1923 Ich suche nicht, ich finde

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Pablo Picasso:

 

Ich suche nicht, ich finde

 

Interview mit Marius de Zayas 1923

 

 

 

„Ich sehe nicht recht ein, warum auf das Wort ,Untersuchung' im Zusammenhang mit der modernen Malerei so viel Gewicht gelegt wird. Beim Malen bedeutet .Suchen' meiner Ansicht nach gar nichts. Auf das Finden kommt es an. Es würde niemandem einfallen, einem Menschen zu folgen, der sein Leben damit zubringt, mit ständig an den Boden gehefteten Augen die Brieftasche zu suchen, die ihm ein freundliches Geschick vor die Füße werfen soll. Wer etwas gefunden hat, einerlei, was es ist, und wenn er auch gar nicht darauf aus war, es zu suchen, erregt mindestens unsere Neugier, wenn nicht gar unsere Bewunderung.

 

Man hat mich verschiedener Sünden bezichtigt, doch keine dieser Beschuldigungen ist so unzutreffend wie die, das Hauptziel meiner Arbeit sei Untersuchung. Wenn ich male, habe ich nichts anderes im Sinn, als zu zeigen, was ich gefunden habe, und nicht, was ich suche. Mit einem vorsätzlich gefassten Ziel ist es in der Kunst nicht getan, oder, wie wir im Spanischen sagen: Liebe muss mit Tatsachen bewiesen werden, und nicht mit Worten. Hier zählt nur, was man wirklich tut, und nicht, was man tun wollte.

 

Wir wissen alle, dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können. Der Künstler muss wissen, auf welche Art er die Andern von der Wahrhaftigkeit seiner Lügen überzeugen kann. Wenn er in seinem Werk nur zeigt, dass er gesucht und untersucht hat, auf welche Art er uns seine Lügen vorsetzen könnte, dann brächte er nie irgend etwas zustande.

 

Die Idee der Untersuchung hat die Malerei oft auf Irrwege geführt, und der Künstler hat sich dabei nur in theoretischen Arbeiten verzettelt. Das ist wahrscheinlich der größte Fehler der modernen Kunst. Diese Einstellung hat jene Maler vergiftet, die all die positiven und entscheidenden Elemente in der modernen Kunst nicht völlig verstehen, und sie veranlasst, das Unsichtbare - und das heißt, das Unmalbare - malen zu wollen. Man spricht immer vom Naturalismus als dem Gegensatz zur modernen Malerei. Ich möchte wohl wissen, ob irgend jemand schon einmal ein natürliches Kunstwerk gesehen hat. Natur und Kunst sind verschiedene Dinge, können also nicht das gleiche sein. Durch die Kunst drücken wir unsere Vorstellung von dem aus, was Natur nicht ist.

 

Velázquez hinterließ uns seine Vorstellung von den Menschen seiner Zeit. Bestimmt waren sie anders als er sie malte, und doch können wir uns keinen ändern Philipp IV. vorstellen als den von Velázquez gemalten. Rubens hat ein Bildnis des gleichen Königs gemacht, aber auf Rubens' Bildnis scheint es sich um einen ganz anderen Menschen zu handeln. Wir glauben an den Philipp, den Velázquez gemalt hat, denn er überzeugt uns von dessen Recht auf Macht. Kunst ist immer Kunst und nie Natur gewesen, angefangen von den ursprünglichen Malern, den Primitiven, deren Werk sich offensichtlich von der Natur unterscheidet, bis zu jenen Künstlern, die wie David, Ingres und selbst Bourguereau glaubten, die Natur müsse gemalt werden, wie sie ist. Und vom Standpunkt der Kunst aus gesehen, gibt es weder konkrete noch abstrakte Formen, sondern nur Formen, die mehr oder weniger überzeugende Lügen sind. Dass diese Lügen für unser geistiges Selbst notwendig sind, steht außer Frage, denn mit ihrer Hilfe bilden wir uns eine ästhetische Lebensanschauung. Der Kubismus unterscheidet sich von keiner ändern Schule der Malerei. Allen sind die gleichen Prinzipien und die gleichen Elemente gemeinsam. Die Tatsache, dass der Kubismus lange Zeit nicht verstanden wurde und dass es noch heute Menschen gibt, die nichts darin sehen, bedeutet gar nichts. Ich kann nicht Englisch lesen, und für mich besteht ein englisches Buch aus leeren Blättern. Das bedeutet aber nicht, dass die englische Sprache nicht existiert, und warum sollte ich jemand anders als mir selbst die Schuld geben, wenn ich etwas nicht verstehen kann, wovon ich nichts weiß?

 

Ich höre auch oft das Wort ,Entwicklung'. Immer wieder werde ich um eine Erklärung gebeten, wie sich meine Malerei .entwickelt' habe. Für mich gibt es in der Kunst weder Vergangenheit noch Zukunft. Wenn ein Kunstwerk nicht immer lebendig in der Gegenwart lebt, kommt es überhaupt nicht in Betracht. Die Kunst der Griechen, der Ägypter und der großen Maler, die zu anderen Zeiten lebten, ist keine Kunst der Vergangenheit; vielleicht ist sie heute lebendiger denn je. Kunst entwickelte sich nicht aus sich selbst, sondern die Vorstellungen der Menschen ändern sich und mit ihnen ihre Ausdrucksform. Wenn ich höre, wie die Leute von der Entwicklung des Künstlers sprechen, kommt es mir immer so vor, als sähen sie ihn Zwischen zwei sich gegenüberstehenden Spiegeln, die sein Spiegelbild unzählige Male wiederholen, und als sähen sie die Bilderreihe des einen Spiegels als seine Vergangenheit und die Bilder des anderen als seine Zukunft an, während er selbst ihnen als seine Gegenwart gilt. Sie bedenken nicht, dass es alles die gleichen Bilder nur auf verschiedenen Ebenen sind.

 

Wechsel bedeutet nicht Entwicklung. Wenn ein Künstler seine Ausdrucksform ändert, bedeutet es nur, dass er seine Art zu denken geändert hat, und die Änderung kann sich zum Besseren oder zum Schlechteren hin vollziehen.

 

Die mancherlei Methoden, die ich in meiner Kunst anwandte, dürfen nicht als eine Entwicklung oder als Stufen zu einem unbekannten Mal-Ideal aufgefasst werden. Alles, was ich je gemacht habe, habe ich für die Gegenwart gemacht und in der Hoffnung, dass es immer in der Gegenwart lebendig bliebe. Nie habe ich mich dabei um Untersuchungen bekümmert. Wenn ich etwas fand, was ich ausdrücken wollte, dann habe ich es getan, ohne an Vergangenheit und Zukunft zu denken. Ich glaube nicht, dass ich in den mancherlei Methoden meiner Malerei grundverschiedene Elemente benutzt habe. Wenn die Gegenstände, die ich darstellen wollte, eine andere Ausdrucksweise verlangten, so habe ich nie gezaudert, sie mir zu eigen zu machen. Nie habe ich Versuche oder Experimente gemacht. Wenn ich etwas zu sagen hatte, dann habe ich es auf die Art gesagt, auf die es, wie mir schien gesagt werden musste. Andersartige Motive verlangen unvermeidlich auch andere Methoden. Das hat weder mit Entwicklung noch mit Fortschritt etwas zu tun, sondern es ist nur eine Anpassung der Idee, die man ausdrücken will, und der Mittel, diese Idee auszudrücken, Übergangskunst gibt es nicht. In der chronologischen Geschichte der Kunst gibt es Zeiten, die positiver und umfassender als andre sind. Das bedeutet, dass es in diesen Zeiten größere Künstler gibt. Wenn die Geschichte der Kunst graphisch dargestellt werden könnte, etwa so wie auf einer Tabelle, auf der die Krankenschwester die Fieberkurve ihres Patienten einträgt, dann würde sich die gleiche Berg- und Tal-Linie ergeben und beweisen, dass es in der Kunst keine aufsteigende Entwicklung gibt, sondern dass auch sie ihr Auf und Ab kennt, das zu jedem beliebigen Zeitpunkt eintreten kann. Und ebenso ergeht es der Arbeit jedes einzelnen Künstlers.

 

Viele Leute glauben, der Kubismus sei eine Art Übergangskunst und ein Experiment, das noch weitere Resultate zeitigen wird. Wer so denkt, hat den Kubismus nicht verstanden. Der Kubismus ist weder ein Samenkorn noch ein Fötus, sondern eine Kunst, der es vor allem um die Form geht, und wenn eine Form einmal geschaffen ist, dann ist sie da und lebt ihr eigenes Leben weiter. Ein Mineral, das seine geometrische Struktur hat, ist nicht für Übergangszwecke so geschaffen, sondern es soll bleiben, was es ist, und es wird immer seine eigene Form behalten. Wenn wir aber das Gesetz der Entwicklung und Umwandlung auf die Kunst anwenden wollen, dann müssten wir auch behaupten, dass alle Kunst vergänglich ist. Die Kunst hat jedoch mit diesen philosophischen Formulierungen nichts zu tun. Wenn der Kubismus eine Übergangskunst wäre, dann würde sich bestimmt nie etwas anderes daraus entwickeln als einfach wieder eine neue Form des Kubismus.

 

Mathematik, Trigonometrie, Chemie, Psychoanalyse, Musik und was sonst noch alles ist mit dem Kubismus in Beziehung gebracht worden, um ihn leichter deuten zu können. All das ist nichts als Literatur, um nicht zu sagen Unsinn, und hat nur üble Folgen gehabt, weil die Leute vor lauter Theorien blind wurden.

 

Der Kubismus hat sich innerhalb der Grenzen und Begrenzungen der Malerei gehalten und nie behauptet, er wolle darüber hinausgehen. Zeichnung, Komposition und Farbe werden im Kubismus im gleichen Sinne und auf die gleiche Art verstanden und gehandhabt wie in allen andern Schulen der Malerei. Unsere Themen mögen anders sein, weil wir Gegenstände und Formen in die Malerei einführten, die früher nicht beachtet wurden. Wir blicken mit offenen Augen - und auch mit offenem Verstand - auf unsere Umwelt. Wir geben der Form und der Farbe die ihnen eigene Bedeutung, so weit wir sie sehen können; in unseren Themen wahren wir die Freude der Entdeckung, das Vergnügen am Unerwarteten; unser Thema an sich muß eine Quelle des Interesses sein. Doch wozu berichten, was wir tun, wenn jeder, der will, es sehen kann?"