eine eigentümliche Allgemeingültigkeit eben als Wesen, womit sie der Sphäre des zeitlich und räumlich individuellen Geschehens und dem Flusse der vorübergehenden Erscheinungen, aus dem der Impressionist immer wieder schöpfte, in merkwürdiger Weise enthoben sind. Sowohl der „Abstrakte" wie der „Sachliche" unserer Tage suchen zu bannen. Statt des Transitorischen ist das Dauernde, statt des Individuellen das Allgemeine, statt des Bedeutungslos-Zufälligen das gültige und ausdrucksstarke Zeichen das Ziel. Bezeichnend ist die neue Bedeutung des Begriffs: Reportage. Das einzelne wird nicht aus dem Gesamtzusammenhange einer Lebenstotalität entwickelt und begriffen, es wird vielmehr herausgeschnitten; aber der Ausschnitt soll typisch sein, soll das Ganze, das Allgemeine vertreten, wobei die Einseitigkeit des Blickpunktes und der Ausschnittbegrenzung nicht mehr als Einwand empfunden werden. Das subjektiv und zufällig Erlebte wird als Symbol für Dauerndes eingesetzt.

 

Bei solchen Absichten fällt naturgemäß einer mechanischen Wiedergabe von Form- und Sachbeständen, wie es die Photographie ist, eine wichtige Rolle zu. Hier wird ja die Fiktion objektiver Bannung bei völligem Zurücktreten eines die Sache mit seiner Lebendigkeit durchdringenden, sie sich zu eigen machenden Subjekts auf das vollkommenste verwirklicht (obgleich es ja ein Mensch ist, der die Maschine einstellt und das Objektiv öffnet). Einseitigkeit des Blickpunkts, Ausschnitt; aber die Sache spricht! Oder beim Photogramm: Zufällig-Chaotisches enthüllt geheimes Wesen und das geheime Gesetz wesenhaften Ausdrucks. Bei solchen Absichten ist auch Kunst möglich, das Gestalterische. Persönliche vermag auch hinter der Fiktion des Sachlichen, Persönlich-Nichtdurchdrungenen auf das lebendigste und schönste wirksam zu werden. Aber diese Absichten sind als solche darum noch keineswegs künstlerisch, auch Außerkünstlerisches vermag ihnen zu dienen. Gewiß ist das gute Photo „ausdruckserfüllt", nicht bloßer „Abklatsch der Natur", und die Gegenstandswahl, die Bestimmung von Sehwinkel, Beleuchtung, Ausschnitt, ja noch das Auswählen des „guten" Bildes unter den Fehlproduktionen geistige Leistung, bei der Künstlerisches beteiligt ist.

 

Trotzdem vermag Photographie niemals bildender Kunst gleichwertig zu sein oder gar sie zu ersetzen. Kunst ist nämlich nicht etwa bloß ein ästhetischer Qualitätsstempel, so daß „gute", meinetwegen auch etwas wie persönlichen Stil verratende Photographien eo ipso Kunst wären. Und weiter ist es absurd, in dem Unterschied zwischen der Apparatur des Kameramannes und der manuellen Arbeitsweise etwa des Graphikers nichts weiter als einen Unterschied technischer Mittel zu sehen, von denen die einen nur rascher erlernbar seien als die andern und rascher zum Ziele führten. Bildende Kunst ist vielmehr — seltsam, daß man das heute noch ausdrücklich sagen muß! — eine geistige Region sui generis und eine Auseinandersetzung des Menschen mit einer Welt, bei der Weg und Ziel überhaupt kaum zu trennen sind und gerade das vermeintlich Technische vielfach bis Ins letzte von Geist durchdrungen und geleitet ist.(*) Im künstlerischen Arbeitsprozeß, und nur in ihm, macht sich der Künstler eine Welt zu eigen, gibt ihr einen Sinn, nämlich das Gesetz seines Stils, das allem Einzelnen wie dem als eine wirkliche Einheit schließlich alles zusammenfassenden Ganzen auferlegt wird. Alle sichtbare Form geht gleichsam durch den Filter des Geistes, wird in etwas grundsätzlich Neues verwandelt, wird geprüft, ob es der neuen Einheit zu dienen vermag oder nicht. Bei der Photographie ist dagegen nichts möglich als ein bloßes Wählen zwischen verschiedenen, ihrem Wesen nach naturgegebenen Möglichkeiten, und was die Kamera, auch die noch so umsichtig gelenkte, aufnimmt, kann nie anderes als bloßes Rohmaterial sein. Die photographische Aufnahme ist eben nur „Aufnahme", wenn auch vielleicht Aufnahme von dem, was ein Aufnehmender bewußt aufnehmen will; die Aufnahme einer Welt durch den Künstler aber ist zugleich Verarbeitung, Neuschöpfung, und in jedem echten Kunstwerke — auch im abstrakten, sei es von Klee, sei es Ornament oder Architektur — wird daher eine geistige Notwendigkeit der Formprägung erreicht, die aller Photographie aus wesensnotwendigen Gründen versagt ist. Kunst ist ferner Übersetzung einer Welt in eine bestimmte, vom Künstler her zu gestaltende Materie, Auseinandersetzung mit bestimmten Werkstoffen und ihren Bedingungen. Der Werkstoff der Photographie ist Gelatine, ein schleimiges Etwas, das zwar nach Hell und Dunkel sich zu verändern, aber, soviel wir sehen, auf keine Weise wirklich durchgestaltet zu werden vermag. Mittels dieser Materie ist zwar Reproduktion und Verdünnung künstlerischer Ideen möglich, die an anderer Materie bereits ihre Gestaltung erlangten. Produktion und echtes Schaffen aber niemals. Man kann nichts dagegen haben, wenn der Kameramann jetzt auch Reibeisen. Kloaken. Honigwaben, Eier und Brillen aufs Korn nimmt, und seine Feststellung: „die Welt ist schön", wollen wir, obwohl sie nicht allzu neu ist, gerne begrüßen. Die illustrierten Zeitungen haben, seit sie solchen Entdeckungsreisen der Kamera ihre Spalten öffnen, entschieden gewonnen. Wir haben oben die tieferen Ursachen dafür aufzuzeigen versucht, daß man jetzt auch auf diese Dinge, und nicht nur auf Hochzeitspaare, Konfirmanden oder andere Seelenweideplätze, die Linse richtet, und sind daher gewiß unverdächtig, diese Dinge historisch nicht ernst, sondern nur als eine bloße Mode zu nehmen. Und dennoch, allmählich wird uns von allen diesen sachlichen Photos ganz übel. In Photo-Ausstellungen, wie sie jeder bessere Kunstverein zu veranstalten heute für Pflicht hält, sehnt man sich nach dem gemalten oder gezeichneten Bilde, und zwischen seelenlosen Kopien, die schon ihrem Wesen nach nur Schatten sind, nach dem Original und seinem unersetzlichen Zauber. Gott sei Dank wird in ein paar Jahren der ganze Sachlichkeitsspuk des neuen Photographierens einigermaßen verweht sein. Warum? Deswegen, weil die Möglichkeiten des Photographierens unendlich beschränkt sind. Immer wieder neue Sachen und Sachlichkeiten oder magische Zufallsphänomene der Platte, hübsch ausgesucht, interessante Ansichten, interessante Ausschnitte, das läßt sich die Menschheit ein paar Jahre gefallen: aber dann kriegt sie es satt. Aber die Kunst kriegt sie nie satt, das ist der Unterschied. Denn die Möglichkeiten der Kunst sind ihrem Wesen nach unendliche, denn immer auf neue Weise setzt sich der Mensch mit seiner Welt auseinander. Der Film ist Kunst, er kann es wenigstens sein, aber nur seiner Zeitlichkeit nach. Er ist neben Plakat- und Buchgewerbe der eigentliche Nutznießer der Bewegung: neue Photographie. Er lernt Möglichkeiten packender Bildwirkung, die im Augenblick den Beschauer erregen. erschüttern, dies aber nur im Verlaufeines mit kluger Hand gestalteten zeitlichen Werdens.

 

In dessen Zusammenhange hat als Teilglied, als Element, das einzelne photographische Bild seinen künstlerisch berechtigten Platz. Für sich gesehen aber ist es, mag es noch so „ausdrucksgesättigt", noch so wohlgefällig sein, dem Filmganzen gegenüber immer ein Weniges. Bildende Kunst dagegen bedarf ihrem Wesen nach des Zeitlichen nicht. Sie ist ein letzter Wert in sich, über den ein Hinaus, wie es der Film gegenüber der Photographie ist, nicht gedacht werden kann.

 

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* ..Man muß sich davon überzeugen, daß das. was den Namen einer künstlerischen Vorstellung verdient, zunächst allerdings auf keine andere Weise entstehen kann als durch den bildnerischen Prozeß selbst. Man muß daran festhalten, daß die Hand nicht etwas ausführt. was im Geiste schon vorher hat fertig gebildet werden können, sondern daß der durch die Hand ausgeführte Prozeß nur das weitere Stadium eines einheitlichen unteilbaren Vorganges ist. der sich im Geiste zwar unsichtbar vorbereitet, aber auf keine andere Weise jenes höhere Stadium der Entwicklung erreichen kann, als eben durch die bildnerische Manipulation." Diese Sätze Conrad Fiedlers (Schriften über Kunst. Bd. II Nachlaß. München 1914. S. 168). bei denen im wesentlichen wohl nur an Malerei und Plastik gedacht ist, gelten entsprechend modifiziert, auch für die architektonischen Künste.