1925 Halluzination und Methode

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Max Ernst

 

Halluzination und Methode

 

 

Quelle: Waldberg, Patrick: Der Surrealismus. Köln 1965, S. 70 ff.

 

Max Ernst, 1891- 1976, begründet 1919 mit Arp und Baargeld in Köln die Dada-Gruppe. Seit 1922 in Paris, Mitbegründer der surrealistischen Bewegung, 1941-45 New York, 1946 Ansiedlung in Sedona (Arizona), seit 1950 vorwiegend in Frankreich ansässig.

 

 

 

 

 

Botticelli liebte keine Landschaftsmalerei, er fand, daß sie nur „eine Art unzulängliche und mittelmäßige Forschungsarbeit" sei. Verächtlich meinte er auch, daß man „einen mit verschiedenen Farben getränkten Schwamm gegen eine Wand werfen und einen Flecken verursachen könne, in dem eine schöne Landschaft erkennbar" sei. Diese Bemerkung brachte ihm eine strenge Ermahnung seines Kollegen Leonardo da Vinci ein: „Er (Botticelli) hat recht: in einer solchen Besudelung vermag man bizarre Formationen zu erkennen; ich will damit sagen, daß der aufmerksame Betrachter dieses Fleckens darin menschliche Köpfe sehen kann, die verschiedensten Tiere, eine Felsenschlucht, das Meer, Wolken, Gebüsche und anderes noch: Es ist wie Glockenläuten, man hört heraus, was man sich einbildet. Obgleich dieser Flecken dir Ideen eingeben kann, bringt er dir doch nicht bei, wie's zu vollenden sei, und besagter Maler (Botticelli) malt sehr schlechte Landschaften.

 

Um umfassend zu sein und in verschiedenerlei Betracht zu gefallen, muß eine malerische Komposition sowohl dunkle Stellen als auch zartes Halbdunkel enthalten. Es ist, so finde ich, nicht zu verachten, wenn du dich der Bilder erinnerst, die du zuweilen herausgelesen hast aus Mauerflecken, aus der Herdasche, aus Wolken und Gewässern: betrachtest du sie mit Aufmerksamkeit, so wirst du überaus bewunderswerte Gebilde entdecken, welche das Genie des Malers auswerten kann, um Schlachten von Tier und Mensch zu gestalten, Landschaften oder Ungeheuer, Teufel oder andere phantastische Gegenstände, die dir Ehre machen. Diese verworrenen Dinge regen das Genie zu neuen Erfindungen an, doch muß man alle unbekannten Elemente zu zeichnen wissen ebenso wie Tiere, Landschaftsbilder, Felsen und Pflanzenwelt (,Traktat über die Malerei')."

 

Am 10. August 1925 ließ mich eine unerträgliche visuelle Besessenheit die technischen Mittel entdecken, die mir zu einer weitgehenden Verwirklichung dieser Lektion Leonardos verhelfen sollten. Es begann mit einer Kindheitserinnerung, in der eine Vertäfelung aus imitiertem Mahagoni gegenüber meinem Bett eine Rolle gespielt hatte die Rolle eines optischen Provokateurs von Visionen im Halbschlaf. Ich befand mich bei regnerischem Wetter in einem Gasthaus am Meer, betrachtete die Rillen im ausgewaschenen Fußboden und fühlte mich betroffen von der Faszination, die davon ausging. Ich beschloß, der symbolischen Bedeutung dieser wiederholten Faszination nachzugehen; um mein meditatives und halluzinatorisches Vermögen zu verstärken, machte ich eine Reihe von Zeichnungen von den Fußboden-Dielen, und zwar legte ich Papierbogen darüber, wie es gerade kam, und begann mit Bleistift darauf zu reiben. Ich betrachtete aufmerksam die so entstandenen Zeichnungen, ihre „dunklen Stellen und andere von zartem Halbdunkel", und war überrascht von der plötzlichen Intensivierung meiner visionären Fähigkeiten: es tat sich mir eine halluzinierende Folge von gegensätzlichen Bildern auf, und sie lösten einander ab mit der Eindringlichkeit und Geschwindigkeit, wie sie Liebeserinnerungen eigen ist. Neugierde und entzücktes Staunen erfüllten mich, und ich begann auf dieselbe Weise die verschiedensten Materialien, die mir unter die Augen kamen, zu untersuchen: Blätter und ihre Adern, die ausgefransten Ränder einer Sackleinwand, die Pinselstriche eines ,modernen' Gemäldes, einen abgespulten Faden usw. usw. Da begannen meine Augen zu sehen: menschliche Köpfe, die verschiedensten Tiere, eine Schlacht, die mit einem Kuß endet (die Windsbraut), Felsen, das Meer und den Regen, Erdbeben, die Sphinx in ihrem Stall, kleine Tische rings um die Erde, die Palette Casars, falsche Positionen, einen Schal aus Eisblumen, die Pampas.

 

Peitschenhiebe und Lavafäden, Felder der Ehre, Überschwemmungen und seismische Pflanzen, Vogelscheuchen, den Start des Kastanienbaums. Blitze unter vierzehn Jahren, geimpftes Brot, gepaarte Diamanten, den Kuckuck, Ursprung der Wanduhr, das Mahl des Toten, das Rad des Lichts.

 

Ein System vom Sonnengeld.

 

Die Sitten der Blätter, die faszinierende Zypresse. Eva, die einzige, die uns bleibt.

 

Unter dem Titel ,Naturgeschichte' habe ich die ersten Ergebnisse gesammelt, die sich durch das Verfahren der 'frottage' ergeben haben, von das Meer und der Regen bis zu Eva, die einzige, die uns bleibt. (Erschienen bei Editions Jeanne Bucher, 1962.')

 

Ich weise nachdrücklich auf die Tatsache hin, daß die so gewonnenen Zeichnungen durch eine Reihe von spontan sich aufdrängenden Suggestionen und Verwandlungen (entsprechend hypnagogischen Visionen) immer mehr den Charakter des geprüften Materials - des Holzes zum Beispiel - verlieren; daß sie hingegen den Aspekt von unverhofft genauen Bildern annehmen, welche wahrscheinlich so geartet sind, daß sie die früheste Ursache der Besessenheit verraten oder aber ein Abbild dieser Ursache hervorbringen können.

 

Von 1925 bis heute

 

Das 'Frottage'-Verfahren - das also auf nichts anderem beruht, als auf der Intensivierung der Reizbarkeit geistiger Fähigkeiten mit Hilfe entsprechender Techniken - schließt jede bewußte geistige Leistung (der Vernunft, des Geschmacks, der Moral) aus und reduziert aufs äußerste den aktiven Anteil desjenigen, den man bisher den ,Autor' des Werkes genannt hat. Dieses Verfahren hat sich in der Folge als wahres Äquivalent dessen erwiesen, was wir bereits unter dem Namen automatisches Schreiben kennengelernt haben. Der Autor wohnt der Entstehung seines Werkes als Zuschauer bei, gleichgültig oder leidenschaftlich die Gerade seiner Entwicklung beobachtend. So wie auch die Rolle des Dichters seit dem berühmten Brief des Sehers darin besteht, unter dem Diktat dessen, was sich in ihm denkt (sich ausspricht) zu schreiben - so ist es die Rolle des Malers, zu umreißen und herauszuschleudern, was sich in ihm sieht2. Ich habe mich immer mehr dieser Aktivität (Passivität) gewidmet, die später paranoische Kritik genannt wurde, und das frottage-Verfahren auf die technischen Möglichkeiten der Malerei angewendet, obgleich es anfangs nur auf die Zeichnung anwendbar schien (zum Beispiel durch Auskratzen von Farben auf farbigem und auf unebener Fläche aufgetragenem Grund); immer mehr suchte ich meinen eigenen aktiven Anteil am Werden des Bildes zu verringern, um dem aktiven Anteil der halluzinatorischen Fähigkeiten des Geistes mehr Raum zu geben. Und es gelang mir seit dem 10. August 1925, dem denkwürdigen Tage der Entdeckung der frottage, als Zuschauer der Entstehung meiner Werke beizuwohnen4. Als „Mensch von gewöhnlicher Konstitution" (ich gebrauche hier die Worte von Rimbaud), habe ich alles getan, meine Seele monströs werden zu lassen. Blinder Schwimmer, der ich bin, habe ich mich zum Seher gemacht. Ich habe gesehen. Und ich habe mich ertappt, verliebt in das, was ich sah, danach verlangend, mit ihm eins zu werden.

 

In einem Land von der Farbe ,Taubenbrust1 habe ich den Aufflug von 100 000 Tauben bejubelt, ich sah sie schwarze Wälder des Verlangens überfallen, Mauern und Meere ohne Ende. Ich habe ein Efeublatt auf dem Ozean treiben sehen und ein sehr sanftes Erdbeben verspürt. Eine weiße und bleiche Taube, Blume der Wüste. Sie weigerte sich, zu verstehen. Ein Mann und eine prachtvolle Frau tanzten am Rande einer Wolke die Karmagnole der Liebe.

 

Die Taube schloß sich in ihre Flügel ein und verschlang den Schlüssel auf immer. Ein Faden, auf meinem Tisch gefunden, ließ mich zahlreiche junge Leute ihre Mutter tretend sehen, viele junge Mädchen, die sich in schönen Posen gefielen.

 

Ausnehmend schöne Frauen durchquerten schreiend einen Fluß. Ein Mann, übers Meer schreitend, nahm ein junges Mädchen bei der Hand, ein anderes dabei stoßend. Personen von eher beruhigendem Aussehen — in der Tat, sie hatten zu lange im Wald geschlafen - übten ihre primitiven Gesten nur um des Reizes willen. Jemand sagt: „Der unbewegliche Vater."

 

Da sah ich mich selbst, einem jungen Mädchen den Kopf meines Vaters zeigend. Nur schwach bebte die Erde.

 

Ich beschloß, ein Denkmal für die Vögel zu errichten.

 

Es war um die schöne Jahreszeit. Es war die Zeit der Schlangen, der Regenwürmer, der Federblumen, Schuppenblumen, Tubusblumen. Es war die Zeit, da der Wald davonflog und die Blumen sich unter Wasser stritten. Die Zeit der Zirkumflexen Meduse.

 

1930, nachdem ich mit Ausdauer und Methode meinen Roman La Femme 100 Têtes5 verfaßt hatte, empfing ich beinahe täglich den Besuch des Obersten der Vögel, genannt Loplop, eigenartiges Phantom von beispielhafter Treue, meiner Person ergeben. Er brachte mir ein Herz im Käfig, das Meer im Käfig, zwei Blumenblätter, drei Blätter, eine Blume und ein junges Mädchen. Dann noch den Mann mit Eiern und den Mann mit rotem Cape. An einem schönen Herbstnachmittag verriet er mir, daß man eines Tages einen Lazedämonier eingeladen hatte, einem Mann zuzuhören, welcher die Nachtigall vollkommen nachahmte. Der Lazedämonier antwortete: Ich habe oft die Nachtigall selbst gehört. Eines Abends erzählte er mir Bonmots, über die man nicht lachen muß: „Bonmot - besser wäre es, eine gute Tat gar nicht als schlecht zu belohnen. Ein Soldat hatte im Kampf beide Arme verloren. Sein Oberst bot ihm einen Taler. Der Soldat antwortete: Sie glauben wohl, Herr Oberst, daß ich nur ein Paar Handschuhe verloren habe."

 

Ich hatte 1928 Satanas gegrüßt. Ein Greis, unnennbar, belud dann seinen Rücken mit einem Wolkenpaket, während eine Blume aus den weißen Spitzen, den Hals von einem Stein durchbohrt, sich schön stille verhielt, auf einer Trommel sitzend. Warum bin ich nicht diese charmante Blume? Warum mich immer in Erdbeben verwandeln, in Herz-As, in Schatten, der durch die Tür tritt. Welch dunkle Vision, die von einem Europa nach dem Regen.

 

Am 24. Dezember 1933 erhielt ich den Besuch einer jungen Chimäre im Abendkleid.

 

Acht Tage später bin ich einem blinden Schwimmer begegnet.

 

Ein wenig Geduld (zwei Wochen Warten), und ich werde der Toilette der Braut beiwohnen. Die Windsbraut wird mich küssen, wenn sie in vollem Galopp vorüberkommt (bloßer Eindruck einer Berührung).

 

Ich sah Barbaren nach Westen blickend, Barbaren aus dem Walde kommend, Barbaren gen Westen ziehend. Bei meiner Rückkehr vom Garten der Hesperiden habe ich mit schlecht verhehlter Freude die Phasen des Kampfes von zwei Bischöfen verfolgt. Das war schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch.

 

Ich habe die Löwin von Beifort gestreichelt.

 

Den Antipoden der Landschaft.

 

Eine schöne Deutsche.

 

Landschaften mit Weizenkeimen.

 

Die Mondspargel.

 

Die Mars-Kanäle.

 

Die absolute Gegenwart.

 

Gierige Gärten, von einer Vegetation aus Flugzeugtrümmern verschlungen. Ich sah mich mit einem Raubvogelkopf, ein Messer in der Hand, in der Haltung, so dachte ich, des Denkers von Rodin, welche jedoch in Wahrheit die befreite war des Sehers von Rimbaud. Ich habe mit eigenen Augen die Nymphe Echo gesehen.

 

Ich habe mit eigenen Augen den Anschein der Dinge zurückweichen sehen, und ich habe eine ruhige und grimmige Freude darüber verspürt. Innerhalb meiner Aktivität (Passivität) habe ich zu der allgemeinen Umwälzung beigetragen, die sich heutzutage in den Beziehungen der am sichersten erworbenen und eingefleischten Realitäten vollzieht.        

 

1925

 

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Literatur:

 

Spies, Werner: Max Ernst. Werke 1929- 1938. Köln 1979.
Russell, J.: Max Ernst. Köln 1966.
Spies, Werner: Max-Ernst-Collagen. Köln 1974.