1976 Vorläufer der Photographie

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Gisèle Freund

 

Vorläufer der Photographie

 

 

 

Quelle:

Freund, Gisèle: Fotografie und Gesellschaft. München 1976. S. 13 ff.

 

Gisèle Freund, geb. 1912, Studium der Sozial und Kunstgeschichte bei Karl Mannheim, Norbert Elias und Theodor W. Adorno. Seit der Emigration als Fotografin in Paris tätig. Autorin mehrerer Publikationen zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie.

 

 

 

 

 

Das photographische Porträt entspricht einem besonderen Stadium der sozialen Entwicklung: dem Aufstieg von Massenschichten zu größerer sozialer und politischer Bedeutung.

 

Durch den Aufstieg der unteren Schichten entstand das Bedürfnis nach Massenproduktion von Gütern, auch nach Massenproduktion von Porträts, denn sich porträtieren zu lassen war gewissermaßen ein symbolischer Akt, durch den sich das Einrücken in die Reihe derer, die sozialen Respekt für sich forderten, auch nach außen sichtbar machen ließ. Damit begann eine Entwicklung von der handwerklichen Kunst des Porträtmalers über immer umfassendere Mechanisierungen des Abbildungsprozesses bis zur letzten Stufe, dem photographischen Porträt.

 

Mit dem um 1750 beginnenden Aufstieg bürgerlicher Mittelschichten und der Zunahme ihres Wohlstandes vergrößerte sich das Bedürfnis nach Repräsentation erheblich. Eine Form der Repräsentation ist zweifellos das Selbstporträt, dessen funktionale Beziehungen eng mit dem eigenen Selbstverständnis und der Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins verbunden sind. Die Porträtdarstellung, die in Frankreich jahrhundertelang immer nur das Privileg einer kleineren Schicht gewesen war, unterlag zugleich mit der gesellschaftlichen Verschiebung einer Demokratisierung. Schon vor der Französischen Revolution begann sich in bürgerlichen Kreisen die Porträtmode allgemein durchzusetzen, die nun ihrerseits, je größer das Bedürfnis nach der selbstbildnerischen Darstellung wurde, neue Formen und Techniken zu ihrer Befriedigung schuf. Die Photographie, die 1839 in Frankreich zum erstenmal der Öffentlichkeit übergeben wurde, verdankte daher ihre schnelle technische Entwicklung und Ausbreitung weitgehend der Mode des Porträts. Doch in jener Ubergangszeit, als dem Zerfall der feudalen Welt — bedingt durch die Entwicklung moderner Produktionsformen — die politische Umwälzung erst folgte, fanden auch die aufstrebenden Schichten des Bürgertums noch keine ihrer Eigenart entsprechende künstlerische Ausdrucksform. Sie versuchten eine Annäherung an jene Schicht, deren politische und wirtschaftliche Rolle immer geringer wurde, die aber weiterhin den Ton der guten Gesellschaft angab. So übernahmen sie die vorherrschenden Kunstanschauungen und Darstellungsformen des Adels und paßten sie ihren Bedürfnissen an. Die Aufgabe des bürgerlichen Porträtmalers bestand einerseits darin, sich in seinen Porträts der herrschenden Malweise des Hofmalers anzuschließen und andererseits die Porträts zu einem Preise zu liefern, der den ökonomischen Verhältnissen seiner Kunden angemessen war. „Das Ahnlichkeitsbedürfnis des französischen Auftraggebers unter Ludwig XV. und unter Ludwig XVI. wurde bezeichnet und eingeschränkt durch das allgemeine Streben, jedes Gesicht, auch das des kleinbürgerlichen Individuums, soweit zu vergewaltigen bzw. zu erhöhen, bis es dem herrschenden Menschentypus. dem Fürstenkopfe, ähnlich war." Der Adel war ein anspruchsvoller Geldgeber. Er forderte einen hohen Stand der Technik.

 

Es entsprach dem Schönheitsbegriff der Zeit, mit leichten Farben zu hantieren. Die Leinwand konnte diesem Anspruch allein nicht genügen. Es bedurfte eines Materials, das sich dem Samt und der Seide anpaßte. Eine Form des Porträts, die diesen Anforderungen entsprach, war die Miniatur. Auf Puderdosen, Anhängseln oder kleinen Bildchen ließ sich so das Bild der fernweilenden Personen der Familie, des Freundes, der Geliebten etc. stets bei sich tragen. Das Miniaturporträt, das aus der Intimität der höfischen Kultur erwachsen war und einen neuen Reiz für den Kult der Persönlichkeit bildete, war die erste dieser Formen, die von den aufsteigenden Schichten des Bürgertums aufgegriffen wurde.

 

Die Miniaturmalerei paßte sich den neuen Auftraggebern an und wurde in dem Maße ihrer Verbreitung zu einem erfolgreichen Kunsthandwerk. Fast in jeder Stadt hatte eine kleine Gruppe von Miniaturisten ihr Auskommen, wenn sie 30 bis 50 Miniaturporträts im Jahre fertigstellten, die sie zu mäßigen Preisen lieferten.

 

Trotzdem blieben im Miniaturporträt die integrierenden Elemente, die ihm als Kunstform einer aristokratisch-feudalen Schicht anhafteten, bestehen. Es versandete erst mit dem Beginn der bürgerlichen Welt und starb gegen 1850 aus, als die bürgerliche Gesellschaftsordnung sich endgültig durchgesetzt hatte und ihm die Photographie alle Existenzmöglichkeiten untergrub. Wie schnell sich dieser Verdrängungsprozeß vollzog, dafür gab die Entwicklung der Photographie in Marseille ein Beispiel. Kurz vor 1850 waren in Marseille 4 bis 5 Miniaturmaler tätig, von denen sich aber nur zwei eines gewissen Rufes erfreuten. Diese Künstler verdienten gerade ihr Auskommen, wenn sie in einem Jahre ungefähr 50 Miniaturporträts fertiggestellt hatten. Wenige Jahre später besaß Marseille 40 bis 50 Photographen, von denen sich die meisten der Porträtphotogra-phie widmeten und dabei jeder von ihnen mehr verdiente und eine sicherere Existenzgrundlage hatte als einer von den 5 Miniaturisten je zuvor.

 

Jeder dieser 50 Photographen produzierte im Jahre durchschnittlich 1000 bis 1200 Photographien, die er zu einem mittleren Preise verkaufte, ungefähr 15 frs. das Stück. Seine jährliche Einnahme betrug somit ungefähr 18 000 frs., und der Gesamtumsatz der Photographen belief sich fast auf eine Million. Eine ähnliche Entwicklung war in sämtlichen größeren Städten Frankreichs zu verzeichnen. Der Photograph konnte für den zehnten Teil des Preises Porträts liefern, die nicht allein wegen ihrer Billigkeit dem bürgerlichen Lebensstil mehr angepaßt waren, sondern auch ihrem Geschmack besser entsprach. Die Wechselbeziehungen zwischen geschichtlicher, gesellschaftlicher und künstlerischer Entwicklung werden hier deutlich. So spiegelten sich in den künstlerischen Bestrebungen der Zeit dieselben demokratischen Tendenzen wider, die in der politischen Umwälzung der Revolution von 1789 die Gleichheit der Bürger- und Menschenrechte verlangten. Derselbe Revolutionär, der auf den Barrikaden stand und in der Nationalversammlung für die Rechte seiner Klasse eintrat, saß dem Physionotracisten von Paris für sein Porträt Modell.

 

Zur Zeit Ludwigs XV. war eine neue Art des Porträts erfunden worden. Sie bestand darin, die Profile der Gesichter in schwarzem Glanzpapier nachzuschneiden. Das wurde zur Anregung für ein Gewerbe, welches bald auf jedem größeren Fest, von den Bällen des Hofes bis zu den Jahrmärkten, von allerlei geschickten Individuen ausgeübt wurde. Die neue Technik erhielt ihren Namen von dem damaligen Finanzminister Silhouette, und unter dieser ihr vom Volksmund gegebenen Benennung gelangte sie in Frankreich und weit über seine Grenzen hinaus zu großer Volkstümlichkeit. M. Silhouette war um 1759 herum Kontrolleur der Finanzen, zu einem Augenblick, wo es um diese außerorten. Trotzdem blieben im Miniaturporträt die integrierenden Elemente, die ihm als Kunstform einer aristokratisch-feudalen Schicht anhafteten, bestehen. Es versandete erst mit dem Beginn der bürgerlichen Welt und starb gegen 1850 aus, als die bürgerliche Gesellschaftsordnung sich endgültig durchgesetzt hatte und ihm die Photographie alle Existenzmöglichkeiten untergrub. Wie schnell sich dieser Verdrängungsprozeß vollzog, dafür gab die Entwicklung der Photographie in Marseille ein Beispiel. Kurz vor 1850 waren in Marseille 4 bis 5 Miniaturmaler tätig, von denen sich aber nur zwei eines gewissen Rufes erfreuten. Diese Künstler verdienten gerade ihr Auskommen, wenn sie in einem Jahre ungefähr 50 Miniaturporträts fertiggestellt hatten. Wenige Jahre später besaß Marseille 40 bis 50 Photographen, von denen sich die meisten der Porträtphotographie widmeten und dabei jeder von ihnen mehr verdiente und eine sicherere Existenzgrundlage hatte als einer von den 5 Miniaturisten je zuvor. Jeder dieser 50 Photographen produzierte im Jahre durchschnittlich 1000 bis 1200 Photographien, die er zu einem mittleren Preise verkaufte, ungefähr 15 frs. das Stück. Seine jährliche Einnahme betrug somit ungefähr 18 000 frs., und der Gesamtumsatz der Photographen belief sich fast auf eine Million. Eine ähnliche Entwicklung war in sämtlichen größeren Städten Frankreichs zu verzeichnen. Der Photograph konnte für den zehnten Teil des Preises Porträts liefern, die nicht allein wegen ihrer Billigkeit dem bürgerlichen Lebensstil mehr angepaßt waren, sondern auch ihrem Geschmack besser entsprach. Die Wechselbeziehungen zwischen geschichtlicher, gesellschaftlicher und künstlerischer Entwicklung werden hier deutlich. So spiegelten sich in den künstlerischen Bestrebungen der Zeit dieselben demokratischen Tendenzen wider, die in der politischen Umwälzung der Revolution von 1789 die Gleichheit der Bürger- und Menschenrechte verlangten.

 

Derselbe Revolutionär, der auf den Barrikaden stand und in der Nationalversammlung für die Rechte seiner Klasse eintrat, saß dem Physionotracisten von Paris für sein Porträt Modell.

 

Zur Zeit Ludwigs XV. war eine neue Art des Porträts erfunden worden. Sie bestand darin, die Profile der Gesichter in schwarzem Glanzpapier nachzuschneiden. Das wurde zur Anregung für ein Gewerbe, welches bald auf jedem größeren Fest, von den Bällen des Hofes bis zu den Jahrmärkten, von allerlei geschickten Individuen ausgeübt wurde. Die neue Technik erhielt ihren Namen von dem damaligen Finanzminister Silhouette, und unter dieser ihr vom Volksmund gegebenen Benennung gelangte sie in Frankreich und weit über seine Grenzen hinaus zu großer Volkstümlichkeit. M. Silhouette war um 1759 herum Kontrolleur der Finanzen, zu einem Augenblick, wo es um diese außerordentlich schlecht bestellt war und Frankreich dem Ruin entgegenging. Der Finanzminister erhob unter großen Schwierigkeiten eine Reihe von Steuern, die die öffentlichen Kassen ein wenig füllen sollten. Man sah in ihm den Retter. Aber der allgemeine Stand der Finanzen blieb trotzdem so schlecht, daß er weitere Steuern auferlegen mußte und die öffentliche Meinung änderte sich über ihn. Man nannte ihn von nun an den banqueroutier.

 

Als eine neue Mode aufkam, eine Art von Jacken, die sich durch ihre Enge auszeichneten und keine Falten und Taschen hatten — wozu auch? man hatte kein Geld mehr, um es hineinzutun —, erhielten diese Kleider den Spitznamen habits à la Silhouette. Die Spottlust des Volkes begann nun alles, was den Eindruck eines Schattens machte, als Silhouette zu bezeichnen. So wurde auch diese neue Porträtform vom Volksmund mit seinem Namen verknüpft und Silhouette ist bis heute die Versinnbildlichung des Schattens geblieben. Auch noch zur Zeit Bonapartes war die Tätigkeit der Silhouettenschneider weitverbreitet. Auf den öffentlichen Bällen des Directoire und des Consulat waren camelots vertreten, die sich wie auf den heutigen Jahrmärkten damit ihr Geld verdienten. Sogar von Künstlern wurde die neue Porträtform aufgegriffen. Sie versuchten, die Form durch Nachzeichnung und Prägung mit einer Nadel zu vervollkommnen.

 

Die SUhouette ist eine Form der Porträtherstellung, bei der man durch die unpersönliche, sachliche Ausdruckskraft der Umrißlinie zu ersetzen sucht, was durch das Profilbild an individualisierter seelischer Wirkung durch den Wegfall der Blickführung mit dem Betrachter verlorengeht. Sie ist eine abstrakte Darstellungsform. Das Schneiden der Silhouette erfordert keine besondere zeichnerische Schulung. Durch die schnelle Art der Herstellung wie durch die Billigkeit des Materials wurde sie sehr beliebt beim Publikum. Die Erfindung der Silhouette, die selbst keine Möglichkeiten zu größerer gewerblicher Entwicklung besaß, gab die Anregung und bildete die Unterlage zu einem Porträtgewerbe, das zwischen 1786 und 1830 in Frankreich populär war, dem Physionotrace. Die Erfindung machte Gilles-Louis Chrétien, geboren 1754 in Versailles. Sein Vater war Kammermusiker am Hofe des Königs. Der Sohn ergriff denselben Beruf wie der Vater, wurde aber später Kupferstecher, weil er hoffte, in diesem Beruf mehr Geld zu verdienen. Doch auch hier kam er nicht viel weiter, da die Konkurrenz groß war und die mühselige Arbeit des Kupferstechens viel Zeit und Sorgfalt in Anspruch nahm. Die Anzahl der Porträts, die er als Kupferstecher herstellen konnte, brachten, gemessen an dem Zeitaufwand, nicht viel ein. Aufträge des Publikums waren der hohen Kosten wegen spärlich. Seine wirtschaftliche Lage zwang ihn dazu, eine einbringlichere Technik zu ersinnen.

 

Im Jahre 1786 gelang ihm die Erfindung einer Apparatur, die das Verfahren des Gravierens mechanisierte und viel Zeit ersparte. Die Entdeckung bestand darin, daß er zwei Techniken der Porträtdarstellung, die der Silhouette und die des Kupferstechers, verband und damit eine neue Art der Porträtkunst schuf. Er nannte seinen Apparat Physionotrace.

 

Wenn beim Miniaturporträt die persönliche künstlerische Qualität des Malers eine große Rolle gespielt hatte, so war bei der Silhouette die künstlerische Qualität schon auf handwerkliche Geschicklichkeit reduziert, die nur in der freien Nachformung der Umrißlinie persönliche Fähigkeiten entfalten ließ. Der Physionotrace verlangte noch nicht einmal das. Er bestand aus einem Gestell, das, auf dem Prinzip des Pantographen oder Storchenschnabels aufgebaut, die Umrisse des Schattenbildes auf einer dahinter gespannten Leinwand, und zwar sehr verkleinert, wiedergab. Der Wert der Erfindung lag darin, daß man mit Hilfe dieses Apparates, der mit Parallelogrammen ausgerüstet war. die Silhouette nach Belieben verkleinern konnte. Das Schattenbild brauchte nur nachgezeichnet zu werden. Der Umriß wurde dann auf eine Metallplatte übertragen und graviert. Eine einzige Sitzung genügte. Die so gewonnenen Porträts wurden zu mäßigem Preise hergestellt und serienweise verkauft. 1788 ging Chretien nach Paris, um seine Erfindung in der Hauptstadt auszubeuten. Er verband sich mit einem Miniaturisten namens Quenedy, der sich selbständig machte, als er sah, was für einen Erfolg die neue Porträtkunst versprach. Er machte ein Konkurrenzunternehmen auf. Ehemalige Kupferstecher und Miniaturmaler wandten sich dieser neuen Technik zu, da ihnen ihre allmählich aussterbenden Berufe keine Existenzmöglichkeiten mehr boten. Unter ihnen waren Quenedy, Gonord und Chrétien die berühmtesten. Die beiden ersteren hatten sich in den Galerien des Palais Royal, das zu jener Zeit der Mittelpunkt des Pariser gesellschaftlichen Lebens war, etabliert. Chrétien ließ sich in der Rue St. Honoré nieder. [...]

 

Die Physionotracisten begannen bald ihre Technik zu verbessern und lieferten kleine Porträts auf Holz, als Medaillon und auf Elfenbein fur die Summe von 3 livres, die sie nicht unter 2 Stück pro Person verkauften und bei denen sie sich die Hälfte des Preises im voraus bezahlen ließen. Sie waren gute Geschäftsleute. Für 6 livres verkauften sie Bilder, die sie Silhouette à l'anglaise nannten und denen die Frisur und das Kostüm beigefügt wurde. Die Sitzung dauerte bloß eine Minute. Gonord stellte auch Kameen und Miniaturporträts nach der Silhouette her, die er kolorierte Silhouette nannte und für die er einen Preis von 12 livres nahm und nur eine Sitzung von 3 Minuten benötigte. Das Physionotracebild schränkte die Möglichkeiten der Miniaturmaler und Kupferstecher weiter ein. In dem Salon von 1793 wurden 100 Physionotracebilder ausgestellt, und im Jahre IV [nach republikanischer Zeitrechnung, 1795. Anm. H.-W. F.] waren dieser Kunst im Salon bereits 12 Abteilungen gewidmet, deren jede 50 Porträts von bekannten Physionotracisten der Öffentlichkeit zur Schau bot. Die Physionotracisten, besonders die drei bekanntesten. Quenedy, Gonord und Chrétien, machten sich gegenseitig erbitterte Konkurrenz. Einer warf dem anderen vor, daß er ihm seine neuesten Verbesserungen gestohlen hätte, und in den Pariser Zeitungen der Zeit brachten sie ihren Streit vor die Öffentlichkeit. In Annoncen, in denen sich jeder als der alleinige Erfinder der verschiedenen Techniken ausgab, versuchten sie das Publikum für sich zu gewinnen. Gonord verband mit seiner Werkstatt einen Handel mit Apparaten, die er an Amateure verkaufte. Sie wurden alle an der Erfindung reich, denn viele, die sich ein Porträt anfertigen lassen wollten, zogen es vor, zu einem Physionotracisten zu gehen, der bei so mäßigem Preis und in einer ganz geringfügigen Sitzungszeit Porträts zu liefern imstande war, die den Miniaturen fast entsprachen. So wurden die Bilder, die mit dem Physionotrace angefertigt waren, zu einem Surrogat der Miniatur. Dieselbe Tendenz spiegelte sich auf anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens wider. Die Waren des Marktes veränderten sich mit den vergrößerten Abnehmerkreisen. Billigere Ersatzware verdrängte die qualitätsreichere und teure. Luxus, aber Luxus zu mäßigen Preisen, war für den Kaufmann die beste Garantie für ein gutes Geschäft.

 

Das war die soziale und technische Seite der Entwicklung. Vom ästhetischen Gesichtspunkt aus betrachtet — welch Unterschied zwischen der feinen und preziösen Kunst der Miniatur, wo der Künstler tage- und wochenlang mit handwerklicher Sorgfalt an der Wiedergabe eines Kopfes arbeitete, und der neuen, beinahe schon mechanisierten Technik der Reproduktion. Die einzige Bedeutung der Physionotracebilder liegt in ihrem dokumentarischen Charakter.

 

Wenn man die zahlreichen Werke der Physionotracisten durchblättert, so stellt man fest, daß ihre Porträts durchweg denselben Ausdruck haben — starr, schematisch und flach. Wie handwerklich die Miniaturen eines durchschnittlichen Künstlers dagegen auch bearbeitet worden waren, nie verlor sich der lebendige Zusammenhang zwischen Modell und Abbild, der in der Wiedergabe bestanden hatte.

 

Der Miniaturist hatte die Möglichkeit, das, was ihm als das wesentlichste Merkmal seines Modells erschien, im Abbild herauszuarbeiten und so weniger die Ähnlichkeit als vielmehr das Wesen seines Modells zum Ausdruck zu bringen. Beim Physionotracisten war das Schwergewicht gerade auf die andere Seite verschoben worden. Zwar gab der Apparat mit mathematischer Genauigkeit die Umrisse des dazustellenden Gesichtes wieder, aber diese Ähnlichkeit blieb ausdruckslos, weil sie nicht vom Künstler von innen heraus gestaltet werden konnte und die sorgfältige Ausführung der Kolorierung der Bilder ebenfalls gute Handwerksarbeit war. Zeugnisse einer Gesellschaft, für die die Selbstverständlichkeit der guten Form sowohl im Umgang der Menschen untereinander wie in den künstlerischen Gestaltungen, mit denen man sich umgab, langsam erlosch.

 

Der Physionotrace bildet damit den direkten Vorläufer des photographischen Apparates, wie er sich in der vorläufig letzten Stufe der Porträtherstellung, dem Photomaton und dem Polaroid zeigt. Der Physionotra-cist von 1790 war der Handwerker des Porträts, wie der automatisierte Photoapparat von heute dem Stadium der durchrationalisierten Großindustrie entspricht. Von der ersteren Stufe führt eine kontinuierliche Entwicklungslinie zu der letzten, bisher am stärksten mechanisierten Form der Porträtherstellung. Mit dem Physionotrace hatten zum ersten Mal auch die breiteren Schichten des Bürgertums die Möglichkeiten gefunden, ihr Gesicht festzuhalten. Aber seine Erscheinungsform blieb zu vereinzelt, um das Bedürfnis der bürgerlichen Mittelschichten zu befriedigen. Das Schwergewicht der Ausführung lag noch zu sehr auf handwerklicher Einzelarbeit. Erst mit der völligen Verschiebung der Ausführung auf die technische Seite, wie es beim photographischen Verfahren der Fall war, wurde das Porträt endgültig demokratisiert. Der Physionotrace hat nichts mit der technischen Erfindung der Photographie zu tun. Man kann ihn aber als ihren ideologischen Vorläufer bezeichnen.

 

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Französische Revolution: in der Revolution von 1789 beseitigte das französische Volk den Absolutismus und den Feudalismus. Im Jahre 1791 erhielt Frankreich die erste Verfassung;

 

Ludwig XV. (1710-1774), französischer König;

 

Ludwig XVI. (1754- 1793), französischer König;

 

Directoire: (frz.) der Zeitraum von 1794—1799, in dem Frankreich von einem fünfköpfigen Direktorium regiert wurde. Im übertragenen Sinne versteht man unter Directoire die klassizistischen Tendenzen in Kunst und Mode;

 

Consulat: (frz.) napoleonisches Regierungssystem von 1799-1804;

 

Camelot: (frz.) Straßenhändler;

 

Physionotrace: (frz.) der Physionotrace wurde erfunden von Gilles-Louis Chrétien um 1786. Er gilt als direkter Vorläufer des fotografischen Apparates: Chrétien, Gilles-Louis,

 

französischer Physionotracist: Quenedv, Edme (1756— 1830), Miniaturist und Radierer; Gonord, Francois (1756— 1825), Porträtminiaturmaler:

 

Kamee, die: (frz.-ital.) (Edel)Stein mit erhabener figürlicher Darstellung;

 

Salon: (frz.) seit 1699 veranstaltete die Pariser Akademie Kunstausstellungen im Empfangsraum des Louvre. Seitdem heißen diese alljährlich stattfindenden Ausstellungen allgemein „Salons";

 

Surrogat: (lat.) Ersatz, Behelf:

 

Kolorierung: (lat.) das farbige Ausmalen einer vorhandenen Umrißzeichnung;

 

Photomaton: (griech.). vollautomatische Fotografieranlage, die bereits nach kurzer Zeit Aufnahmen auswirft;

 

Polaroid: (griech.) fotografische Aufnahmeverfahren, die unmittelbar nach der Belichtung innerhalb weniger Sekunden ein fertiges, positives Schwarz-Weiß- oder Farbpapierbild liefern. Das älteste ist das 1947 entwickelte Polaroid-Land-Verfahren.

 

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Literatur:

 

Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Fotografie (1931). Frankfurt/M. 1976.
Brevem, Marillies von: Künstlerische Fotografie von Hill bis Moholy-Nagy. Berlin 1971.
Pollack, Peter: Die Welt der Fotografie von ihren Anfangen bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1962.