1929 Surrealismus

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WALTER BENJAMIN

 

Der Surrealismus

Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz

 

Quelle: Walter Benjamin, in: Literarische Welt, Februar 1929. Zitiert nach: W. B., Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 1966, S. 200-215 (Auszug)

 

 

Benjamin, der sich von der sozialen Orientierung der Kunst eingeengt fühlte, vertritt den Surrealismus als Alternative: Man muß den Rausch der Poesie und die anarchistische Freiheit um einer Revolution willen anstreben, die den Menschen als Ganzes erfassen wird. Paris als Schmelztiegel unbewußter Kräfte scheint der Antipode von Berlin zu sein.

 

 

 

Geistige Strömungen können ein Gefälle erreichen, scharf genug, daß der Kritiker seine Kraftstation an ihnen errichten kann. Solches Gefälle schafft für den Surrealismus der Niveauunterschied Frankreich-Deutschland. Was da im Jahre 1919 in Frankreich im Kreise einiger Literaten - wir nennen gleich hier die wichtigsten Namen: André Breton, Louis Aragon, Philippe Soupault, Robert Desnos, Paul Eluard - entsprungen ist, mag ein dünnes Bächlein gewesen sein, gespeist von der feuchten Langeweile des Nachkriegs-Europa und den letzten Rinnsalen der französischen Dekadenz. Die Neunmalweisen, die noch heute nicht über die »authentischen Ursprünge« der Bewegung hinauskommen, und auch noch heute nichts davon zu sagen wissen, als daß hier wieder einmal eine Clique von Literaten die ehrwürdige Öffentlichkeit mystifiziere, sind ein wenig wie eine Expertenversammlung, die an einer Quelle nach reiflicher Überlegung zur Überzeugung kommt, der kleine Bach da werde niemals Turbinen treiben.

 

Der deutsche Betrachter steht nicht an der Quelle. Das ist seine Chance. Er steht im Tal. Er kann die Energien der Bewegung abschätzen. Für ihn, der als Deutscher längst mit der Krisis der Intelligenz, genauer gesagt, des humanistischen Freiheitsbegriffs vertraut ist, der weiß, welch frenetischer Wille in ihr erwacht ist, aus dem Stadium der ewigen Diskussionen heraus und um jeden Preis zur Entscheidung zu kommen, der ihre äußerst exponierte Stellung zwischen anarchistischer Fronde und revolutionärer Disziplin am eignen Leib hat erfahren müssen, für den gibt es keine Entschuldigung, wenn er auf oberflächlichsten Augenschein die Bewegung für eine »künstlerische«, »poetische« halten sollte. Wenn sie dies im Anfang gewesen ist, so hat doch eben im Anfang Breton schon erklärt, mit einer Praxis brechen zu wollen, die dem Publikum die literarischen Niederschläge einer bestimmten Existenzform vorlegt und diese Existenzform selber vorenthält. Kürzer und dialektischer gefaßt aber heißt das: Hier wurde der Bereich der Dichtung von innen gesprengt, indem ein Kreis von engverbundenen Menschen »Dichterisches Leben« bis an die äußersten Grenzen des Möglichen trieb. [...]

 

Es gibt in solchen Bewegungen immer einen Augenblick, da die ursprüngliche Spannung des Geheimbundes im sachlichen, profanen Kampf um Macht und Herrschaft explodieren oder als öffentliche Manifestation zerfallen und sich transformieren muß. In dieser Transformationsphase steht augenblicklich der Surrealismus. Damals aber, als er in Gestalt einer inspirierenden Traumwelle über seine Stifter hereinbrach, schien er das Integralste, Abschließendste, Absoluteste. Alles, womit er in Berührung kam, integrierte sich. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und wider flutender Bilder, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinander-griffen, daß für den Groschen »Sinn« kein Spalt mehr übrigblieb. Bild und Sprache haben den Vortritt. [...]

 

Im Mittelpunkt dieser Dingwelt steht das Geträumteste ihrer Objekte, die Stadt Paris selbst. Aber erst die Revolte treibt ihr surrealistisches Gesicht restlos heraus. (Menschenleere Straßen, in denen Pfiffe und Schüsse die Entscheidung diktieren.) Und kein Gesicht ist in dem Grade surrealistisch wie das wahre Gesicht einer Stadt. Kein Bild von Chirico oder Max Ernst kann mit den scharfen Aufrissen ihrer inneren Forts sich messen, die erst erobert und besetzt sein müssen, um ihr Geschick und in ihrem Geschick, im Geschick ihrer Massen, das eigene zu meistern. [...]

 

An solchen Stellen greift bei Breton auf sehr merkwürdige Weise die Photographie ein. Sie macht die Straßen, Tore, Plätze der Stadt zu Illustrationen eines Kolportageromans, zapft diesen jahrhundertealten Architekturen ihre banale Evidenz ab, um sie mit allerursprünglichster Intensität dem dargestellten Geschehen zuzuwenden, auf das genau wie in alten Dienstmädchenbüchern wortgetreue Zitate mit Seitenzahlen verweisen. Und all die Orte von Paris, die hier auftauchen, sind Stellen, an denen das, was zwischen diesen Menschen ist, sich wie eine Drehtür bewegt.

 

Auch das Paris der Surreallisten ist eine »kleine Welt«. Das heißt in der großen, im Kosmos, sieht es nicht anders aus. Auch dort gibt es carrefours, an denen geisterhafte Signale aus dem Verkehr aufblitzen, unerdenkliche Analogien und Verschränkungen von Geschehnissen an der Tagesordnung sind. Es ist der Raum, von dem die Lyrik des Surrealismus Bericht gibt. [...]

 

Seit Bakunin hat es in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben. Die Surrealisten haben ihn. Sie sind die ersten, das liberale moralisch-humanistisch verkalkte Freiheitsideal zu erledigen, weil ihnen feststeht, daß »die Freiheit, die auf dieser Erde nur mit tausend härtesten Opfern erkauft werden kann, uneingeschränkt, in ihrer Fülle und ohne jegliche pragmatische Berechnung will genossen werden, solange sie dauert«. Und das beweist ihnen, »daß der Befreiungskampf der Menschheit in seiner schlichtesten revolutionären Gestalt (die doch, und gerade, die Befreiung in jeder Hinsicht ist), die einzige Sache bleibt, der zu dienen sich lohnt«. Aber gelingt es ihnen, diese Erfahrung von Freiheit mit der anderen revolutionären Erfahrung zu verschweißen, die wir doch anerkennen müssen, weil wir sie hatten: mit dem Konstruktiven, Diktatorischen der Revolution? Kurz - die Revolte an die Revolution zu binden? Wie haben wir ein Dasein, das ganz und gar auf den Boulevard Bonne-Nouvelle sich ausrichtet, in Räumen von Le Corbusier und Oud uns vorzustellen?

 

Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Surrealismus in allen Büchern und Unternehmen. Das darf er seine eigenste Aufgabe nennen. Für die ist's nicht damit getan, daß, wie wir wissen, eine rauschhafte Komponente in jedem revolutionären Akt lebendig ist. Sie ist identisch mit der anarchischen. Den Akzent aber ausschließlich auf diese setzen, das hieße die methodische und disziplinäre Vorbereitung der Revolution völlig zugunsten einer zwischen Übung und Vorfeier schwankenden Praxis hintansetzen. Hinzu kommt eine allzu kurz gefaßte, undialektische Anschauung vom Wesen des Rausches. Die Ästhetik des peintre, des poète »en état de surprise«, der Kunst als Reaktion des Überraschten, ist in einigen sehr verhängnisvollen romantischen Vorurteilen befangen. Jede ernsthafte Ergründung der okkulten, surrealistischen, phantasmagorischen Gaben und Phänomene hat eine dialektische Verschränkung zur Voraussetzung, die ein romantischer Kopf sich niemals aneignen wird. Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen: vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt.