1935 Aragon, Louis

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LOUIS ARAGON

 

John Heartfield und die revolutionäre Schönheit

 

Quelle: Louis Aragon, Vortrag im Maison de la Culture, Paris, am 2. Mai 1935. In: Les Collages, Paris 1965

 

 

 

Im Jahr 1935, dem Entstehungsjahr der "Front populaire" (Volksfront), zeigt das Maison de la Culture in Paris eine Ausstellung von Photomontagen von John Heartfield, die gleiche Ausstellung, die ein Jahr vorher bereits in Prag zu sehen war und unter dem Druck des Hitler-Regimes geschlossen wurde. Etwa zehn Künstler und Schriftsteller, unter ihnen Tristan Tzara und Louis Aragon, nehmen an der Diskussion über die Frage teil: »Ist die Photomontage eine Kunst?« Aragon, der mit den Surrealisten gebrochen hatte, aber der Collage als "grand réalisme" treu geblieben war, beantwortete die Frage positiv.

 

 

 

 

John Heartfield ist einer jener Männer, die am tiefsten an der Malerei, an den Techniken der Malerei gezweifelt haben. Einer jener Männer, denen am Anfang des 20. Jahrhunderts aufgegangen war, wie vorläufig selbst in der Geschichte der Malerei die Ölmalerei war, die erst wenige hundert Jahre alt ist und doch für uns die ganze Malerei zu sein scheint, die aber jeden Augenblick abdanken kann zugunsten einer neuen, dem neuen Leben, der heutigen Menschheit angemesseneren Technik. Es ist bekannt, daß der Kubismus vor allem eine Reaktion der Maler auf die Erfindung der Photographie gewesen ist. Photo und Film ließen es ihnen kindisch erscheinen, um Ähnlichkeit zu ringen. Sie reagierten auf diese neuen Errungenschaften mit einer Kunstauffassung, die bei den einen dem Naturalismus gerade entgegengesetzt war, bei den anderen eine Neudefinition des Realismus brachte. Wir haben gesehen, wie das bei Léger ins Dekorative führte, bei Mondrian in die Abstraktion, bei Picabia zur Veranstaltung mondäner Soireen an der Riviera.

 

Aber gegen Kriegsende haben mehrere Männer (Grosz, Heartfield, Ernst) in einer ganz anderen Haltung als die Kubisten, die ein Stück Zeitung oder eine Zündholzschachtel in die Bildmitte klebten, die Wirklichkeit zu erfassen gesucht, indem sie die Malerei kritisierend, gerade die Photographien, also die größte Herausforderung der Malerei, zu neuen poetischen Zwecken einsetzten, ihr den ursprünglichen Sinn der Imitation nahmen und sie als Ausdrucksmöglichkeit benutzten. So sind diese Collagen entstanden, die etwas anderes waren als die papiers peints des Kubismus, weil das eingeklebte Element sich manchmal mit dem gemalten oder gezeichneten Element vermischte, ja, ebensogut eine Photographie sein Konnte wie eine Zeichnung, eine Figur aus einem Katalog, ein beliebiges plastisches Klischee. So wurde gegenüber der Auflösung des Erkennbaren in der modernen Kunst als ein scheinbar einfaches Spiel ein neuer, lebendiger Geschmack an der Realität geboren. Kraft und Reiz dieser neuen Collagen gingen von dem Anschein des Zutreffenden aus, den sie durch die übernommenen ganz realen Gegenstände bis hin zu ihrer Photographie bekamen. Der Künstler spielte mit dem Feuer der Realität. Er wurde wieder zum Herrn über das Erkennbare, in dem er vor lauter Öltechnik verloren und untergegangen war. Er schuf moderne Ausgeburten, die er nach Belieben in einem Schlafzimmer, auf den Schweizer Bergen oder am Grunde des Meeres vorführte. Der Taumel, von dem Rimbaud spricht, bemächtigte sich seiner, le salon au fond d'un lac aus der saison en Enfer wurde zum gewohnten Klima des Gemäldes.

 

John Heartfield weiß heute die Schönheit willkommen zu heißen. Indem er mit dem Feuer des ohne weiteres Erkennbaren gespielt hat, ist die Realität rings um ihn entflammt. In unserem Lande der Ignoranten ist zu wenig bekannt, daß es in Deutschland Arbeiter- und Soldatenräte, also Sowjets, gegeben hat. Es ist zu wenig bekannt, welch ein herrlicher, überwältigender Umsturz der Realität die Novembertage 1918 gewesen sind, als das deutsche Volk und nicht etwa die französische Armee den Krieg beendete, in Hamburg, Dresden, München, Berlin. Ha, das war etwas anderes als das schwache Wunder eines Salons in der Tiefe eines Sees, als die großen blonden Matrosen von Nordsee und Ostsee mit roten Fahnen auf Panzerautos durch die Straßen fuhren! Und dann verständigten sich die Frackträger von Paris und Potsdam, Clemenceau gab dem Sozialdemokraten Noske die Maschinengewehre zurück, mit denen sich die zukünftigen Hitler-Banden bewaffneten. Karl und Rosa fielen. Die Generäle wichsten wieder ihre Schnurrbärte. Der soziale Friede blühte schwarz-rot-golden über den offenen Massengräbern der Arbeiterklasse.

 

Jetzt spielte John Heartfield nicht mehr. Die Photoausschnitte, mit denen er einst umgegangen war, weil es ihm Spaß machte, zu verblüffen, bekamen unter seinen Händen eine Bedeutung. Eben noch war das Poetische mit dem Bann belegt gewesen, jetzt war ein sozialer Bann hinzugekommen, genauer gesagt, unter dem Druck der Ereignisse, in dem Kampf, in den sich der Künstler gezogen sah, fielen der erste und der zweite Bann zusammen: Es gab keine Poesie mehr, es sei denn die der Revolution. Glühende Jahre, in denen bei hier niedergeschlagener, dort siegreicher Revolution in der gleichen Weise an der äußersten Spitze der Kunst in Rußland Majakowskij, in Deutschland Heartfield ins Licht treten. Und beide, unter der Diktatur des Proletariats und unter der Diktatur des Kapitals, herkommend von der unverständlichsten Poesie und von der letzten Form der Kunst-für-wenige-beide gelangen zu der in unserer Zeit leuchtendsten Darstellung dessen, was die Kunst für die Massen sein kann, diese herrliche und so unbegreiflich verrufene Sache. Wie Majakowskij, der durch den Lautsprecher seine Gedichte zehntausend Menschen zuschreit, wie Majakowskij, dessen Stimme vom Pazifik bis zum Schwarzen Meer, von den Wäldern Kareliens bis zu den Wüsten Zentralasiens dringt, so sind der Kunst und dem Denken John Heartfields der Ruhm und die Größe beschieden gewesen, das Messer zu sein, das in alle Herzen dringt. Man weiß, daß ein von John Heartfield für die Kommunistische Partei Deutschlands gestaltetes Plakat mit der geballten Faust das deutsche Proletariat den Rot-front-Gruß gelehrt hat, mit dem die norwegischen Hafenarbeiter die vorüberfahrende "Tscheljuskin" grüßten, mit dem Paris die Toten des 9. Februar begleitete, mit dem, gestern erst sah ich es im Film, die unabsehbare Menge der Streikenden in Mexiko das Hakenkreuzbild Hitlers umringte. John Heartfield legt stets Wert darauf, neben den Originalen seiner Photomontagen die Seiten aus der deutschen Illustrierten >A.I.Z.< auszustellen, auf denen sie abgebildet sind, weil, wie er sagt, man zeigen muß, wie diese Photomontagen zu den Massen gelangen.

 

Deshalb hat die deutsche Bourgeoisie während der ganzen Zeit der deutschen "Demokratie" unter der Weimarer Verfassung John Heartfield verfolgt. Mehr als einmal. Wegen eines Plakats, eines Buchumschlags, wegen Verunglimpfung des Eisernen Kreuzes oder von Emil Ludwig... Und nachdem diese Bourgeoisie die "Demokratie" liquidiert hatte, hat ihr Faschismus es nicht bei der Verfolgung bewenden lassen: Zwanzig Jahre Arbeit von John Heartfield wurden durch die Nazis zerstört.

 

Noch im Prager Exil haben sie ihm nachgestellt. Auf Verlangen der deutschen Botschaft hat die tschechoslowakische Polizei soeben die Ausstellung schließen lassen, die jetzt in den Räumen des Maison de la Culture in Paris alles zeigt, was der Künstler seit der Machtergreifung Hitlers geschaffen hat.

 

John Heartfield weiß heute die Schönheit willkommen zu heißen. Er weiß die Bilder zu schaffen, die die Schönheit unserer Zeit selber sind, weil sie der Schrei der Massen selber sind, die Übersetzung des Kampfes der Massen gegen den braunen Henker mit der Luftröhre aus Fünffrankenstücken. Er weiß die echten Bilder unseres Lebens und unseres Kampfes zu schaffen, die erschütternd sind und packend für Millionen Menschen und die zugleich einen Teil dieses Lebens und dieses Kampfes ausmachen. Seine Kunst ist eine Kunst im Sinne Lenins, weil sie eine Waffe ist im revolutionären Kampf des Proletariats. John Heartfield weiß heute die Schönheit willkommen zu heißen. Weil er für die unabsehbare Menge der Unterdrückten in der ganzen Welt spricht, ohne auch nur einen Augenblick die großartige Stärke seiner Stimme zu senken, ohne die majestätische Poesie seiner kolossalen Phantasie zu demütigen. Ohne daß die Qualität seiner Arbeit leidet. Als Meister einer Technik, die er ganz und gar erfunden hat, niemals gegängelt im Ausdruck dessen, was er denkt, als Palette aller Aspekte des realen Lebens, völlig frei im Umgang mit den Erscheinungsformen-allein sich lenken lassend von der materialistischen Dialektik, von der Realität der historischen Bewegung, die er mit dem Ingrimm des Kämpfers in Schwarzweiß übersetzt.

 

Hier hat ganz einfach, mit Schere und Leimtopf, der Künstler mehr Erfolg gehabt als das Beste, was die moderne Kunst mit den Kubisten auf dem verlorenen Weg des Mysteriösen durch das Alltägliche versucht hat. Schlichte Gegenstände, wie einst bei Cézanne die Äpfel und bei Picasso die Gitarre. Aber hier kommt die Bedeutung hinzu, und die Bedeutung hat die Schönheit nicht entstellt.

 

John Heartfield weiß heute die Schönheit willkommen zu heißen.