1925 Der Künstler und die Zeitkrankheit

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Hugo Ball

 

Der Künstler und die Zeitkrankheit

 

 

 

Erstdruck in: Hochland (München), 24. Jg, Bd. 1, Heft 2, November 1926.

 

 

 

 

 

I

 

Die Prinzipienlehre unserer Zeit läßt einen allgemeinen Umbau der Wissenschaften erkennen. Der Zweckgedanke, auf Staat und Gesellschaft bezogen, verliert seinen Wert. Eine künstlerische Auffassung der metaphysischen Form scheint Raum zu gewinnen und die Wissenschaften sich unterzuordnen. Die Kausalität, auf ein mageres Begriffspaar, Ursache und Wirkung gestützt, ging von der Beobachtung zeitlicher Abläufe aus; von einem Messen, Wägen und Vergleichen materieller Zusammenhänge. Die Metaphysik begnügte sich mit fatalen Konstruktionen, die eine persönliche Freiheit zwar forderten, nicht aber zu begründen vermochten. Diese Methode und das Gesetz der Kausalität selbst mußten phantastisch und willkürlich erscheinen in dem Augenblick, in dem der reine Intellekt versagte; in dem er sich als unzulänglich erwies, die ringsum in aller Unvernunft hervorbrechende Geschichte und ihre greifbaren Elemente zu bändigen. Daß eine solche Entwertung der mathematischen Begriffe inzwischen eingetreten ist, läßt sich kaum mehr bestreiten.

 

   Damit beginnt ein neuer Versuch, den letzten Wert zu erfassen. Da die Wissenschaft auf Tatsachen immer verwiesen bleibt, so regt sich ein Interesse für Tatsachen und Erfahrungen, die dem Strom des Werdens sicherer als das von Druck und Stoß abhängige, als das meß- und wägbare Faktum überhoben sind. Solche Tatsachen und Erfahrungen aber bietet vor allem die Kunst. »Es gibt«, so kann man 1905 bereits bei Voßler (›Die Sprache als Schöpfung und Entwicklung‹) lesen, »es gibt eine geschichtliche Erkenntnis ohne irgendwelche Bezugnahme auf die praktische Wirklichkeit. Das ist die Erkenntnis durch reine Anschauung oder Kunst, die sich auf ein theoretisches, nicht auf ein praktisches Geschehen bezieht. Die Wissenschaft von dieser Erkenntnis pflegt man Ästhetik zu nennen. Alle andere geschichtliche Erkenntnis ist auf die praktische Wirklichkeit bezogen, also empirisch. Darum enthält sie willkürliche Elemente, seien es konstruierte Typen oder Gesetze, seien es Zweckbegriffe«.

 

   Die Kunstgeschichte tritt als Erfahrung anstelle der Profangeschichte; die Tatsachen haben Bedeutung nur noch, soweit sie gestaltet, das heißt dem faktischen Strome der Zeit überhoben sind. Dem Wesen des Kunstproduktes entsprechend wird man im neuen Gesamtbild die letzte und höchste Form nicht ohne den Inhalt, ohne die Welt der Gefühle und Triebe mehr setzen können. Der formalistischen, rein verstandesmäßigen Ansicht der Dinge folgt eine solche, die die Vernunft nicht abgezogen von ihrer seelischen und körperlichen Ausprägung mehr will gelten lassen. Letzter Urheber der Dinge muß ein Künstler, oberstes Kriterium einer neuen Wertskala die Kunst selber sein, in ihrer ganzen Vermögensfülle.

 

   Drei Dinge gewinnen damit eine neue Bedeutung. Zunächst der Begriff der Inspiration. Wer ist der Künstler? Wie kommt das Kunstwerk zustande? Geben dem Dichter die Götter ein oder die Dämonen? Worin ist das ›Genie‹ begründet? Worin das sogenannte ›Schaffen‹? Wer schafft und kreiert? Gott oder die Menschen? Ist die Kunst im Individuum beschlossen, in seinen Instinkten etwa, im Unbewußten, oder in einer Über- und Unterwelt? So daß, um dies vorwegzunehmen, die Kunst, wenn sie schon den letzten Wert darstellt, doch vom Produzierenden vielleicht gar nicht ausgeht, sondern der Mensch nur, wie die Scholastik sagte, die causa efficiens, keineswegs aber der Schöpfer seiner Leistung ist?

 

   Sodann der Stil, die Einheit der Kunstleistung: sind sie Naturgaben? Gibt es einen angeborenen Stil, oder sind alle Einzelwesen nach ihrer Seinsweise begründet in einem einheitlichen Plan und Entwurf, der ihnen die Besonderheit zuweist nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten? Ist die Menschenseele einzigartig und unveränderlich, oder unterliegt sie einem gestaltenden Gesetz? Je nachdem die Antwort gegeben wird, gibt es einen individuellen, autonomen Stil und eine individuelle Stilmetaphysik, oder es herrschen traditionelle, gemeinsame, schulmäßige Begriffe. Der interessante Streit über Nachahmung (Nachfolge, Gehorsam) und Originalität (natürliche Eigenart, Willkür), ein Streit, der einstmals in der Debatte zwischen Bembo und Erasmus die Gemüter erregte, lebt hier wieder auf.

 

   Nicht zuletzt wird fraglich: der Begriff der Persönlichkeit. Wie ist das Wort persona abzuleiten? Daß es ursprünglich das Abbild der Götter und die Maske des antiken Theaters bedeutet, gibt keine Lösung. Ist der Maskenträger aktiv mit personare oder passiv mit personari in Beziehung zu setzen? Die Maske des griechischen Theaters hatte ein Schallrohr, durch das der Schauspieler zum Publikum sprach. Der Mime, der hohe Töne von sich gibt, könnte als Persönlichkeit gelten. So faßte noch vor kurzem C. G. Jung (in ›Psychologische Typen‹, Rascher, Zürich) die Persona als täuschendes Individuum auf, das sich mit seiner Maske identifiziert. Auch Erasmus, beim Beginn der (reformatorischen) Individual- und Original-Tendenzen setzt Persönlichkeit gleich Maske, erlogenes Antlitz, wenn er dann auch widersprechend die angeborene Gestalt als die echtere, der anderen, verlarvten (personatus), die nur auf der Nachahmung der Vorbilder beruhe, entgegenstellt.

 

   Sehr im Gegensatz zu diesen beiden Auffassungen steht indessen eine dritte, die den Begriff der Maske auf das ganze Kleid, auf den Überwurf bezieht und an die magische Auffassung dieses Überwurfes bei den Alten erinnert (das Löwenfell des Herakles, das Seelenkleid des Gnostikers). Die Tier- oder Göttermaske prägt danach den Kern des Helden, der die höhere oder die physisch stärkere Person anzieht. Es handelt sich hier nicht mehr um ein Mimikry des Schauspielers und Nachahmers, sondern um die magische Identifikation mit einem kreativen übermenschlichen Wesen, das den Menschen, der vorher nur Sinn und Materie war, im Innersten prägt und erhöht. Vico vertritt diese Auffassung. Persona kommt nach ihm nicht von personare, durchtönen, sondern von personari, Festkleider anlegen.

 

II

 

Den Stand dieser Untersuchungen zu erörtern, ist nicht meine Absicht. Es genüge eine einfache Beobachtung. Mit wachsender Aufmerksamkeit registriert man eine Leistung nach ihrer künstlerischen Qualität. Soweit ein Urteil überhaupt wichtig wird, geht es zunächst von ästhetischen Gesichtspunkten aus, und es wird allgemach gleichgültig, ob es sich dabei um das Werk eines berufsmäßigen Artisten oder um dasjenige eines Geschichtsschreibers, Philosophen oder Theologen, also eines Gelehrten handelt. Die Kunst der eigentlichen Künstler aber erhält mehr und mehr den Charakter der ästhetischen Norm; sie wird zur absoluten Kunst, zur Hieroglyphe, das heißt zu einem Zeichen, in dem Religion, Philosophie und Zeitgeschichte in unauflösbarer Einheit verbunden sind. Eine Publikation wie die bei Rentsch in Zürich erschienenen ›Kunst-Ismen‹ (Herausgeber Lissitzky und Hans Arp) besagt in diesem Sinne mehr als ganze Bände wohlgemeinter ›Kunstwissenschaft‹. Der Mechanismus unserer Zeit macht es zum Gebot, die Erscheinungen nach einem strengeren Maßstab zu kontrollieren, als er seit langem in Anwendung war. Die Gestalt eines Argumentes, nicht seine Fülle entscheidet. Der Wert einer Leistung ergibt sich aus ihrer bis in die kleinsten Teilformen strahlenden Lichtspiegelung.

 

   Und wiederum ist es eine Dreiheit, diesmal eine historische, die das moderne ästhetische Ideal bestimmt. Da ist vor allem die Tradition des sogenannten ›schöpferischen Idealismus‹. Der Gnadenstreit steht am Beginn ihrer Debatten. Die Gnade kann nicht verdient und nicht durch Nachahmung oder Nachfolge errungen werden. Man besitzt sie, oder man besitzt sie nicht. Es bedarf keines asketischen Bemühens, um erleuchtet, ein Genie zu sein. Die Werke als solche erweisen die gratiae gratis datae. Sie dienen nicht mehr der persönlichen Läuterung; sie werden Selbstzweck, Literatur. Bei Herder ist das Ideal eine Welt des schönen Scheins über den Gegensätzen von Pietismus und Kaserne. Bei Schiller zeigt sich eine Welt der Vorbilder, die ihre Beispiele aus den ›Ahndungen‹ der genialischen Persönlichkeit bezieht. Bei Goethe erreicht das Vorbild bereits die Stärke der antiken Selbstvergötterung; bei Nietzsche führt es zum Ideal des Stifters einer ästhetischen Religion.

 

   Hier schließen sich neuerdings Bemühungen der Ethnologie an. Das Studium der primitiven Völker fördert eine Welt zutage, die der christliche Kulturkreis nahezu unterdrückt hatte: diejenige des Animismus und der Magie. Anschauungen und Werte, die über Zeiträume von Jahrtausenden kaum eine Entwicklung erfuhren, brechen in den Forschungen der Frazer, Tylor, Lévy-Bruhl und vieler anderer mit ihrem ganzen Gewicht in das moderne intellektualistische und psychologische Weltbild ein. In der Denkart der Kinder und der Neurotiker ergaben sich dazu die phylogenetischen Analogien. Das auf Beruhigung und Bestand bedachte Gewissen unserer Zeit stürzt sich auf diese Funde mit der Inbrunst dessen, der sich im Untergang auf festen Boden zu retten hofft. Das Verlangen, aus ferner Urzeit neue Kräfte der Vereinfachung und der Verbundenheit zu schöpfen, erklärt den Eifer dieser Studien. Das Ergebnis aber ist eine Inthronisation der Magie, in der man den Schlüssel aller primitiven Kunstübung und -wirkung zu erkennen glaubt. Forschern und Empfängern verschlägt es dabei einstweilen wenig, ob man das Paradies oder das Reich des Dämons selber wiederentdeckt hat.

 

   Eine dritte und letzte Strömung ist diejenige, die den eben beschriebenen Forschungen aus dem Symbolschatze, der Heiligenverehrung und den Logosideen der Kirche Vergleichspunkte bietet. In der Kirche ragt ja gewissermaßen eine Welt des Tabu und Totems höchst lebendig bis in die Gegenwart und letzten kulturellen Sublimierungen herein. Ich will nicht behaupten, daß die um das Urchristentum bemühte Philologie bereits irgendeine Verbindung mit den Ethnologen habe oder auch nur erstrebe. Ich möchte nur auf die Verwandtschaft und demnächstige Notwendigkeit gegenseitigen Einvernehmens hinweisen. Die Ergebnisse der Mysterienforschung und der Symbollehre werden dann ebensosehr zur Erhöhung des Kunstprestiges beitragen, wie die Untersuchungen, die den Stil der Naturvölker betreffen. Ein Werk wie Rémy de Gourmonts ›Latin mystique‹ (1892) gibt schließlich, indem es die Welt der Kirchendichter durch anderthalb Jahrtausende zurückverfolgt, eine Analyse des kirchlichen Formbegriffs. Und die pneumatologischen Stiluntersuchungen der Dieterich, Norden und Reitzenstein enthüllen eine hieratische Welt, in der das Pneuma etwas sehr anderes ist als Magie und Animismus im primitiven Sinne, in welcher der inspirierte Künstler aber nicht weniger als der Primitive das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung kennt.

 

III

 

Wie kommt es nun, daß zu solch hoher Einschätzung der Kunst im schroffsten Gegensatze die Geltung der Person des Künstlers steht? Frühere, begeisterte Zeiten übertrugen die Schätzung des Werkes auf die hervorbringende Person und waren geneigt, darüber sogar das Werk zu vergessen. In mancher edlen Freundschaft zwischen Künstler und Mäzen blieben uns Beispiele solch legendären Tatbestandes erhalten. Heute läßt sich ein umgekehrter Prozeß beobachten. Die Biographien und Briefsammlungen verlieren ihren harmlosen Charakter und ihren romanhaften Wert; sie nehmen an Bedeutung und Interesse ab, gerade wo es sich um überragende Persönlichkeiten handelt. Fehlt es dem Künstler an ebenbürtigen Gegenspielern, oder fällt das Interesse für Intimitäten den subalterneren Schichten zu? Ob ein Mann namens Lersch in einem Versbande seine Familiengeschichte erzählt oder ein namhafter Komödiendichter seine Bemühungen gegen das ›Plüschzeitalter‹ in einem freundlichen Überblicke zusammenfaßt: Wen bewegt es? Das Publikum bleibt überlegen. Der Glaube an die Wichtigkeit des Mitgeteilten ist dahin. Die Probleme werden nicht mehr von einem einzelnen gelöst; jedermann weiß es. Die Duplikate laufen in Mengen herum. Hat man es mit dem Urbild oder mit einem Doppelgänger zu tun? Wer weiß es noch? Wer aus der turba incondita vermag es noch zu beurteilen?

 

   So scheint es, daß dem Künstler nur die Anonymität verbleibt. Daß er vorzieht, auf private Beziehungen zu seinen Empfängern zu verzichten. Daß er den daher rührenden Qualen vorbeugt, indem er die Übertragung des Interesses von seiner Privatperson auf sein Werk durch ein entschlossenes Harakiri erzwingt. Solche ›Sachlichkeit‹ war die Ursache der Künstler-Melancholie zu allen Zeiten. Das Gloria- Ideal, das Zilsel uns von den Alten und den humanistischen Dichtern entworfen hat (›Die Entstehung des Geniebegriffs‹, Mohr, Tübingen 1925), das Ruhm- und Erfolgsbedürfnis: an wen sollte es sich heute auch wenden? Wer sollte die Gloria verleihen? Es gibt keine Gesellschaft mehr, die das Zutrauen aufbrächte, Ruhmestitel zu verleihen. Gerade desjenigen Werk, der Wort, Farbe oder Ton nicht nur dekorativ gebraucht, sondern sich mit seinem Gegenstande identifiziert; für den also die Aufnahme seines Werkes eine Aufnahme oder Ablehnung seiner Person bedeutet; gerade das Werk des Künstlers, der seine Zeit befruchten könnte; der nach ihrem vergrabenen Gesichte sucht: gerade dieses Werk begegnet dem wirtschaftlichen Boykott, der ängstlichen Schablone, dem Mißverständnis, der vollkommenen Hilflosigkeit.

 

   Die getrennt marschierenden Truppen, der neuen Formung und der neuen Theorie, sie haben sich noch nicht gefunden. Nur erst die Vorposten berühren sich. Zwischen der Direktive, zwischen den aufräumenden Bemühungen und dem neuen Werk steht der ganze alte Apparat, der in seiner Weise zwar ebenfalls von ›Sachwerten‹ ausgeht, nicht aber von solchen des Stils, sondern von solchen des Stoffes und des privaten Details. Fast die gesamte akademische Betrachtung urteilt noch in diesem Sinne und beweist damit ihre materielle Gebundenheit, wie sehr immer sie mit abstrakten Erörterungen und mit dogmatischen Postulaten den Nachweis ihrer Geistigkeit zu erbringen hofft.

 

IV

 

Fragt man die Künstler, woran sie leiden, so kann man immer wieder dasselbe hören. Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit. Das Band, das sie in früheren Zeiten mit der Gesellschaft einigte, ist zerrissen. Es ist keine Tragfähigkeit, kein Anknüpfungspunkt mehr vorhanden. Es finden sich, soweit überhaupt von einer distinguierenden Umgebung die Rede sein kann, kaum zwei Menschen mehr, die noch dasselbe glauben und lieben. An wen soll beispielsweise der Romancier sich wenden, wenn er sich nicht eingestehen will, daß seine ganze Kunstgattung dem Untergang verfallen ist? Wen soll er darstellen, ohne sofort in eine Mythologie zu geraten? Und auch die Selbstdarstellung: Wem soll sie bekennen, wenn sie sich überhaupt an die Öffentlichkeit wendet? Tasso konnte bekennen; es gab noch eine Instanz für Manieren und Sitten. Schon Rousseaus Bekenntnis schließt Bübereien in sich, die er plausibel zu machen versucht und weiten demokratischen Kreisen plausibel zu machen vermochte. Das Selbstbekenntnis einer proletarischen Zeit wird voraussichtlich dasjenige des Hochstaplers Ignaz Straßnoff sein.

 

   Die Katastrophe, die wir durchleben, ist enorm. Die gesellschaftlichen Schichten verschieben sich von Tag zu Tag. Auch der Bildner, der Maler: sie finden sich einem abstrakten und imaginären Raum gegenüber, wie der Dichter sich einer abstrakten und imaginierten Gesellschaft ausgeliefert findet. Für wen soll einer seine Bilder malen? Für den Händler? Und wem gibt der sie weiter? Bleiben sie Schecks und Börsenwerte, und gehen sie als solche in unendlichem Kreislauf durch die Welt, oder werden sie schließlich irgendwo einmal aufgehängt, geschätzt und geliebt? Von wem dann? Wer wird es bis dahin sein? Der Bauer, der Bürger oder der Prolet? Zum Künstler gehört es wesentlich, daß er den Empfänger kennt und dessen Glauben, dessen Liebe, dessen Hoffnung in die Form mit einbezieht. Im Auswiegen des beiderseitigen Anteils beruht vielleicht das Geheimnis der Form. Wie nun, wenn der Künstler auf die Realität verzichten muß, wie er bereits auf seine Person verzichtet hat? Vermutlich erwirbt er sich daraus eine weitere Belastung seiner Melancholie.

 

   Nimmt man aber als Empfänger eine ›normale Mitte‹ an, den Durchschnittsmenschen, den zeitgenössischen Demokraten, so kontrastiert die Breite des aufnehmenden Publikums unüberbrückbar mit der Enge und Konzentration der Form. Nur ein willfähriges Breittreten und Vergröbern könnte hier helfen. Merkwürdigerweise aber drängt gerade umgekehrt ein gewisses Etwas, nenne man es Selbsterhaltung, Zwang oder Vorsehung zu immer schärferem Erfassen des Substanziellen, zu einer thesenhaft gesteigerten Abgrenzung.

 

   In den romanischen Ländern wird dies vielleicht weniger empfunden. Dort vermag sich noch immer der Romancier großen Stiles mit deskriptiven Mitteln zu behaupten, ohne auf eine exemplarische Gestaltung verzichten zu müssen. Das deutet auf das Vorhandensein eines traditionellen Gefüges, an das sich anknüpfen läßt; auf eine tragfähige Wirklichkeitsschicht, trotz aller Risse und Sprünge. In Deutschland ist das Problem brennender. Hier war der Geist zuletzt vielleicht wirklich nur noch als ›ideologischer Überbau‹ vorhanden, und dieser Überbau ist brüchig geworden. Neue ungefüge Gesellschaftsschichten brechen hervor, oder sie werden mit einer gleich unbekümmerten Brutalität unterdrückt. Die neuen Schichten haben wenig Sinn für Kunst und Finesse; für Distanz und Geschmack; für eine den errungenen Besitz verteidigende Lebensart.

 

   Der Künstler, der auf Überlieferungen angewiesen ist, erscheint den Ankömmlingen als Romantiker, wenn nicht als ein verstiegener Narr. Er selber neigt dazu, sich unsicher zu empfinden. Entweder er selber hat, gleich Trofimowitsch in den ›Dämonen‹, die rohere Indifferenz gezüchtet, oder er geht, nach einigem Schwanken, mit Haut und Haar zu ihr über. Widersteht er aber und gibt sich Rechenschaft, so fühlt er sich zwischen zwei auseinanderstrebenden Motiven torturiert: zwischen einem traditionellen Erbe von Sitte, Schulung, Stil und Adel, und einem ringsum widerlich flutenden Triebleben, dem er bald mit einer Überbetonung des Ideals, bald mit einer Besinnung auf seine eigenen höhnischen Triebe zu antworten genötigt ist. Ein solcher Zwiespalt aber, der überlieferten Vorstellungen und der libidinösen Energie, ist allen Psychopathologen wohl bekannt. Die Termini dafür schwanken, je nach der Heftigkeit und der Dauer des Konfliktes zwischen Zwangsneurose, Hysterie, depressivem Irrsein und Dementia praecox. Mit anderen Worten: Das romantische Problem erweitert sich zu einem pathologischen.

 

V

 

Einige Worte über Romantik.

 

   Man hat, in der Absicht, den Sinn des zeitgenössischen Bürgertums zu ermitteln, vielfache Anstrengung aufgewandt, den Geist der Romantik zu definieren. Der weitaus stärkste Versuch dieser Art war derjenige des Bonner Professors Carl Schmitt (›Politische Romantik‹, 1919). Die Problemstellung dieser Schrift bezog ihre Schärfe aus dem Gegensatze des denkbar unpolitischsten Themas. Schmitt suchte die Romantik aufzuräumen, indem er, ausgehend von Adam Müller, einen ideologischen Bogen nach rückwärts spannte bis zu Malebranche. Einen säkularisierten Gnadenbegriff der Descartesschule, den Okkasionalismus reklamierte er als das bestimmende Element. Indem er den schwächsten Punkt der Romantik, ihre Politik, angriff und die Romantik auf staatliche Normen bezog, hatte er leichtes Spiel, eine dilettantische Wertverwirrung aufzuzeigen. Sein Argument aber blieb eine Konstruktion; denn auch Goethe wäre dann, eignem Geständnis zufolge, Okkasionalist gewesen; das Gelegenheitsgedicht hielt der Herr Geheimrat für die erfreulichste Gattung der Lyrik.

 

   Ex contrario könnte man sagen, daß die Romantik politisch nicht begriffen werden kann, weil sie gerade politisch nicht begriffen werden will; weil sie der Politik vorsätzlich widerstrebt. Die Bemühungen Adam Müllers haben einen ganz anderen Sinn als denjenigen, politische Normen zu setzen. Sie sind eher ein Versuch, die Politik durch Romantisierung aufzuheben. Wenn er sich dabei auf einige strengere Restaurationsphilosophen berief – als Feudalherren waren De Bonald und De Maistre doch gleichfalls Romantiker –, so war dies vielleicht nicht einmal ein Mißverständnis.

 

   Auch zeitlich kann man die Romantik nicht aus dem Barock ableiten. Des Cervantes Roman ›El ingenioso hidalgo Don Quijote‹ enthält reichlich ein halbes Jahrhundert vor Malebranche das vollständige Programm der Romantik; ihren Geist, ihren Stil, ihren Okkasionalismus absurder Wortspiele und Antithesen: ihre ganze unreale und widersprechende Denkart; vor allem aber, wie sich dies schon im spanischen Titel kundtut, ihre Genielehre.

 

   Nach Oscar Wilde umfaßt die Romantik »alle ernsthaften und tieferen Bestrebungen der Kunst seit dem Mittelalter«; seit also dem innerhalb und außerhalb der Kirche beginnenden Positivismus. Dies scheint mir der Sache näher zu kommen und würde letzten Endes besagen, daß alles außerkirchliche, prinzipielle Leben ein irrer Roman, ein Abenteuer ist, oder in ein solches mündet. Mit der Renaissance und ihren ingeniösen Entdeckungen, die man auch auf die innere Welt bezog, entsteht die Romantik und teilt sich der geistige Strom. In den Dichtwerken gestaltet sich eine phantastische, in den Systemen eine abstrakte Weltgesetzlichkeit, die schließlich einander sogar bekämpfen. Europa zerfällt, soweit es sich von der Kirche entfernt hat, in Intellekt und Vision. Insofern aber der Künstler als Visionär stets an ein Urbild gefesselt bleibt, streben die romantischen Geister aus dem Abfall zur Kirche zurück; betonen sie ihre genialische Weihe desto entschiedener, je unannehmbarer und gottverlassener sie den Alltag empfinden. Ihr Gegensatz als Hüter der illusionären und generösen Denkart führt sie zur Blague, zur Pose, zur blutigen Paradoxie. In der Bewegung des Dandyismus wird dies besonders deutlich.

 

   Verzweifelte Versuche zielen jetzt darauf ab, die delikate Situation zu durchbrechen und der verwünschten Hypokrisie einen Zugang zur Wirklichkeit zu erzwingen. Ein Wüten beginnt wider die eigene suspekte Natur, wider das edlere, als Romantik empfundene Gewissen. Man sucht sich in Einklang zu setzen mit einer Triebwelt, deren Häßlichkeit ausgekostet und exaltiert wird, wie vorher der Traum und die Seligkeit. Wo man, den Romantizismus verwerfend, sich in die libidinöse Hölle versenkt, überschreitet man ebenso alles Maß wie auf der anderen Seite im Ideal. Byron entdeckt das ›Dämonische‹ und verherrlicht den Luzifer. Baudelaire, der Dichter des ›Albatros‹, stürzt sich in Opiumräusche und in exotische Laster. Wilde liebäugelt mit Homosexuellen und rüden Apachen. Nietzsche, den dithyrambischen Thyrsosschwinger, widerlegt die ›blonde Bestie‹. Freud, der sich eben in seiner ›Traumdeutung‹ noch als enttäuschten Beglücker und Philanthropen bekannte, lehrt die Inzestphantasie und die polymorphe Perversität auf dem Grunde der Kinderpsyche.

 

VI

 

Doch nicht nur der künstlerische, der kontemplative Mensch, zeigt diesen Konflikt. Denselben Anblick bietet der ›Normale‹ und zwar in dem Maße, in dem die Romantik zu einer Angelegenheit des Bürgertums überhaupt geworden ist. Die Symptome davon begegnen immer häufiger; ja sie treten im Alltag naiver, direkter, flagranter auf. Ein allgemeines Ideal scheint in Scherben gegangen zu sein; ein hohes, selbstloses, zärtliches Ideal. Je weniger dies empfunden und bewußt wird, desto schwerer gestaltet sich die Neurose. Jeder gehe seinen Bekanntenkreis durch und staune über die Fülle von unerklärlichen Gereiztheiten und Bindungen; über die Zerwürfnisse in Ehen und Geschäften; über alle die Ausbrüche, Selbstmorde, Melancholien und Tränen.

 

   Im einzelnen spielt sich dasselbe Erlebnis ab wie im Künstler. Dieser ist als Medium nur früher und komplizierter davon betroffen. Auf die strengere Beobachtung seiner selbst und der Umwelt verwiesen, ist er empfindsamer und rascher bereit, die Dinge auf sich zu beziehen. Aber es ist ihm ein Palliativ geblieben: er verfügt über die Kraft, seine Erlebnisse abzustoßen. Er scheint die Richtung zu geben, Modekrankheiten einzuführen, und ist doch nur sensibelster und darum erster Empfänger und Künder von Schicksalen, deren Lenkung durchaus nicht bei ihm liegt.

 

   Die Neurose einer ganzen Epoche läßt sich kaum mehr verhehlen. Da der Begriff der Realität erschüttert ist, sucht die vertriebene Anpassung in den seltsamsten und zufälligsten Bindungen nach Ersatz. Was vor kurzem noch das Problem einzelner Exponenten war, ist heute das Problem ganzer Gesellschaftskreise. Zwischen scheu verschwiegenen, weltfremden Erwartungen und einem rücksichtslos und erschreckend vorhandenen Trieb, der sich trotz aller Verdrängung zur Geltung bringt, zwischen diesen beiden Extremen schwankt das Leben. Einer erhofft vom andern Stütze, Klarheit, Beruhigung, und jeder muß doch die Erfahrung machen, daß er selber der Hilfe und Sorgfalt dringend bedürftig ist. Man hat die häufige Beichte als Korrektiv genannt. Man hätte, für akute Fälle, auf den Exorzismus verweisen können. Es hat aber mit beiden Institutionen in diesem besonderen Falle seine eigene Bewandtnis. Gerade in Rom versicherten mir Priester, Beichtkinder zu haben, mit denen sie, ›einfach nichts anfangen‹ könnten; deren Zuständen und Konflikten sie auskunftslos gegenüberstünden. Was nützt der beste Wille, zu bekennen, wenn das erregende Moment sich dem Bewußtsein entzieht? Wenn die Verstrickung bereits zu Zwangsideen oder zur Hysterie gediehen ist? Der Beichtende wird sich vieler Dinge anklagen, aber das wesentliche Erlebnis, dessen Vortrag ihn befreien könnte, entzieht sich der Erfassung. Dazu kommt, daß nur auf dem Lande und in kleineren Städten noch jene vollkommene Bindung an die Kirche zu finden ist, die von Anfang an einer Verstrickung des einzelnen und der Gesamtheit vorbeugt.

 

   Der Exorzismus aber, den die Aufklärung lächerlich zu machen versuchte, und der bei einer weitgehenden Rationalisierung des modernen Klerus auf Schwierigkeiten bei den Priestern selber stößt, der Exorzismus setzt, wenn er wirksam werden soll, eine noch innigere Hingabe an die Kirche voraus als sogar die Beichte. Mit dem Exorzismus sind Exerzitien verbunden, deren Sinn bei den klassischen Theoretikern der ist, die reine Glaubenskraft zu stärken und den Kranken ganz der gebietenden Person des Exorzisten zu unterstellen. Mit anderen Worten: Der Exorzistat setzt die ideelle Herrschaft der Kirche und die absolute Anerkennung dieser Herrschaft voraus. Aus der Frühzeit des Christentums wird zwar berichtet, daß sich der Exorzismus als Gnadengabe oft auch an Heiden wirksam erwies. Es ist aber unentschieden, ob es sich hierbei um Katechumenen handelte, die im Begriffe der Konversion standen, oder um Heilung völlig Ungläubiger, wie sie der Evangelist schon erwähnt.

 

VII

 

In einem merkwürdigen Parallelismus der Situation und ihrer Bedürfnisse hat unsere Zeit den Therapeuten, den Seelenarzt wieder entdeckt. Das Wort hat einstweilen noch einen etwas anderen Sinn, als es ihn etwa im ersten Jahrhundert hatte; doch horchen wir immerhin auf, wenn Philo in seiner Schrift vom ›Beschaulichen Leben‹ über den Namen der Therapeuten folgende Auskunft gibt: »teoapentai oder teoapentoides heißen sie, entweder weil sie sich zu einer ärztlichen Kunst bekennen, welche die Seele von den durch die Leidenschaften verursachten Krankheiten befreit, oder weil sie von der Natur und den heiligen Schriften gelernt haben, Gott als die Realität zu verehren, die besser ist als das Gute, einfacher als das Eine und ursprünglicher als die Einheit.« Man hat nach ägyptischen Denkmälern den Namen der Therapeuten einfach als ›Gottesfreunde‹ interpretieren wollen. Der Widerspruch aber läßt sich dahin lösen, daß offenbar Arzt und Priester institutionell noch nicht geschieden waren, wenigstens in Fragen der seelischen Erkrankung.

 

   Gab es schon dazumal eine Psychoanalyse? Es scheint fast so. In den Eingangskapiteln der Apokalypse finden sich Worte, die auf ein Wissen um ›Tiefenpsychologie‹ sehr wohl schließen lassen; ebenso in gnostischen Texten, wie naturgemäß in jeder theologischen Literatur, die von Anfängen und Paradiesen, von Auflösung und Wiedergeburt handelt. Die seelischen Erkrankungen zur Zeit der hellenistischen sotho-Erwartungen erwecken den Eindruck einer weit verbreiteten Epidemie. Das Evangelium des heiligen Lukas birgt eine vollständige exorzistische Lehre. Nach Palladius hatten die ägyptischen Mönche mannigfache therapeutische Theorien. Zu Antonius Abbas bringt man seelisch Erkrankte, die nicht er selbst, sondern nur sein Mitbruder Paulus, seiner größeren ›Einfalt‹ wegen, heilen kann. Gregor von Nyssa spricht von der heimlichsten, innersten Krankheit, die zur Zeit Christi hervorgetreten, um im umfassendsten Sinne geheilt zu werden. Bruchstücke einer Libidotheorie finden sich bei jedem einzelnen der großen Asketen. Der heilige Theodosius, Erzvater der Mönche, erbaute sogar ein eigenes Krankenhaus für Einsiedler, ›die sich in die Wüste ohne besonderen göttlichen Befehl zurückgezogen hatten und da die Strafe ihres Stolzes, entweder durch Beraubung ihrer Sinne oder dadurch, daß sie vom Teufel besessen wurden, büßen mußten‹.

 

   Heute geben die Erfolge der analytischen Neurosenlehre ein ungeschminktes Bild der seelischen Situation. Man mag entsetzt sein, wenn man die Schriften der Freud, Adler, Rank, Ferenczi und vieler anderer liest; die Literatur ist bereits unübersehbar. Man wird aber gestehen müssen, so ist unsere Zeit, und wäre sie schließlich nur in den Theorien dieser Männer vorhanden.

 

   Die Methode des zeitgenössischen Therapeuten ist bekannt und oftmals dargestellt. Von der Annahme ausgehend, daß unbearbeitete, aber zur Einheit drängende Teilkräfte der Psyche vom Ich des Patienten abgelehnt und in ein hypothetisches ›Unbewußtes‹ verdrängt wurden, zielt die Kunst des Arztes darauf ab, die verurteilten Triebregungen aufzuspüren und sie bewußt zu machen. Dies geschieht, indem ihnen der Analysator zunächst zum Bilde (Traum, Symbol) und dann zum bindenden Worte verhilft. Die Anerkennung der verdrängten Wünsche kommt ihrer Aufnahme in das reale Weltbild des Erkrankten gleich. Die Beruhigung und endliche Heilung erfolgt durch die Herstellung einer vorher gespaltenen seelischen Einheit. Das Wesentliche dabei ist, daß das Gewissen des Leidenden, sein Ideal, sein Ich, seine überkommenen Anschauungen von Erlaubt und Unerlaubt, von Schönheit, Sitte und Recht gewöhnt werden, Tatsachen anzuerkennen, die vor der ärztlichen Behandlung als für ihren Träger unannehmbare phantastische Zumutungen abgelehnt und ins Unbewußte verwiesen waren. Da es sich meist um häßliche, abnorme, primitive und darum schreckende Vorstellungen des infantilen Trieblebens und der Pubertätszeit handelt, so ist der Arzt zugleich darauf bedacht, die romantischen Ansichten des Patienten herabzustimmen; sein Wissen um Leib und Seele reicher, tiefer, sachlicher zu gestalten und dadurch seinen Widerstand zu stärken.

 

   Ähnliches versucht – und damit komme ich zum Thema zurück – der neuere Künstler, der damit sehr in die Nähe des Arztes rückt. Die Kunsttheorien der letzten Jahrzehnte, so verschlungen und wirr sie sich geben mögen, haben doch das eine gemeinsam, daß sie entschiedener als je eine Zeit vorher der Beschwörung innerer Konflikte dienen. Die unbekannt drohende Macht soll entladen und gefesselt, die getrennten seelischen Vermögen sollen gesammelt und in einem neuen Weltbilde vorgestellt werden. Der Künstler sucht das erschütterte Fundament zu sichern, indem er den innersten Phantasieraum abtastet und dabei auf die Grundformen der Anschauung stößt. Das konstituierende Element der Erscheinungen und damit alles Unheimliche der Traumwelt, doch auch ihr Gesetz – das letzte der Imagination erreichbare Gefängnis der Seele soll erfaßt und sichtbar werden. Mit dem Berufstherapeuten verglichen, vermag der Maler ganz anders die verdrängten Vorstellungen wachzurufen und im Symbole zu bannen, als der doch im ganzen auf seine Ratio und einen abstrakten Eingriff in den Mechanismus der Krankheit hingewiesene Arzt. Und ebenso vermag der Dichter, dank seiner Intuition und seines Wortschatzes, ganz anders alle Besetzungen der libidinösen und der romantischen Irrwege aufzustören und dingfest zu machen, als abermals der Arzt, der nur in seltenen Fällen und nicht ex officio über die Sprache verfügt.

 

   Und also, um zusammenzufassen: die Kunst unserer Zeit ist therapeutisch bemüht, den Konflikt zwischen Dämon und Ich zu lösen. Sie treibt zu diesem Zwecke eine Analyse ihrer Stilmittel, die an die magischen Experimente der Alchimie gemahnt. Sie sucht eine Synthese, die die sublimsten Errungenschaften einer Überkultur und die verborgensten Leiden der inneren Nacht in ihre Form einbezieht. Niemals ist eine Epoche dem Künstler günstiger gewesen, was die Notwendigkeit und den direkten, praktischen, den sanitären Nutzen seiner Kunst betrifft. Niemals aber war der Künstler auch so grausam in sein eigenes Selbst zurückverwiesen.

 

VIII

 

Bezeichnend ist ein jüngst erschienenes Werk, betitelt ›Bildnerei der Geisteskranken‹ (Berlin 1923). Der Verfasser, Hans Prinzhorn, ein Nervenarzt, erweist an einer Auswahl von 187 zum Teil farbigen Abbildungen aus der Sammlung der psychiatrischen Klinik Heidelberg die auffallende Verwandtschaft notorisch schizophrener Kunstübung sowohl mit der Gestaltungsart der Kinder und der Primitiven, wie mit gewissen Stilelementen bei Brueghel, Bosch, Kubin und in der Miniaturenmalerei. Der Verfasser weiß, daß die Aufstellung eines neuen Normbegriffes des Menschen nötig wäre, um seiner Publikation und der modernen Kunst überhaupt ihren Rang anzuweisen. Er verhehlt sich nicht, daß die Beziehungen »zwischen dem Weltgefühl des Schaffenden und des Geisteskranken« erst auf dem Boden einer Metaphysik der Gestaltung zum Austrag zu bringen wären, daß aber dazu erst in jüngster Zeit die Bausteine zusammengetragen werden. So muß er sich darauf beschränken, einen ›Beitrag zu einer künftigen Psychologie der Gestaltung‹ zu geben.

 

   Prinzhorn versucht also keineswegs, die Kunst der Geisteskranken zu verstehen; er begnügt sich mit einer diskursiven Darstellung der schizophrenen Ausdrucksmittel (Spieltrieb, Schmucktrieb, Ordnungstendenz, Nachahmungstrieb, Symbolbedürfnis, Anschauungsbild, Physio- und Ideoplastik). Das eigentliche Formproblem fehlt; es sei denn, daß der Verfasser gelegentlich auf die beiden Komponenten des schizophrenen Konfliktes verweist, wobei atavistische (Sexual-)Triebe und die verletzlichsten kirchlichen Vorstellungen gleichermaßen als Quellen des Symbolschatzes erscheinen. Begreiflicherweise; denn auf der Versöhnung dieser beiden Komponenten beruht ja der Versuch des schizophrenen Künstlers, sich selbst zu heilen.

 

   Dem weitaus größten Teil des beigebrachten Materials kann man das Prädikat einer einprägsamen Leistung nicht versagen. Gewisse Plastiken Karl Brendels würden sich in einer Ausstellung von Primitiven nicht unterscheiden. Die Heiligenmalereien Moogs, wenn sie als Glasfenster eines frühmittelalterlichen Domes erschienen, stünden weder nach ihrer Leuchtkraft noch nach ihrer Raumaufteilung hinter manchem Meisterwerk zurück. Nach einem sehr gründlich durchgeführten Versuch, eine spezifisch irre Note dieser Bildwerke aufzufinden, muß der Herausgeber gestehen: ein Unterschied zwischen dieser und der Kunst unserer Zeit ergebe sich nur darin, daß die eine ihre seelischen Einstellungen bewußt erstrebt, während bei der andern die gleichen Resultate zwangsläufig auftreten.

 

   Hier wie dort führt der Zerfall des traditionellen Weltbildes, führt die Abkehr von der Wirklichkeit zu dem Bedürfnis, die gespaltene (schizophrene) Seele vermittels beschwörender Symbole, durch eine Vereinheitlichung der unter- und der überweltlichen Sphäre zu beruhigen. Der Geisteskranke kann dabei sogar als mystische Avantgarde gelten. Er hat den ›Vorteil‹, den ihm jeder Künstler neidet: in den Mutterschoß der Dinge eingekehrt zu sein, und seine wachen Sinne sind ihm doch geblieben. Er lebt in einer Welt direkter Wahrnehmung, in der die Wesen ihren inneren, unbeschwerten Lebgeist zeigen, und er kann, bestürzt, das Unerhörte doch noch fassen. Seltsam genug, daß er in seiner anonymen Abgeschiedenheit zu ähnlichem Gestalten kommt wie der bewußte Künstler. Wundersam aber ist es, daß eine Art tieferer Ratio nicht einmal von der Geisteskrankheit erreicht und zerstört wird; ja diese Ratio nimmt bei fortschreitendem Verfall der Sprach- und Deutfähigkeit eher noch zu.

 

   So scheint mir dieses Buch von mehrfacher Bedeutung. Es bezeichnet den Wendepunkt zweier Epochen. Der Kranke belehrt die Gesunden. Kunst und Künstler haben das Höchstmaß ihrer Leiden erreicht. Der Kranke tröstet den Gesunden als den noch nicht der Dissoziierung Verfallenen, aber mit ihr Kämpfenden. Er tröstet ihn, indem er eine Einheit der Anschauungsformen in der fernsten Totemvorstellung des Wilden und den letzten Verwirrungen einer übervölkerten Kultur erweist. Er tröstet den Künstler, indem er zeigt, daß die intellektuelle Katastrophe den Kunst- (oder Heilungs-) Prozeß nicht zu stören vermag, sondern ihn fördert; daß also aller Voraussicht nach bei einer Verschärfung der jetzigen Situation die letzte Fackel der Menschheit, die Kunst, nicht verlöschen wird, fänden die Künstler sich auch in den Sanatorien wieder.

 

IX

 

Doch es ist an der Zeit, die therapeutische Ästhetik selbst ein wenig näher ins Auge zu fassen. Wenn Otto Rank in einer eindringlichen Studie ›Der Künstler‹ (Wien und Leipzig 1918) Recht behielte, würde der Künstler demnächst entbehrlich werden, weil, seine nur ärztliche Funktion vorausgesetzt, jeder sein eigener Künstler und Therapeut zu werden vermag. Das aber hieße annehmen, daß der entrollte Konflikt nicht eine Zeitkrankheit, sondern ein chronisches Leiden der Menschheit sei; hieße die Meinung verwerfen, daß es sich nur um ein Durchgangsstadium handeln kann.

 

   Massenerkrankungen hat jedes Zeitalter gekannt. Der Begriff der Krankheit aber setzt doch wohl voraus, daß es eine Gesundheit, eine Norm gebe, an der die Erkrankung meßbar wird, oder daß eine solche Norm zum wenigsten denkbar ist und von einem unberührt gebliebenen, gesunden Punkte des erkrankten Organismus aus behauptet und erwirkt wird. Wie immer es sich damit verhalten mag: heute ist eine solche Norm und Gesundheit nicht sichtbar, oder zum wenigsten nicht glaubhaft zu machen. Der Normbegriff ganzer Jahrhunderte ist erschüttert und eine neue Stabilisierung erst im Werden.

 

   Es könnte sich eines Tages jedoch ergeben, daß sich der Schwerpunkt unserer Interessen verschiebt; daß wir den Blick, statt nach unten, nach oben richten und dadurch den höllischen Qualen entgehen. Der Zwiespalt zwischen den rohen libidinösen und den heftig widerstreitenden religiösen Trieben, als dessen Folge wir die Erkrankung kennenlernten, könnte seine Glut in dem Augenblick verlieren, in dem die transzendente Schicht nach dem Vorbilde der Exorzisten eine Stärkung, statt nach dem Vorbilde der Psychoanalytiker eine Schwächung erfährt. Es könnte sich ergeben, daß es sich bei der Erkrankung unserer Zeit um einen Einbruch dämonologisch begreifbarer Mächte handelt; um einen Zustand also, für den rigorosere Zeiten den Ausdruck der Besessenheit verwandten. Eine gewisse Willkür in der Deutung der Konflikte und schon in der therapeutischen Theorie, der Mangel eines jenseitigen Standpunktes, wie er aller ›rein psychologischen‹ Betrachtungsweise eignet, all dies läßt auf Widersprüche innerhalb der heutigen Ansichten und darum auf Vorläufigkeit schließen. Die Kunst der Ärzte selber entbehrt jener Einheit und Eindeutigkeit, die sie erzielen will und ohne die keine Heilung von Dauer bestehen kann.

 

   Prinzhorn zum Beispiel vergißt, uns zu sagen, was er unter einem ›Geisteskranken‹ versteht. Vielleicht ist ein großer Teil der anonymen Künstler, die er vorführt, zwar krank und Insasse des Irrenhauses, aber durchaus nicht geisteskrank. Die Psychoanalytiker ihrerseits unterlassen, eine klärliche Definition der ›Psyche‹ zu geben, nach der sie sich doch nennen; sie geben gemeinhin nur Definitionen der Libido und der Triebe, des Ich und des Über-Ich, und auch hierin widersprechen sie sich untereinander und in sich selbst. Geist und Seele werden in fast der gesamten modernen Psychiatrie ununterbrochen willkürlich vertauscht. Zwei verschiedenen Namen müssen aber zwei verschiedene Sachverhalte zugrunde liegen. Der Konflikt zwischen Soma und Psyche steht im Vordergrund der Debatte; wie der Geist indessen zu definieren und gegen Soma und Psyche abzugrenzen sei, bleibt unklar.

 

   Es muß befremden, daß die moderne Therapie die religiösen Fakten und die kirchliche Welt noch immer nur kausal und nach Gesichtspunkten der Psychophysik betrachtet; daß ihr der Mensch, und meist sogar nur der sexuelle, das Maß aller Dinge ist. Dem Arzte, der den Körper behandelt, ist das erlaubt; dem Seelenarzte sollte es verboten sein. Ähnliches läßt sich von den Theorien der Künstler und Ästheten sagen. Sie sprechen von Intuition und Inspiration und unterlassen doch die Frage, wer oder was inspiriert und in welche Gebiete des Lebens ihre Intuition reicht, welch andere Gebiete ihrem Formgewissen aber verschlossen bleiben.

 

   Bedenklich muß schließlich stimmen, daß beispielsweise die führende Zeitschrift der Analytiker ›Imago‹ und nicht etwa ›Logos‹ heißt, und daß man zwar ein Werk vorlegen konnte, das die bildnerische, die imaginative Kraft der Schizophrenen erweist, nicht aber eines, das gleicherweise ihre sprachliche, philosophische oder gar theologische Kunstbefähigung zu belegen vermöchte. Gibt es verschieden zu bewertende Gestaltungsvermögen? In welchem Rangverhältnis steht die Malerei zur Dichtkunst und das Bild zum Worte? All dies sind Fragen, zu deren Beantwortung es einer oder sogar mehrerer Generationen bedürfen wird. Der einzelne kann nur versuchen, die Problematik aufzuzeigen und zu ihrer Bewältigung einzuladen.

 

X

 

Der Verfasser weiß, so sagte ich gelegentlich des Buches von Prinzhorn, daß die Aufstellung eines neuen Normbegriffes des Menschen nötig wäre, um seiner Publikation und der neuen Kunst überhaupt ihren Rang anzuweisen. Das ist ein Satz, der nachdenklich stimmt. Von welchem Normbegriffe geht die heutige Ästhetik und gehen, nachdem wir eine merkwürdige Verwandtschaft zwischen Arzt und Künstler festgestellt haben, die Seelenärzte, die Psychiater, aus? Aus der Fülle der Publikationen greife ich eine in Aschaffenburgs ›Handbuch der Psychiatrie‹ erschienene Schrift von Kurt Schneider (›Die psychopathischen Persönlichkeiten‹, Verlag Deuticke, Leipzig 1923). Seite 8 lese ich, daß der Künstler, »in dem später festzulegenden scharfen Sinne Psychopath sein muß«. Das Überdurchschnittliche sei mit dem Abnormen identisch. Man beginne, der Abartung nach oben wieder mehr Verständnis entgegenzubringen. Diese Psychopathen seien das Salz der Erde. »Wir halten uns«, so heißt es dann weiter, »an den quantitativen Normbegriff«. Wir, das heißt die Mehrzahl der zeitgenössischen Seelenärzte. Nach dem Juristen Mezger muß man »jede Abweichung vom tatsächlichen Normaltypus, jede Abnormität, naturwissenschaftlich als krankhaft, als pathologisch ansprechen«. Bei Moebius heißt Kranksein »schädlich, unerwünscht, minderwertig sein«. Für Schneider sind Psychopathen »solche abnorme Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden, oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet« (S. 16). Welche überragende Persönlichkeit leidet aber nicht an sich selbst, und an welcher solchen Persönlichkeit ›leidet‹ nicht die Gesellschaft? Es ist die Gefahr, daß das Leiden überhaupt als abnorm, als psychopathisch empfunden wird.

 

   Zugegeben, daß sich der Durchschnittskliniker an eine quantitative, nach der Beschaffenheit der Majorität orientierte Norm halten muß. Nur sollten Theorie und Praxis dann auf den Durchschnitt beschränkt bleiben, einzig diejenigen Fälle umfassend, die der materiellen Norm entsprechen. Es gibt aber, wie Schneider selbst erwähnt, noch einen zweiten, teleologischen, einen Wertbegriff der Norm. Kant etwa hat zwei Arten der Norm unterschieden: nämlich die ›Normalidee‹, ein Gesamtbild der Gattung, eine Mitte zwischen Maximum und Minimum der Erfahrungstypen. Und im Gegensatze dazu den Idealtypus, die ›Vernunftidee‹. Es handelt sich bei ihr nicht mehr ums Durchschnittliche, Materielle, sondern ums Vorbildliche. Abnorm ist hier, was der Zweckerfüllung widerspricht; was in der biologischen Sphäre der Lebenserhaltung und Lebensförderung widerstreitet, und in der psychologischen Sphäre der Betätigung der Vernunft. Begriffe wie wahr, schön, gut erhalten erst damit ihren Sinn. – Was bei diesem zweiten Normbegriff überrascht, ist die Gleichsetzung von Psyche und Raison. Sie entstammt einer Zeit, in der man nur eine ›Vernunftseele‹ wollte gelten lassen, die ihren Endzweck individuell in sich selbst oder kollektiv im Staate findet. Das Irrationale gilt hier als abnorm und dem Psychiater für pathologisch, gleichviel, ob es der unter- oder der überbewußten, ob es der un- oder übervernünftigen Sphäre entstammt. Man weiß, daß Kant vor dieser Konsequenz nicht zurückschreckte, indem er das Gebet eine »leichte Anwandlung von Irrsinn« nannte.

 

   Neben der biologischen und der psychologischen Sphäre findet sich indessen noch ein dritter Erfahrungsbereich, den ich den pneumatischen nennen möchte. Sein ›Zweck‹ ist die Gottesliebe; seine Phänomene gehören der heiligen Sphäre an. Es gibt drei Normen: Leib, Seele und Geist. Es gibt drei Reihen von Tatsachen, drei Lebensweisen, drei wissenschaftliche Typen, deren Bereiche, wie sehr sie einander durchdringen mögen, doch auseinandergehalten und getrennt betrachtet werden können. Die Gnostiker sprachen von Soma, Psyche und Pneuma, das Mittelalter von körperlichen, seelischen und geistigen Tatsachen. Mercier in seiner ›Psychologie‹ (deutsch bei Kösel, München 1906) nennt ›Materie, Leben und Göttlichkeit‹. Von diesen drei Reichen, denen man zu allen Zeiten und unter den verschiedensten Namen begegnet, hat jedes sein Sondergesetz, und es gibt Typen, die jeder einzelnen Normalsphäre in Reinkultur angehören. Doch läßt sich auch ein menschlicher Typus der Mitte denken, der mit gleicher Neigung und gleichen Bezügen jedem einzelnen der drei Bezirke angehört und sie in sich zusammenschließt. Dieser Typus, der Psychiker, der Künstler, könnte als die Norm des Menschen gelten; der Künstler nämlich seiner selbst, die Persönlichkeit. Es bedarf nur eines Blickes in die Literatur, um zu erkennen, daß unsere Zeit die Kantsche Gleichung von Psyche und Raison verwirft; daß sie die psychische Sphäre mit neuen Inhalten und Funktionen zu erfüllen sucht und sich dabei aller Vermengung von Seele und Geist widersetzt, freilich, ohne den Geist und die Vernunft sehr anders als nach kantischer Weise zu definieren. Bei einer Erweiterung der biologischen Welt nach der Tiefe hin stieß man auf Tatsachen, die immer dringender nach Abgrenzung verlangen. So steht man vor der Entscheidung, ob man auf die Begriffswelt ganz verzichten oder den Ausweg gehen will, sie dem Heiligen und der Kirche zuzuweisen.

 

XI

 

Um zunächst beim Somatischen zu bleiben: eine unbeseelte Welt der Sachen und Kräfte, wenn sie im Menschenbereiche sich denken ließe, wäre eine Welt des Chaos, des Todes und der Atome. Die Bestreitung der Seele, der konsequente Materialismus, ließe sich im Denkbezirke nicht einmal geltend machen, weil der sprachliche Ausdruck, auch in der primitivsten Gestalt, auf Einheiten angewiesen ist, die die Seelentätigkeit voraussetzen. Eine animalische Welt ohne Urteile und Vorurteile, eine Welt der puren Beobachtung und somatischen Funktion ist möglich; niemand aber wird behaupten, daß diese Welt ohne Seele ist. Die Seele wird nur nicht sichtbar werden; sie wird verdrängt, vergessen, unbewußt aber vorhanden sein. Die psychische Welt wird heute nicht bestritten, eher wird sie überbetont. Was bestritten wird, ist der dritte Normbereich, der geistige, in seiner Differenz vom seelischen. Läßt sich eine Welt der Dauer, der ewigen Urform aufrechterhalten, und welche Funktion käme ihr hinsichtlich der ihr untergeordneten seelischen Sphäre zu?

 

   Die Psychologie ›naturwissenschaftlich‹ begründen, das hieße nach unserer Dreiteilung eine Norm auf die andere reduzieren, das hieße aus der Psychologie eine Physiologie machen; in der seelischen Therapie aber hieße es die Kompetenz des Arztes überschreiten. Die Norm des Seelenarztes muß innerhalb des psychischen Bereiches liegen, wie unbedingt immer seine Tätigkeit, seine Funktion beiden, der leiblichen und der seelischen Sphäre, zugleich angehört. Wollte der Psychiater seine Therapie nur nach der individuellen somatischen Norm einrichten, was wäre die Folge? Würde er heilsam wirken können, würde er helfen können? Ohne Zweifel gibt es Neurosen, deren Heilung darin besteht, den Kranken seiner ungestörten sozialen Funktion wiederzugewinnen, wobei man sich aber sofort erinnern wird, daß die soziale Norm heute durchaus nicht feststeht, sondern nahezu dem Gutdünken des einzelnen überlassen ist. Die gesellschaftliche Norm richtet sich nach der ästhetischen, die ästhetische sich nach der geistigen. Die geistige Norm aber gilt, wie wir sahen, für erschüttert. Daher kommen ja gerade die Erkrankungen, die Neurosen, des somatischen Menschen, des Bürgers, sowohl wie diejenigen des psychischen Menschen, des Künstlers. Gewiß, ein Instinkt für die Norm wird nie völlig verschwinden, aber der Willkür ist Tür und Tor geöffnet.

 

   Ich sagte, daß es Neurosen geben könne, die der einfache Arzt zu heilen vermag, weil sie nur auf dem Konflikt einer individuell libidinösen Anlage mit der sozialen Umgebung, auf einem Kontrast naiver, aber verstrickter Sexualtriebe mit ›romantischen‹ Anschauungen des Patienten beruhen. Anders verhält es sich, wo den unbearbeiteten libidinösen Energien Verschärfungen aus der typischen und phylogenetischen Sphäre sich anhängen; wo der Kontrast sich nicht auf die somatische Norm, auf die Gesellschaft, sondern auf die typische Sphäre der seelischen Gestalt, auf die Kunst, bezieht. Solche Fälle können keine Heilung erfahren, indem man die überindividuelle, ästhetische Neigung des Patienten als Romantizismus behandelt, wenn auch zugegeben sei, daß das leibliche Wohl Voraussetzung des seelischen ist. Der Psychiater wird über eine gründliche Kenntnis der Gestaltungsneurose, das heißt der Persönlichkeits-, der Kunstprinzipien, verfügen und diese seinen Bemühungen zugrunde legen müssen, wenn ihm die Heilung gelingen soll. Auch die libidinösen Verfänglichkeiten des Künstlers sind andere, graduell tiefere, als die des Bürgers.

 

   Ganz und gar verlegen wird der Therapeut aber sein, wenn ihm, wie vermutungsweise in der Paranoia und der Schizophrenie, Fälle schwerer Besessenheit begegnen, die auf einem Kontrast zwischen der dritten Normsphäre, des Heiligen, der Sakramente und der Welt der Dämonismen bestehen. Die moderne Seelenkunde ist nun wohl in eine Tiefe eingedrungen, in der die dämonischen Mächte zu Hause sind; darin besteht nicht zum wenigsten ihr sensationeller Erfolg. Keineswegs aber entspricht dieser Entdeckung ein ebensolches Wissen um die Kompensation, nämlich um die kirchliche und göttliche Norm, von der aus die Dämonismen allein zu bewältigen sind. In der Freudschen sowohl wie in der Jungschen Therapie bleibt das reichste Bemühen des Arztes der Natursphäre verhaftet. Mitunter nur, und bei Jung mehr als bei Freud, drängen sich Phänomene der ästhetischen und pneumatischen Therapie vor, deren Einordnung Verlegenheit bereitet.

 

   Bezeichnend ist dann bei Freud (›Das Ich und das Es‹, Internat. Psychoanalyt. Verlag, Wien 1923) die Einführung eines Über-Ichs und des Todestriebes, sowie der fragwürdige Versuch, gleich dem Über-Ich das Schuldgefühl individuell zu begründen. Und bezeichnend ist, daß Jung (›Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben‹, Rascher & Co., Zürich 1926) gelegentlich eines Falles von komplizierter Homosexualität einer Künstlerin auf eine ›transzendente Funktion‹, auf einen ›Dämonismus‹ stößt, der ihn hier wie in seinen beiden Hauptwerken zwischen einer individuellen und einer Kollektivlibido zu scheiden nötigt. Die Analyse seiner Patientin, auf Seite 116 bis 146 in aller Ausführlichkeit mitgeteilt, läßt erkennen, daß die Subjektstufe der Analyse mit aller Umsicht durchgeführt wurde, der somatische Normbegriff aber versagte. Schon Agrippa von Nettesheim hat übrigens (›De occulta philosphia‹) zwischen natürlichen und übernatürlichen Träumen und Gesichten unterschieden. »Bileam«, sagt er, »war in der Weisheit der natürlichen Träume so erfahren, daß er sie nach Belieben hervorrufen konnte, weshalb man ihn fälschlich für einen Zauberer hielt, denn die Schrift hält keinen Unterschied, sondern nennt alle Zauberer, die in natürlichen Dingen erfahren und nicht auch heilige Leute gewesen sind.«

 

XII

 

Vorausgesetzt, daß man jedem der Normcharaktere (Bürger, Künstler, Heiliger) eine besondere Persönlichkeit zusprechen darf, so ist jede dieser Persönlichkeiten, von der höchsten begonnen, Vorbild der andern, gemäß der größeren Fülle und Vereinheitlichung ihrer Funktionen und Vermögen. Gleich hierbei wäre zu sagen, daß der Begriff der Persönlichkeit selbst, als Urbild, der höchsten Normsphäre entstammt und innerhalb ihrer garantiert wird. Auch wäre gleich hier zu betonen, daß die Vereinheitlichung, welche die Heilung von Neurosen bewirkt, nichts anderes ist als ein Zusammenschluß vorher entzweiter, verdrängter, belasteter oder verletzter Zweckvermögen zur integralen Person. Dem Arzte, dem Künstler und dem Exorzisten ist es gemeinsam, daß sie den entfesselten Konflikt, der das normhafte Funktionieren der Lebensenergie behindert, daß sie diesen Konflikt durch Wiederherstellung der gestörten Harmonie und Freiheit heilen. Jeder dieser Typen ist dabei auf den speziellen Sinn seines Normbereiches hingewiesen: der Arzt auf die Gesundheit, der Künstler auf die schöne Gestalt, der Heilige auf die Liebe. Was freilich nicht ausschließt, daß die Typen sich kreuzen können: etwa im Seelenarzte, der dann Arzt und Künstler zugleich ist, oder im Exorzisten, der alle drei Normbereiche umfaßt. Am Künstler aber wird das Problem der Persönlichkeit besonders augenfällig und ist hier am leichtesten abzulesen. Er ist der umworbenste Typus, weil alle drei Normbereiche in ihm zusammenfließen und ihre Funktionen in ihm erkennen. In der Mitte stehend, vertritt er den Durchschnittstypus der Norm.

 

   Verharren wir aber ein wenig bei dem Begriff der Persönlichkeit. Es bedarf nicht vieler Worte, um zu erweisen, daß jedermann lebt und eine Seele hat, aber nicht jedermann eine Persönlichkeit ist. Auch das zweite, daß jedermann ein Ich besitzt, aber nicht jedermann eine Persönlichkeit, wird zugestanden. Einer Unterscheidung aber bedarf es zwischen Individuum und Person. Die Individualität ist gleich dem Ich ein Naturbegriff, die Persönlichkeit nicht; Mercier nennt sie den formellen Grund der Individualität. »Daß das mit Vernunft und Freiheit begabte Individuum«, so sagt er (›Psychologie‹, II 316), »in ganz besonderer Weise den vollen Besitz seiner selbst bekundet, das ist der formelle Grund seiner Individualität.« Er scheidet nicht zwischen drei verschiedenen Persönlichkeitstypen, er bestimmt nur allgemein den Begriff der Person, wenn er sie »das Subjekt unverletzbarer Rechte« nennt, wenn er der Person die Attribute ›moralisch‹ und ›juristisch‹ zuweist. Er nennt es etwa »gegen die gesunde Vernunft und das Naturrecht«, wenn man Anspruch darauf erheben wollte, sich des Menschen als eines bloßen Werkzeugs, als einer Sache, res, zu bedienen. Für die menschliche Person charakteristisch erscheint demnach das Recht; das Recht nämlich, unter eigener Verantwortung an der Verwirklichung des Zweckes zu arbeiten, für den sie geschaffen ist. Wir haben nun gesehen, daß es der Zwecke dreie gibt: die Erhaltung des Lebens und der Art in der somatischen und politischen Sphäre; die Gestaltung der materiellen und seelischen Fakten in der künstlerischen; und die Pflege der Gottesliebe in der pneumatischen Sphäre. Alle diese Zwecke der Person aber sind durch das betreffende Gesetz bestimmt: durch das politische Gesetz in der natürlichen Gesellschaft, durch das ästhetische im Bereich der Kunst, durch das kanonische im Bereich der Kirche.

 

   Von welcher Bedeutung die Persönlichkeit gerade für den Künstler ist, das mag ein Beispiel erhärten. Der Künstler hat die Norm der sozialen Welt zu gestalten. Das heißt: er hat die ihm aus der untergeordneten Sphäre entgegenkommenden Materien und Bilder in seinen Phantasieschatz einzutragen und dann mit Mitteln seiner Phantasie und den ihm aus der übergeordneten Sphäre zuströmenden Formelementen ein neues, feineres Gebilde, das Vorbild, den Typus, aufzustellen. Sein Werk aber wird ihm, ohne daß er eine Persönlichkeit, und zwar der sozialen, ästhetischen und der religiösen Sphäre zugleich sei, das heißt über den freien Gebrauch der Mittel aller drei Normsphären verfüge, unmöglich sein. Versucht er, der Natur auf den Grund zu kommen, ohne an die Person des Schöpfers zu glauben, so wird er, je nach dem Vorwalten seines Gefühls oder seines Intellekts, entweder bei einem proteischen Chaos oder bei einer geometrischen Abstraktion sich beruhigen. Sucht er der Natur zu entgehen und im psychischen Bereich zu verbleiben, so wird ein individueller, unverdaulicher Symbolismus die Folge sein. Stößt er aber beim analytischen Teil seiner Aufgabe auf libidinöse Verdrängungen seiner eigenen Psyche, so wird eine Neurose manifest werden, die ihm entweder die Weiterarbeit vereitelt oder deren befremdliche Elemente er in die Gestaltung einbezieht. Prinzip der Gestaltung aber ist immer die Person. Heute, in der Zeit der Zusammenbrüche und der analytischen Vertiefung, sind die Künstlerneurosen an der Tagesordnung. Sie haben keine anderen Gründe als die Fragwürdigkeit der von der übergeordneten Norm gelösten Person des Künstlers selbst. Eine letzte, verzweifelte Möglichkeit bleibt, daß der Künstler, der auf Persönlichkeit nicht verzichten kann, zum Urbild seiner Neurose durchdringt und sich mit ihm identifiziert, also eine dämonische Person annimmt gleich denjenigen, die Jung aufzählt, wenn er davon spricht, daß unser Unbewußtes an der historischen Kollektivpsyche Anteil habe und ›natürlich unbewußt‹ in einer Welt von Werwölfen, Dämonen, Zauberern usw. lebe. Die Malerei, die visionäre Kunst, wimmelt bereits von solchen Gestalten; die Poesie wird ihr folgen.

 

XIII

 

Geht man dem Begriff der Persönlichkeit in der analytischen Theorie selber nach, so begegnen einem Überraschungen. Descartes, der Erfinder des cogito ergo sum und damit der autonomen, rationalen Persönlichkeit, hatte deren Funktion ganz in das Bewußtsein verlegt. Ihm gegenüber betonen die neueren Empiristen eine einfache Zusammensetzung von Bewußtseinszuständen oder von teils bewußten, teils unbewußten Fakten (vgl. Ribot, ›Les maladies de la personnalité‹, Paris 1885). Bei Freud spielt die Persönlichkeit, die mit dem Bewußtsein steht und fällt, kaum mehr eine Rolle. In ›Das Ich und das Es‹ ist von Trieben, vom Ich und vom Über-Ich, vor allem aber vom ›Es‹ die Rede, und dieses Es ist eine unbekannte Größe, ein Libido- und Bilderreservoir von unerschöpflicher Tiefe, das, wenn ich richtig verstanden habe, alle wünschenswerten Persönlichkeiten virtuell in sich enthält und ihre Herausbildung dem Arzte überläßt, je nach dem Normbereich, zu dem er oder sein Patient eine besondere Neigung bekundet. Das Bewußtsein ist »die Oberfläche des seelischen Apparates, d.h. wir haben es einem System als Funktion zugeschrieben, welches räumlich das erste von der Außenwelt her ist«. Das Bewußtsein ist, wie es gleich darauf mit einem Anklang an die Ästhetik heißt, »die wahrnehmende Oberfläche«. In dem seinen Ausführungen beigegebenen Strukturschema (S. 26) trägt das Ich als Anhang ein Es mit sich, das wie ein Sack das Ich-System umgibt. Es ist lustig genug, in kabbalistischen Büchern die entsprechenden psychischen Schemata zu vergleichen. Was dort unendliche über- und unterpersönliche Sphären sind, die die Welt mit Perspektiven und Differenzen erfüllen, ist bei Freud zusammengeschrumpft auf ein simples Ich und ein Es, die beide im natürlichen Individuum beschlossen sind.

 

   Von der Persona in den Werken des andern großen Analytikers, in den Werken C. G. Jungs, war eingangs schon die Rede. Die Frage ist indessen komplizierter, als ich dort andeuten konnte. Jung unterscheidet zwischen Seele und Psyche. »Unter Psyche«, sagt er, »verstehe ich die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge, der bewußten sowohl wie der unbewußten. Unter Seele dagegen verstehe ich einen bestimmten, abgegrenzten Funktionskomplex, den man am besten als eine ›Persönlichkeit‹ charakterisieren könnte« (»Psychologische Typen«, Rascher & Co., Zürich 1921, S. 661ff., Definition 48). Unter Bezug auf Phänomene, wie Persönlichkeitsspaltung, Hypnotismus und Double conscience, setzt Jung sodann Persönlichkeit und Charakter einander völlig gleich (also auch Seele und Charakter), während beispielsweise ein an der Scholastik geschulter Psychologe wie Mercier dem Charakter in strengem Unterschied von der Person nur den Wert einer äußerlichen Symptomatik zumißt. Wenn Jung ferner zur ›Charakterspaltung‹ bemerkt, daß ein solcher Mensch »überhaupt keinen wirklichen Charakter habe, d.h. überhaupt nicht individuell sei, sondern kollektiv«, und wenn dann dieses wieder heißt: »den allgemeinen Umständen, den allgemeinen Erwartungen entsprechend«, dann befinden wir uns mitten in der somatischen Sphäre, und der Begriff der Persönlichkeit verschwindet entweder ganz, oder er sinkt zum proteischen Symptom der Anpassung herab. Der Charakter (die Persönlichkeit, die Seele) ist nach Jung individuell zwar bei jedem Wesen vorhanden, aber unbewußt, unausgeprägt. Durch eine mehr oder weniger vollständige Identifikation mit der jeweiligen ›Einstellung‹ täuscht der Mensch »mindestens die andern, oft auch sich selbst über seinen wirklichen Charakter, er nimmt eine Maske vor... Diese Maske, nämlich die ad hoc vorgenommene Einstellung«, nennt Jung Persona. ›Wer sich mit der Maske identifiziert, den nenne ich persönlich‹. Die Persona ist also »ein Funktionskomplex, der aus Gründen der Anpassung oder der notwendigen Bequemlichkeit zustandegekommen, aber nicht identisch ist mit der Individualität. Der Funktionskomplex der Persona bezieht sich ausschließlich auf das Verhältnis zu den Objekten« (S. 662–664).

 

   Im selben Buche (den ›Psychologischen Typen‹) stellt Jung zwei menschliche Grundcharaktere, zwei Seelentypen, auf: den intro- und den extravertierten Typus, den Typus der nach innen und der nach außen gerichteten Libido. Er bemüht sich, beide Typen aus der Natursphäre zu einer sublimierten (kulturellen) Bedeutung zu erheben. Sein tieferes Bemühen gilt offenbar dem Versuch, den sozialen (extravertierten) und den psychologischen (introvertierten) Normtypus zu ermitteln und beide miteinander in Einklang zu bringen. Die mit großer Gelehrsamkeit geistreich auf bedeutende Dichter, Philosophen und Religionssysteme ausgedehnte Analyse gelangt jedoch nirgends dazu, den ›Charakter‹ über die Maske hinaus zur Persönlichkeit zu erheben und die letztere als Garantie einer Norm erscheinen zu lassen. So bleibt ein großartiges Unternehmen ganz im Proteischen einer Ideenschau stecken. Auf einer Art Synthese der beiden Charaktertypen sollte ein symbolisch-ästhetischer Kulturbegriff begründet werden. Es blieb aber zweifelhaft, nach welchem Maßstabe und Einheitspunkte hin sublimiert werde, es sei denn der allgemeinste der Sublimierung selbst und ihres Bezugs auf die Gesellschaft. Das ist der Geniebegriff der Romantik, und in der Tat steht Nietzsche überall im Mittelpunkte der Betrachtung. De facto aber hat bei gleichgerichteten Versuchen und Voraussetzungen das Leben der Hölderlin, Nietzsche, van Gogh u.a. die Auflösung der Person und das Verschlungenwerden des Individuums durch die Kollektivpsyche ergeben.

 

   Stärker scheint die Persönlichkeit bei einem andern der ersten Freud-Schüler, bei Alfred Adler, zur Geltung zu kommen. Der ›Machttrieb‹ begründet hier die Neurose in einem Konflikt mit der Organminderwertigkeit. Die Person ist indessen bei Adler ganz ähnlich wie bei Jung ein ›Arrangement‹, eine Täuschung, die nur dem Willen entspringt, ›obenauf‹ zu sein. Moral und Tugend dienen nicht selten dazu, nur die Anerkennung der Umwelt zu erzwingen; die Person versucht eine Emanzipation gerade von Minderwertigkeiten moralischer und zuletzt sexuell-organischer Natur; diese versteckte Minderwertigkeit enthüllt sich in der Analyse. – Sosehr von Freuds Grundansichten verschieden ist die Adlersche Methode nicht. Auch sie führt zur Sexualbasis zurück. Die Selbstbehauptung des Individuums, das auch hier nur als Naturtypus betrachtet ist, sein ›Wille zur Macht‹, der sich als ›männlicher Protest‹ in Lebensführung, Charakterbild und Neurose kundgibt, dieser männliche Protest ist nach Freud (›Neurosenlehre‹, Hugo Heller Verlag, Wien 1918, S. 61) nichts anderes als »die von ihrem psychologischen Mechanismus losgelöste Verdrängung«. Man kann dieser Kritik zustimmen; gleichwohl wird man bei Adler wenigstens den Instinkt für die Persönlichkeitsbestrebungen nicht leugnen können. Verkehrt erscheint nur die Konsequenz, die Adler zieht. Statt das natürliche Bestreben des Individuums nach Charakter und Person anzuerkennen und noch in der ›Minderwertigkeit‹ die Norm zu ermitteln, wird der ›Machttrieb‹ als eine Attrappe in die Minderwertigkeit aufgelöst und der natürliche Heilinstinkt des Individuums unterbunden. Die Reduzierung der phantastischen Wege auf die natürliche Anlage mag den Patienten zunächst beruhigen. Sein Ich-Ideal, die Persönlichkeit, wird aber entweder einer noch heftigeren Depression unterworfen, als es bereits der Fall war, oder es wird völlig zerstört. Der Widerstand, den der Patient bei der Analyse entwickelt, ist in dieser Hinsicht sehr begreiflich.

 

   Die Persönlichkeit kommt, das ist das Resultat unserer Untersuchung, in der psychoanalytischen Theorie schlecht weg. Als Somatiker können diese Therapeuten einen nicht naturhaften, sondern metaphysischen Wert, wie die Persönlichkeit ihn darstellt, nicht gelten lassen. Gleichwohl gehört die Störung der Persönlichkeit zu den Ursachen der Neurose, ja sie bedingt vielleicht die Erkrankung. Nur die Integrierung, Wiederherstellung, wenn nicht die Neubildung der Person kann demnach die Neurose heilen; die Beziehung der Symptome auf eine moralische Einheit ist notwendige Voraussetzung, handle es sich um die Therapie des Arztes, des Künstlers oder des Exorzisten. Freilich ist für alle drei Berufe die intime Kenntnis der libidinösen Anlage, vor allem der eigenen Person, Erfordernis. Die Natur hilft sich, sobald die Verstrickung gelöst ist, in den meisten Fällen selbst. In jenen Fällen aber, wo die Normierung nötig wird, wo die Person verletzt, nicht nur verdrängt ist, bedarf es ihrer prinzipiellen Bestärkung, je nach der Normsphäre, der sie angehört, und es scheint dann fraglich, ob das pure Wissen um die Bedingungen und Prinzipien genügt. Der Patient wird ein feines Gefühl dafür haben, ob der Arzt jene Sicherheit der Person besitzt, die der Repräsentation seines Normcharakters entspricht. Es ist kein Zweifel, daß davon vor allem die Schnelligkeit der Heilung abhängt. Es ist bekannt, daß Heilige, wie Bernhard von Clairvaux und viele andere, wo sie als Exorzisten auftraten, eine Besessenheit (Teufelsneurose nach Freud) oft durch ihr pures Auftreten zu heilen vermochten. Der Kranke empfand die Geschlossenheit ihrer heiligen Person so unwiderstehlich, daß er durch einen Anblick allein seinen libidinösen Verstrickungen (der Macht des Teufels) entrissen war.

 

XIV

 

Bot die analytische Theorie für den Begriff der Persönlichkeit nur eine spärliche Ausbeute, so bietet sie dafür, unter dem Aspekt einer Vertiefung des seelischen Mechanismus und der menschlichen Natur, eine Entdeckung, die man vom Normcharakter des Pneumatikers aus nicht anders als dämonologisch begreifen kann. Der Hierarchie der Engel und Priester entspricht eine ›Hierarchie‹ der Dämonen. Den Energiebegriff dieser Schichten nennt die Psychoanalyse ›Libido‹. Das subliminale Seelenleben besteht aus einer vielfachen Stufung von Systemen oder Komplexen, einer Stufung, auf die zuerst Janet und Paulhan hingewiesen haben. Freud in seiner Neurosenlehre nimmt in der Hauptsache drei libidinöse Schichten an: die multiforme Perversion der Kinderlibido, eine Zeit der noch nicht oder überall lokalisierten Sexualkraft; den Narzismus mit seinen homosexuellen Komponenten; und den Inzestkomplex als die erste Übertragung der Libido auf ein männliches oder weibliches Objekt. Es ist nur eine Konstruktion, aber man könnte annehmen, daß jeder dieser drei Libidostufen eine typische Neurose (des Heiligen, des Künstlers, des Bürgers) entspricht, wenn die normale Übertragung und Entwicklung gestört wird. Dann dienen Symbole, Bilder und Träume dazu, verdrängte Libidomengen abzustoßen, d.h. in Fehlleistungen zu sublimieren.

 

   Man entdeckte indessen sehr bald, daß die Träume, Bilder und Symbole nicht nur individuelle, sondern kollektive Bedeutung haben können, daß die Konflikte des Individuums unter gewissen Umständen (je nach der Stärke der Verdrängung und der Introversion) eine phylogenetische Bedeutung annehmen, das heißt, daß die Libido dann ihre Symbole aus der Entwicklungsgeschichte nicht nur des Individuums, sondern des Typus und der Menschheit nimmt. Jung hat (in seinem Buche ›Wandlungen und Symbole der Libido‹, Verlag Deuticke, Leipzig und Wien 1925) es sich vorzüglich angelegen sein lassen, die kollektive Traum- und Symbolwelt zu entfalten. Gleich vielen ihm verwandten Forschern (Rank, Reik, Ricklin, Abraham, Jones) zog er besonders die Dichtung und Mythologie zur Deutung der seelischen Konflikte heran. Alles aber hing nun davon ab, eine neue Symbollehre aufzustellen und die kollektiven Imagines, die das Unbewußte mit sich führt, zu lokalisieren. Auf Jungs großangelegte Interpretation der religiösen und ästhetischen Symbolwelt einzugehen, ist hier nicht der Ort. Der Autor versucht überall, zu den sogenannten Urbildern durchzudringen, wobei ihn eine vollkommene Gleichstellung christlicher, heidnischer und prähistorischer Archetypen leitet. Gerade darauf scheint es ihm anzukommen, die gleichartige Funktion der Libido, ihren transzendenten Mechanismus, aufzufinden, der insofern dem Freudschen nachgebildet ist, als er die typischen Vokabeln des Meisters (Verdrängung, Regression, Übertragung) verwendet. Es blieb Jung nicht verborgen, daß es sich bei der Phylogenese in der Mehrzahl um pneumatische Charaktere handelt, also um genau dasselbe, was der Christ ›Dämonen‹ nennt, und diese christliche Bezeichnung taucht bei Jung oft genug auf. Nur eben betrachtet er das Christentum selber bereits dämonologisch, das heißt als ein leeres, dem Untergang überliefertes System. Das macht ihm die Scheidung von göttlichen und dämonischen Charakteren unmöglich.

 

   Die Schichtengliederung dieses heute aus allen Zonen und Zeiten, aus den Neurosen und dem Infantilleben zuströmenden Materials müßte vollzogen sein, um eine neue Tabelle der Unterwelt, eine moderne hiérarchie infernale, darzustellen. Unsere Psyche trägt nach Jung den Symbolschatz der fernsten, versunkensten Zeiten noch in sich, noch immer jene ungeheuren Zeiträume der Sonnengötter und Erdgöttinnen, nach Ferenczi (›Versuch einer Genitaltheorie‹, Intern. Psychoanalyt. Verlag, Wien 1924) sogar die frühesten Schichten der physischen Genesis. Die Schwierigkeit, eine brauchbare Tabelle aufzustellen, wird wohl in absehbarer Zeit eine Lösung finden. Es ist anzunehmen, daß man dann eine Art Norm-Dreiteilung wie für die individuellen Schichten, denen sie entsprechen und an die sie anschließen, auch für die kollektiven Charaktere anzuwenden vermag. Jung bereits nennt einen individuellen (somatischen) und einen kollektiven (symbolischen) Bereich des Unterbewußten. Vielleicht ist es erlaubt, sein ›Kollektives‹ zu trennen, und zwar in dem Sinne, daß man die symbolischen (Typen der Dichter und Künstler) von den pneumatischen (Typen der versunkenen Religionen) unterscheidet. Je tiefer man aber in das atavistische Bilderverließ eindränge und Gliederungen vorzunehmen genötigt wäre, desto höher wäre kompensativ die Persönlichkeitsgliederung zu gestalten. Die Engelshierarchien des Dionysius Areopagita mögen einer der unsern sehr verwandten Zeit des magischen Synkretismus ihre Entstehung verdanken.

 

XV

 

Vergleicht man die Psychoanalyse mit der Dämonologie der Kirche, so ist die Libido vom Teufel und die Neurose von der Besessenheit nicht sehr verschieden, nur daß die Kirche ganz anders an der Persönlichkeit festhält. Die Existenz einer dämonischen Welt ist ausdrückliche Glaubenslehre (Trid. sess. V can. I und sess. VI ep. I). In Sünden geboren werden und unter der Botmäßigkeit Satans stehen, ist den Vätern und Lehrern gleichviel. Wenn der Mensch Gott abtrünnig geworden sei, so übe mit vollem Recht der Teufel seine Herrschaft über ihn aus. Infolge der Erbsünde, des Abfalls vom Gottesgebot, ist Satan der Fürst dieser Welt, ist die Welt sein Reich. Ebenso aber wie der Mensch durch den Sündenfall dem dämonischen Einfluß ausgeliefert ist, so ist er durch die historische Erscheinung Christi, seinen Opfertod und seine Auferstehung, der allgemeinen Herrschaft des Satans entzogen worden. Mit eigentlicher Besessenheit (Neurose) hat der Zustand der Erbsünde und außerkirchlichen Existenz nach der Meinung der Theologen nichts zu tun. Die Besessenheit droht dem Abtrünnigen nur; er ist in Gefahr, ihr zu verfallen. Typisch ist für diese Fragen die Auffassung des Exorzismus bei der Kindertaufe. Gelten die Kinder vor der Taufe für Besessene? Die Formel spricht dafür, aber man hat es bestritten. In den meisten Fällen entzieht sich ihr innerer Zustand ja der Beurteilung; die Kirche aber scheint für die Möglichkeit Vorsorge getroffen zu haben.

 

   Hören wir nun die eigentlich exorzistische Theorie. Zum Thema äußert sich als erster ausführlich Tatian. Er sieht die Ursachen der Krankheiten zunächst in einer Unordnung der körperlichen Zustände. In diese natürlichen Verhältnisse mischen sich, so meint er, die Dämonen ein; durch den Logos werden sie vertrieben. Lactantius weiß, daß die Dämonen »mit Träumen die Seelen schrecken, mit Wut die Geister erschüttern«. Augustinus sagt, daß sie denjenigen, die sich »verkehrterweise in irdische Güter vernarren und deren moralischer Zustimmung sie sicher seien«, gefährlich würden. Man wußte, daß die Symptome schwänden, sobald die Dämonen ihre Wirksamkeit eingestellt hätten. Man wußte ebenfalls sehr wohl, daß es sich zum Teil um individuelle, zum Teil um kollektive Charaktere handelte. Hermas, Tertullian, Gregor von Nazianz, Petrus Lombardus u.a. nehmen für jeden einzelnen Menschen einen besonderen Dämon als Versucher an. Ähnlich ist die Meinung des Origenes, wenn es nach ihm Hauptdämonen ebenso viele als Hauptkeime zum Bösen (libidinöse Neigungen) im Menschen gibt, die unter Mitwirkung des Bewußtseins zu Todsünden werden. Der Übergang zu den Kollektivanschauungen zeigt sich, wenn man Origenes weiter folgt. Derjenige, der eine Todsünde begeht, wird dem dahinterstehenden Dämon besonders zu eigen (consecratus). So kann es geschehen, daß man so vielen Dämonen hörig werde, als man verschiedene Sünden begehe und in den einzelnen Vergehen sich zu den Mysterien dieses oder jenes Idols bekenne (in Num. hom. 20 n. 3). Die Dämonologie bezieht sich hier ausgesprochenermaßen auf Mysterienkulte, Ideologien und die pneumatische Sphäre. Aus Göttern der umgebenden Kulte, die meist Fruchtbarkeitskulte, mancherorts hermaphroditische, sogar Inzestkulte waren, sind Teufel geworden.

 

   Theodor Reik hat in einem interessanten Werke (›Der eigene und der fremde Gott‹, Intern. Psychoanalyt. Verlag, Wien 1923) das hier zugrunde liegende Phänomen als eine Ichspaltung und Verdrängung völkerpsychologisch zu entwickeln versucht. Es liegt kein Grund vor, Tatsachen zu bestreiten. Die Ichspaltung ist der jeglichem Urteil zugrunde liegende Akt, die Verdrängung aber ist eine solche dann nicht mehr, wenn der vernünftige Teil des verurteilten Erlebens ins Bewußtsein aufgenommen ist.

 

   In diesem letzteren Sinne sagt Dionysius Areopagita von den Dämonen: »Was sie wesentlich sind, das sind sie aus dem Guten, und das sind sie in Gott. Das Böse in ihnen stammt aus dem Abfall von dem ihnen eigenen Guten.« Die Dämonen sind Persönlichkeiten der gestürzten Kulte, oder sie hängen mit Symbolen, Bildern und Gebrauchsgegenständen dieser Kulte zusammen. Wer Götzenopferfleisch aß, nahm damit in urchristlicher Zeit auch den dämonischen Geist in sich auf. Ebenso galten die Ketzer als Diener und Eigentum des Teufels. Die dämonischen Phantasmata, von denen der hl. Ambrosius spricht, kommen aus dem individuellen und phylogenetischen Bilderschatze der Phantasie. Wenn wir annehmen, daß die Primitiven überhaupt nur Kultbilder kennen, daß die ›participation mystique‹ (die Magie) auf der Kultweihe beruht, so ist dies zugleich die Erklärung dafür, weshalb diese Bilder sich dem Gedächtnis der Menschheit überhaupt so tief eingeprägt haben.

 

   »Die Entwertung«, sagt Jung, »und die Verdrängung einer so starken Funktion wie es die religiöse ist, hat natürlich beträchtliche Folgen für die Psychose des einzelnen. Das Unbewußte wird nämlich durch den Rückfluß dieser Libido (Seelenkräfte) außerordentlich verstärkt, so daß es anfängt, mit seinen archaischen Kollektivinhalten einen gewaltigen, zwangsmäßigen Einfluß auf das Bewußtsein auszuüben.« Mit anderen Worten: die Entwertung des religiösen Aktualbildes verstärkt die Bedingungen der Besessenheit. Zwischen beiden Bildreihen besteht nun eine Spannung der libidinösen Energie, die mit der für das Leben und die Norm notwendigen Präsenz und Einheit unverträglich ist. Petrus Chrysologus faßt dieses Spannungsverhältnis in das Wort: »Diabolus mali auctor... rerum hostis, secundi hominis semper inimicus... stimulat corpora, pungit animas, cogitationes serit, inmittit iras, dat virtutes odio, vitia dat amori, errores serit, discordias nutrit... affectus dissipat, conscindit unitatem...« (Sermo 11, Migne LII 219). Nach Abbas Serenus erfolgt die Besessenheit erst, nachdem die Dämonen vorher das Denken und Sinnen des Menschen vergiftet haben. Die Vertreter der Scholastik, Thomas, Bonaventura, negieren dabei die Möglichkeit des Eindringens der Dämonen in die Seele und sehen in der Besessenheit lediglich eine Besitzergreifung des menschlichen Körpers durch die Eindringlinge. Die anima hierarchizata kann nicht selber zum Dämon werden, sie wird nur umsessen und verdrängt von ihrer normalen Funktion. Daß es aber dieselben Einbrüche einer subliminalen, libidinösen und atavistischen Welt sind, die hier wie dort vorliegen, geht zur Evidenz aus den Exorzismusformularen der verschiedensten kirchlichen Zeiten hervor. Der Dämon heißt hier: immundissime spiritus, inveterator malitiae... qui fraudibus, sacrilegiis, stupris, caedibus gaudes. Oder er heißt: insatiabilis homicida, draco inveterate, proditor gentium, homicidii princeps, auctor incesti, haereticorum doctor, totius obscenitatis inventor. Aus der Mitte des 11. Jahrhunderts ist ein Formular erhalten, in welchem mit direkten Worten steht: »Tu mentes... dissolvis libidine« (Franz, ›Die kirchl. Benediktionen des Mittelalters‹, Herder, Freiburg 1909, II 612).

 

   Von den Unterschieden der hauptsächlichste ist die Einstellung zur Persönlichkeit. Nach Tatian werden die Dämonen durch den Logos vertrieben. Der Logos aber wird der Seele durch das Sakrament der Taufe eingeprägt. Ein aus der Wende des 4. zum 5. Jahrhundert stammendes Gebet (bei Jacoby, ›Ein neues Evangelienfragment‹, Straßburg 1902, S. 32) lautet: »Die Herrschaften und Mächte und Herren der Finsternis... nicht mögen sie Macht haben gegen das Bild, weil es aus der Hand deiner Gottheit gebildet wurde« (das Bild, aus der Hand der Gottheit gebildet, das setzt das Gestaltungsprinzip, die Persönlichkeit, und zwar des Formenden sowohl wie des Geformten, voraus). In etwa derselben Zeit ist das ›Leben des Antonius‹ entstanden, das Leben desselben Antonius, der die vielen dämonischen Versuchungen hatte und sie siegreich überstand. Nach dem Autor dieses Buches, dem hl. Athanasius, ist der Getaufte die christliche Person; mit der Aufprägung des Pneuma in der Taufe ist den dämonischen Gewalten der Zugang zur Seele verwehrt; durch die Taufe ist aus dem Liebhaber Christi sein Streiter geworden. Bischofsberger (›Die Verwaltung des Exorzistats‹, Leutkirch 1884) erwähnt Fälle, in denen der Dämonismus nur durch die Taufe überwunden werden kann. Und Ubald Stoiber in seinen ›Armamentarium ecclesiasticum‹ erzählt von einer Besessenheit, wobei der Exorzist, da keinerlei kirchliches Mittel verfangen wollte, in einer plötzlichen Eingebung ausrief: »Ich glaube, der Mann ist nicht getauft« (kein Einheits-, kein Persönlichkeitskern war vorhanden, an den die kirchlichen Mittel hätten anknüpfen können). Die Befreiung aus der Herrschaft Satans ist allgemein durch den Tod Christi errungen und durch seine Auferstehung vollzogen worden; die Taufe aber ist das Sakrament der Wiedergeburt in Christi Namen.

 

XVI

 

Die Konfrontation der analytischen und der kirchlichen Theorie ergab, in welch fundamentalem Punkte die Lehre der Kirche von den Lehren der Psychiater abweicht. Bei den letzteren hat die Persönlichkeit kaum mehr als eine Maskenbedeutung, bei der Kirche dagegen ist sie Voraussetzung der Heilung und zugleich ihr Ziel. Die Konfrontierung ergab aber des weiteren, daß eine Welt der Bilder feindselig gegen die Norm aufsteht, eine Welt der Bilder und Urbilder verschiedenster Herkunft. Die geringe Einschätzung der Persönlichkeit könnte man historisch damit erklären, daß die Begriffe von Seele und Geist, für identisch erklärt und völlig an den Staat gebunden, allgemach von einer Unzahl romantischer und romantisierender Kritiker als hohl, unmenschlich und unästhetisch zugleich empfunden und benannt wurden. Nur bliebe dabei zu beachten, daß die geistige Nährmutter der Romantik ursprünglich das Mittelalter und die Kirche war; daß jenes ›Zurück zu den Ursprüngen‹, das heute in weitestem Sinne die Magie wieder heraufführt, nur als Versuch erscheinen kann, das Bild der Mutter auch in der natürlichen Phylogenese zu verstehen. Wie immer es sich damit verhalten mag, eine Feindseligkeit der Symboliker gegen den ›Geist‹ zeigt heute eine ganz neuartige Schärfe und beginnt sich mehr und mehr auszuprägen. Es verlohnt darum der Mühe, bei den beiden gegnerischen Positionen ein wenig zu verweilen. Es müssen sich, nachdem von der somatischen Normsphäre bereits die Rede war, bedeutsame Einblicke auch in die psychische und die pneumatische Norm ergeben.

 

   In das Zentrum dieser Fragen führt ein Buch von Bernoulli (›J. J. Bachofen und das Natursymbol‹, Schwabe & Co., Basel 1924). Von Basel hat die Kirche im letzten Jahrhundert manch namhaften Anstoß erfahren, das kann man nicht anders sagen. Basel ist die Stadt der Humanisten und des Erasmus. Von Basel kam Jakob Burckhardts sehr gegensätzlich bewußte ›Kultur der Renaissance‹. In Basel entdeckte Nietzsche den gegen die Kirche gerichteten Begriff des klassischen Philologen, sein Dionysiertum und seine protestantische Herkunft. In Basel lebte und wirkte J. J. Bachofen, der Totengräber der antiken idololatrischen Welt. Nun kommt von dort C. A. Bernoullis Bachofen-Buch, mit dem sein Autor sich in der nachdrücklichsten Weise zum Chorführer der gegen die Logik und das Bewußtsein, damit leider aber auch der gegen den Logos, die Sprache und die Person gerichteten Zeittendenzen macht. Es ist im Grunde dieselbe Feindschaft der klassischen Philologie geblieben, die schon zur Zeit des Erasmus bestand; nur ist ihr jetzt sogar Nietzsche zu uranisch, zu zarathustrisch, zu sehr dem Lichte verschworen, zu intellektuell. Der inveteratus hostis geht tiefer zurück: in den Uterus, in die Gräber, in die Sümpfe; er führt die ›Vergangenheitsseelen‹ herauf und gliedert sich in ganzer Breite alle verwandten imaginativen, chthonischen, mythographischen Bestrebungen an. Kampf der Vater-Imago, so lautet die Parole, Kampf der Norm und bewußten Form.

 

   Worum es sich im Grunde handelt, das ist der Gegensatz von Bild und Wort (Imago und Logos), ein Gegensatz, der sich, um es gleich vorweg zu sagen, in der Persönlichkeitssphäre nicht findet, der aber wichtig genug auch in seiner Feindschaft ist. Wir sind damit beschäftigt, die psychologische, die Mittelwelt auf der Kontemplation wieder aufzubauen und aus diesem Bereich die soziale Zweckwelt, an deren Spitze die abstrakte, die mathematische Vernunft stand, degradierend zu verbannen. Wir wissen heute und wissen es immer mehr, daß die Welt des betonten Wissenskultes nur eine Welt der Materie, der Erfahrung, der äußeren Objekte und ihrer letzten schematischen Ausprägung war; daß diese Welt, die den Aristotelismus bis zur Absurdität erhob, zuletzt nur dem Vorteile, der individuellen und kollektiven Beherrschung und Ausbeutung diente; daß sie auf Mechanismen fußte, die das tiefere Bedürfnis der inneren Ausdehnung, der paradiesischen Träume, der Unberechen- und Unbenutzbarkeit eines beseelten Wesens übersahen; kurz, daß sie den irrationalen Neigungen des Menschen mit derselben Schärfe widersprach, wie heute die Symbolwelt ihr selbst.

 

   Zergliedert man den Begriff der Psyche, so kommt man dabei auf zwei Anteile: den Anteil der unteren, materiellen Seele, der libidinösen Energie, und den Anteil des Bildes. Die Zusammenfassung der libidinösen und der Bildseele in eine Einheit ergibt die Naturseele. Die Libido ist auf greifbare, sinnliche Objekte, die Bildseele dagegen intentional auf die Nichtexistenz von Objekten, Sachen, Dingen (daher Aszese und Introversion!) gerichtet, eben auf das mit dem materiellen Soma verbundene Bild. Die Person aber ist die Form der beiden genannten Seelenkräfte, indem in ihr die Verschmelzung der Libido und des Bildes mit dem Pneuma, dem Geiste, mit anderen Worten das Sinnbild, das Symbol, zustandekommt. Wenn Schindler (›Das magische Geistesleben‹, Breslau 1857) von der »plastischen Kunstwelt des schlafenden Phantasiemenschen« spricht, so ist das offenbar übertrieben. Die Phantasie ist eine conditio sine qua non der Kunst; ihre Phänomene sind aber noch nicht die Kunst selber. Die Phantasie besagt zunächst nur, daß die libidinöse Energie des Menschen an Bilder gebunden ist, daß sie von Bildern getragen wird. Eine ›plastische Kunstwelt‹ entsteht aus dem Strome der Bildseele nur, wo der gestaltende, das heißt wählende und nach einem Vorbild hin ordnende Geist, die Persönlichkeit hinzutritt.

 

   Das erklärt sofort die Funktion der ›participation mystique‹, die Lévy-Bruhl (›Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures‹, Paris 1910) als den Charakter der Magie beschrieben hat. Die Bilderwelt, die für den Primitiven Wichtigkeit erlangt, ist eine sinnbetonte, symbolische. Dieser Sinn, das Tabu in seiner Doppelbedeutung von heilig und verboten, wie Freud ihn beschrieben hat, steht mit der hieratischen (totemistischen) Welt in Verbindung. Infolgedessen ist das Bild mit Zauber, mit Kräften, mit Einheiten, mit Extrakten geladen, wie nur die totemistische (pneumatische) Welt der Einheit und Weihe sie verleiht. Von den Ethnologen wissen wir, daß dasselbe Bild, das, mit den Totem- und Tabu-Anschauungen verknüpft, den Primitiven in mystische Erregung versetzt, weil er den Teil fürs Ganze nimmt, – daß dieses selbe Bild den gleichen Primitiven völlig kalt läßt, wenn ihm die Weihe, der Zauber, der besondere Bezug auf Gott oder Dämon fehlt. Nicht die Verdrängung ist es, die den Wert ausmacht, sondern die Energiesumme der Einheit, die schlagartig zu töten vermag. Mit anderen Worten: das Urbild gehört seiner Norm und seiner Energiesumme nach zur pneumatischen, das Sinnbild zur psychischen, das Bild zur somatischen Norm. Bilder sind immer einmal Vorbilder gewesen und können es in neuer Verbindung und Verschmelzung wieder werden. Die Kraft (der Zauber) der urtümlichen Bilder aber rührt von nichts anderem her, als daß sie bei dem ungeheuren Konservativismus der Kulte durch unendliche Zeiträume immer wieder ›betrachtet‹, umliebt, vertieft und auf einen immer wesentlicheren Typus reduziert worden sind.

 

XVII

 

Wenn Bernoulli und Klages von der ›Realität der Bilder‹ sprechen, meinen sie nichts anderes als die ›participation mystique‹, die Magie. Alle Geister, denen die ›Bildung‹ angelegen war, haben den Begriff des Ur- und des Vorbildes gepflegt. Auf der Realität der Urbilder besteht schon Plato; von ihr wissen Dionysius und Augustinus zu berichten. Goethe und Baader betonten im deutschen Sprachgebiet die Realität der Bilder gegenüber der rationalistischen Hochflut ihrer Zeit. Bei Bernoulli-Bachofen-Klages, wenn sie die Realität der Bilder betonen, taucht nur die alte romantische Verwahrung gegen die Auslegung der idea (Urbild) als Ratio wieder auf; eine Verwahrung, die im gewaltigsten Ausmaße von der Kirche aufgestellt und begründet wurde, als sie die Bild- und Fleischwerdung, die Inkarnation des immateriellen Gottessohnes, des Logos, zum Dogma erhob. So wurde Christus zum Urbild der Realität der Bilder, zum Urbild der Kirche.

 

   Es ist ein wenig amüsant, zu sehen, wie die neueren Klassizisten und Humanisten mit ihrer Theorie vom Natursymbol sich gegen die eigene Herkunft wenden: indem sie den apollinischen Teil des Hellenentums dem dionysischen gegenüber bekämpfen. Darin sind sie Nietzscheaner geblieben: sie kämpfen gegen die Religionswissenschaft, ein alexandrinisches Erbe, viel mehr als gegen die Kirche. Der Bachofensche Satz, wonach »in der Urreligion die Welt nur Bild« sei, dieser Satz läßt auch den Katholizismus als Urreligion erscheinen. Freilich nicht mehr den Protestantismus und gar nicht den Puritanismus, die bilderstürmenden Konfessionen. Wäre aber gerade das Natursymbol der Inbegriff der Bildphilosophie, dann wäre nicht einzusehen, weshalb wir die hellenischen und ägyptischen Mysterien nicht sollten noch heute wieder beleben können. Die Wiedergeburt aus der Mutter war doch wohl schon in den primitivsten Zeiten an liturgische Prozeduren geknüpft, die das Bild erst zum Werte erhoben; sonst wäre es heute noch möglich, ein Bild der Demeter oder der Isis aufzustellen, darunter hindurchzukriechen und sich wiedergeboren zu empfinden. Auch der andere Satz, wonach »der pelasgischen Seele nichts profan« sei, läßt sich zwar behaupten, aber nicht beweisen. Homers ›göttlicher Sauhirte‹ ist kein Schweinehüter aus der Umgebung von Basel oder Lugano, sondern ein Hirte, der wohl, ehe er dem Dichter anheimfiel, zum orphischen Symbolschatze gehörte, worin das Schwein unter gewissen Umständen als ›tabu‹ empfunden wurde, vermutlich seiner Geschlechtspotenz wegen. So taucht es als Begleiter des Gottes auf; in christlicher Darstellung (Folklore) auch als Begleiter des hl. Antonius. Homers ›göttlicher Sauhirte‹ ist vermutlich eine Blasphemie, und die Orphiker haben ihn ja auch mit den Füßen nach oben in ihrer Hölle aufgehängt.

 

   »Mit dem Bachofenschen Chthonismus«, sagt Bernoulli S. 364, »wird das Feld des Willens, der Tat, aber auch des Intellekts, des theoretischen Gedankens, der Vorstellung überhaupt verlassen; und es eröffnet sich dem forschenden Geiste (dem Geiste?) mit der Anschauung, mit dem Gefühl, mit dem Ergriffensein ein ganz anderes Bewegungsfeld.« Ein solches System der puren Bildwelt bedarf, um gleichwohl Theorie und Tat zu werden, seiner Ergänzung durch Faktoren, die ihm eigentlich grundsätzlich entgegen sind, nämlich durch Deuter, durch Interpreten, durch Sprecher. Bernoulli selbst ist ein vorzüglicher Interpret, beruft sich aber zur systematischen Bewältigung Bachofens außerdem auf zwei Symbolphilosophen, die er in der zweiten Hälfte seines Buches einführt: auf einen konsequenterweise literarisch unbezeugt Gebliebenen, auf Alfred Schuler, und auf den Freund dieses rätselhaften Mannes, auf Ludwig Klages. Gleich hier könnte man einen gewichtigen Einwand gegen Bernoulli sowohl wie gegen Klages erheben: daß sie nämlich notwendig um die logische, die personalhafte, um die geistige Realität ihrer Sprache nicht gleicherweise bemüht sein können wie um die Bekämpfung des Logos. Dies soll durchaus kein nörgelnder, sondern, bei aller Anerkennung großer Verdienste der genannten Männer, eine methodische Bemerkung sein, die auf den Kern der Sache abzielt. Man kann nämlich, wie Bernoulli und Klages es wollen, die natürliche Bild- und Ausdruckswelt nicht prinzipiell vertreten, ohne die Welt des Wortes und der Form als irrelevant zu betrachten. Man kann auf der rigorosen Licht- und Intellektfeindschaft nicht bestehen, ohne die Logizität der Sprache zu verlieren.

 

   »Die beiden ehernen Angeln, in denen sich (nach Bernoulli) die Pforte des Denkens bei Klages dreht«, sind einerseits der Ausdrucksgedanke und andererseits der Bewußtseinsbegriff. Der letztere Begriff interessiert uns hier besonders. Das Bewußtsein kann nach Klages-Bernoulli nicht aus der Seele allein, sondern nur aus deren »Zusammenspiel oder richtiger: Ringkampf mit dem ihm wesentlich gegensätzlichen (weil akosmischen) Geiste verstanden werden« (S. 378). Schon Nietzsche verkünde, der Geist sei lebensfeindlich, aber er unterlasse es, daran eine folgenschwere Unterscheidung anzuschließen: die Unterscheidung von Wille und Trieb. Klages seinerseits detestiert die Willensakte; in jeder Willkürbewegung stecke die persönliche (doch wohl nur die triebhafte?) Ausdrucksform. Das Leben an sich ist religiös (?). Das Christentum ist in seiner Blüte weit entfernt von Aszese (?). Dennoch sei es der Weg zur Aszese, weil es der Weg ›nach oben‹ ist. Oben im höchsten Zenith steht »unbeweglich saugend ein farbloser Lichtpunkt: das Gegenherz der Welt, der Logos« (S. 375).

 

   Auf das System im einzelnen einzugehen, ist nicht meine Absicht. Klages bestreitet die geistige Norm; er läßt nur die beiden ersten Bezirke, Leib und Seele, gelten. Es finden sich schöne und wertvolle Aussagen: »Der Leib hängt mit der Seele zusammen wie das Zeichen mit dem Bezeichneten.« Oder: »Ebenso wie der Sprachlaut Zeichen des Begriffs, ebenso ist der lebendige Leib die Erscheinung der Seele, und ebenso wie der Sprachkundige den gesprochenen Lauten das Urteil entnimmt, das sie meinen, ebenso entnehmen wir den Vorgängen des lebendigen Leibes die seelische Wallung, die in ihnen sich äußert.« Hier ist der Seele die Sprache als Begriff und Urteil übergeordnet. Diesen Begriff und dieses Urteil als abstrakte Erkenntnisakte bekämpft Klages und empfindet sie als lebensfeindlich und lebensstörend. Soweit befinden wir uns auch in vollkommener Eintracht mit ihm und begrüßen dankbar einen Vorkämpfer der Symbol- , Kunst- und Bildwelt; der Malerei insbesondere als jener Kunst, die am innigsten seiner Philosophie entspricht (siehe Prinzhorn, der ihn an allen entscheidenden Punkten zitiert). Nur eben, wenn Klages nun den Willen und damit das Bewußtsein einem der individuellen Ausströmung hinderlichen Hemmtriebe zuschreibt, statt ihn als die Persönlichkeit integrierend zu empfinden; nur eben, wenn er im Sinne der Romantik an eine ›Naturgnade‹ glaubt, die durch den Willen entstellt wird; nur, wo er im Willen den Geist überhaupt und vom Worte die Ratio abtrennt: nur dort versagen wir die Gefolgschaft.

 

   Der kontemplative Charakter, den Klages vertritt, mag solche Philosophie bedingen. Nur der kontemplative und in der Kontemplation verbleibende Mensch, in den Künsten vor allem der Maler, der Bildner mag solche Philosophie teilen. Dichter und Denker aber, die innerhalb der psychischen Norm eine höhere Stufe repräsentieren, werden nicht zustimmen können. Beide werden des Wortgegners Sprache kritisch betrachten und werden es fraglich finden, ob eine Philosophie vorhanden sei, die der Realität ihres Normcharakters widerstreitet. Die Sprache nämlich, der Logos, gehört zwar, soweit sie nur Bild ist, der Psyche an; mit ihrem sinngebenden, aszetischen, erwirkenden Teile aber, mit ihrem formalen Charakter, mit Verteilung, Ordo, Persönlichkeit gehört sie zum Geiste. Sie ist ein Grenzprodukt auf dem Wege von der psychischen zur pneumatischen Norm und muß der Bildsphäre notwendig zu einem Teile überhoben sein, während sie mit ihrem niedrigeren Teile ihr angehört. Wäre dem nicht so, was hätte Bachofens Bilder-Entdeckung für einen Sinn? Er hätte seine ganze Entdeckung brütend für sich behalten; ja er hätte seine Bilder ohne ihre Interpreten, die antiken Dichter und Philosophen, nicht einmal verstehen können. Klages weiß selber sehr wohl, daß die Sprache, ›recht betrachtet‹, das mächtigste Ausdrucksmittel des Menschen ist und seelenkundliche Aufschlüsse ersten Ranges zu liefern vermag. Nur eben, wo nach Bernoulli sein Werk (›Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft‹, Joh. Ambr. Barth, Leipzig) in der »Auffassung der Begabung schlechthin als Gestaltungskraft« gipfelt; wo er in einer heute viel widerspruchsvolleren Weise als die Zeit der schöpferischen Idealisten und der Romantiker noch von der ›Naturpersönlichkeit‹ überzeugt scheint: nur dort regt sich unser Widerspruch.

 

   Es gibt keine solche Naturgnade (Gestaltungskraft und -Person), oder aber sie ist den heftigsten Perversionen und Dämonismen, den heftigsten asozialen und verwirrenden Einflüssen ausgesetzt. Heute mehr als je; denn frühere Zeiten zehrten inniger noch als wir heute vom alten Erbe der Weihe, der Sakramente; sie standen im Banne und unter der Nachwirkung einer festgefügten Tradition, mehr als ihnen bewußt war. Jene traumhafte Trägheit, die Freud in seiner ›Neurosenlehre‹ den Symbolikern entgegenhält; die Hemmung gerade des Willens und sein Ersatz durch aufsteigende Bilder; die libidinöse Gebundenheit; hier ist die Kehrseite der Ausdrucksphilosophie. Und es gibt keinen Zwiespalt der Urpotenzen Seele und Geist. Die Klagessche These: ›Seele contra Geist‹ (Bernoulli, S. 384) ist die Formel des von der geistigen Norm gelösten Ästhetizismus. Diese Formel aber, wenn man sie ihrer zeitbedingten Relativität entkleidet, widerspricht einem Urbild (Dogma): der Erschaffung der Menschenseele durch die Person Gottes. Ist die Seele nicht eine Gnade des Geistes? Ist sie nicht der Interpret des Geistes und sein Emissär? Ist sie im Geiste nicht beschlossen mit allen ihren Vermögen; freilich nicht im wissenschaftlichen, sondern im heiligen Geiste? Von einem ›Pandämonium der Bildelemente‹ ist bei Klages (›Vom Wesen des Bewußtseins‹, 1921) die Rede. Fragt man aber, wie aus solchem Pandämonium Gestalt und Person entstünden, dann lautet die Antwort: »Was immer in den Strahl des urbildlichen Schauens trat, es ist nicht mehr ein Ding unter anderen Dingen, sondern es wurde zum Mittelpunkt der Welt« (S. 93). Auf welche Weise wurde es dazu? Der Weg vom Schauen zum Mittelpunkt der Welt ist ein weiter Weg; das Werk und ein Mittlerwille liegen dazwischen.

 

XVIII

 

Und so mag die Logoslehre der Kirche den Abschluß bilden. Entsprechend dem ästhetizistischen Ansturm, der die ausgedehntesten Zeiträume und die verschollensten Systeme umfaßt, nehme ich die Beispiele aus der Frühzeit und aus dem weniger bekannten Ideenschatze der Kirche. ›Im Anfang war das Bild‹, sagt Bernoulli in Bachofens Sinn. Im Anfange aber war das Wort, weil es der höchste, einfachste und konzentrierteste Ausdruck des Menschen ist. Im Anfang sprach Gott: ›es werde Licht!‹; im Anfange schuf er die Seele, das Bild seines Wortes. Nicht die »primäre Wirklichkeit der Symbole brachte Religion hervor« (Bernoulli, S. 514), sondern die göttliche Person schuf die Symbole und gab ihnen Realität durch Identifizierung mit ihrem Inhalt. Der Totemismus (Pneumatismus), so will Bachofen, sei die »zweckmäßige Verwendung des Natursymbols Hand in Hand mit den ersten Versuchen einer Gesellschaftsbildung«. Es gibt aber gar keine Natursymbole außer in Gestalt einer zweckmäßigen Verwendung von hieratischen Symbolen bei den ersten Versuchen einer Gesellschaftsbildung. Die Forschung lehrt und die Erfahrung bestätigt es noch täglich, daß aus der pneumatischen (der Totemsphäre) die Symbole entstanden, und daß im Symbol die Norm sowohl der Künste wie der Gesellschaft enthalten war. Osiris-Dionysos lehrt den Ägyptern die Maße, die Zahlen, die Musik und den Ackerbau. Die christliche Kunst und die christliche Gesellschaft sind aus der pneumatischen Sphäre der Evangelien entstanden; doch wohl nicht umgekehrt.

 

   Wer ist er nun, der Logos? Wie interpretieren ihn die Väter? Bei Justin dem Märtyrer ist er das Schöpferwort und der Offenbarer Gottes an den menschlichen Geist. Bei Origenes ist er der Schöpfer der Welt, dessen Geheimnisse die heilige Kultsage und zugleich auch das Wort im Sinne der hellenischen Logiker und Grammatiker umfaßt. Bei Klemens Alexandrinus ist er der Erlöser, und als solcher die Erkenntnis, das Leben, die Liebe in nicht zu überbietendem Grade. Als Pädagoge erschließt er seinem Schüler nacheinander die Psychologie, die Moral, die Ideen, und weit darüber hinaus das Heilige und Überheilige. Daß diese Ideen aber nicht Abstrakta sind, ergibt ein interessanter Beweis aus der kirchlichen Dämonologie. »In meinem (des Logos) Namen«, sagte der Gottessohn, »werdet ihr Dämonen vertreiben«. Nun werden aber schon zur Zeit des hl. Justin und noch heute bei den Exorzismen Teile des Symbolons, des Kredo mit seinem Zuge von Urbildern verwandt. Etwa so: »Im Namen dessen, der aus Maria der Jungfrau geboren, der gekreuzigt, gestorben und auferstanden ist; der kommen wird zu richten ... gebiete ich dir.« Das Symbolon, das Kredo, und seine Auslegung im Dogma machen also den Inhalt des Namens Christi, des Logos, des Wortes aus.

 

   Damit aber sind nicht alle Beziehungen des Logos erschöpft. Gelegentlich der ›Mystischen Theologie‹ des Dionysius Areopagita wies ich an anderer Stelle darauf hin, wie dieser Heilige das Wort teologia verwendet. Er gebraucht nämlich statt teologia auch logia bzw. logion sowie ieros logos. Die Quelle dieser ieroi logoi liegt, so behauptet man, in den Mysterienfeiern. Dort bezeichnete der Terminus den jeweiligen Mythus, der den Kult veranlaßte und bei der Feier selbst in allegorischer Handlung dargestellt wurde. Der Terminus teologia bezieht sich also auf die gottesdienstliche Handlung und auf deren Vorbild, die Offenbarung: der Inbegriff des Wortes ist auch die Liturgie. Der ieros logos umfaßt die ›Gottestaten‹, wie Dionysius sagt, den ›Roman des lieben Gottes‹ nach dem Worte einer Dichterin. In diesem Sinne weiß Gregor von Nazianz um eine teologia ek ton Serapim, und es wird klar, weshalb die Neuplatoniker, die unseren Neusymbolikern in vielem ähnlich sind, ihre christlichen Gegner gerade um die Offenbarungsliteratur beneideten.

 

   Dieser Logos in seiner ganzen Fülle wird nach Athanasius dem Menschen in der Taufe aufgeprägt. Die kreatürliche Seele des Menschen wird zur christlichen Person. Sie erhält die Rechte und Pflichten eines Christen; sie erhält die magische Gnade der Anteilnahme am Kult und seinen Geheimnissen. Ich gebrauche das Wort ›magisch‹ dabei im Sinne der ›participation mystique‹, keineswegs im andern Sinne, der eine dem Taufakte vorhergehende Läuterung entbehrlich erscheinen ließe. Dem Bade der Wiedergeburt geht der Exorzismus voraus. Die Taufe selbst ist bei Paulus ein Eintauchen in Christi Tod; die Gewalt der Materie und des Schicksals wird ›mit Christus in den Tod begraben‹. In den Voraussetzungen der Taufe, und in der zweiten Taufe, im Sakramente der Buße ist die aszetische Doktrin der Kirche begründet. Sie ist nichts anderes als eine Methodik der strengen Vereinfachung; eine Vorbereitung für die immer innigere Vereinigung mit dem Logos im heiligsten Sakramente der Eucharistie.