1918 Schöpferische Konfession

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Paul Klee

 

Schöpferische Konfession

 

 

Quelle: Klee, Paul: Schöpferische Konfession. In: Tribüne der Zeit. Berlin 1920. Aus: Klee, Paul: Das bildnerische Denken. Schriften zur Form und Gestaltungslehre. Hrsg. Spiller, Jürg. Basel 1964.

 

Paul Klee, 1879-1940, Schweizer Maler, ab 1906 in München, 1911 Freundschaft mit den Künstlern des Blauen Reiter (Marc, Macke, Kandinsky), 1922 Berufung als Lehrer an das Bauhaus, verläßt 1933 Deutschland, Rückkehr nach Bern. Klees Werk läßt sich kaum einer bestimmten Stilrichtung zuordnen, da sein Werk im Schnittpunkt verschiedener Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts steht. Als Bauhaus - Meister hat er einige theoretische Schriften über die Kunst verfaßt.

 

 

 

I.        Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Das Wesen der Graphik verführt leicht und mit Recht zur Abstraktion. Schemen-und Märchenhaftigkeit des imaginären Charakters ist gegeben und äußert sich zugleich mit großer Präzision. Je reiner die graphische Arbeit, das heißt je mehr Gewicht auf die der graphischen Darstellung zugrunde liegenden Formelemente gelegt ist, desto mangelhafter die Rüstung zur realistischen Darstellung sichtbarer Dinge. Formelemente der Graphik sind: Punkte, lineare, flächige und räumliche Energien. Ein flächiges Element, das sich nicht aus Untereinheiten zusammensetzt, ist z. B. eine mit breitkantigem Stift erfolgte Energie mit oder ohne Modulation. Ein räumliches Element, z. B. ein wolkenartig dunstiger Fleck eines vollen Pinsels meist mit verschiedenen Stärkegraden.

 

II.        Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen (unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien). Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie).

 

Wir durchqueren einen umgepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes. Ganz kühl bin ich auch nicht mehr; über neuer Flußgegend liegt Nebel (räumliches Element). Bald wird es indessen wieder klarer. Korbflechter kehren heim mit ihren Wagen (das Rad). Bei ihnen ein Kind mit den lustigsten Locken (die Schraubenbewegung). Später wird es schwül und nächtlich (räumliches Element). Ein Blitz am Horizont (die Zickzacklinie). Uber uns zwar noch Sterne (die Punktsaat). Bald ist unser erstes Quartier erreicht. Vor dem Einschlafen wird manches als Erinnerung wieder auftauchen, denn so eine kleine Reise ist sehr eindrucksvoll.

 

Die verschiedensten Linien, Flecken, Tupfen, Flächen glatt, Flächen getupft, gestrichelt. Wellenbewegung. Gehemmte, gegliederte Bewegung. Gegenbewegung, Geflecht, Gewebe. Gemauertes, Geschupptes. Einstimmigkeit. Mehrstimmigkeit. Sich verlierende, erstarkende Linie (Dynamik). Das frohe Gleichmaß der ersten Strecke, dann die Hemmungen, die Nerven! Verhaltenes Zittern, Schmeicheln hoffnungsvoller Lüftchen. Vor dem Gewitter der Bremsenüberfall! Die Wut, das Morden. Die gute Sache als Leitfaden, selbst in Dickicht und Dämmerung. Der Blitz mahnte an jene Fieberkurve. Eines kranken Kindes . .. Damals.

 

III. Ich habe Elemente der graphischen Darstellung genannt, die dem Werk sichtbar zugehören sollen. Diese Forderung ist nicht etwa so zu verstehen, daß ein Werk aus lauter Elementen bestehen müsse. Die Elemente sollen Formen ergeben, nur ohne sich dabei zu opfern. Sich selber bewahrend.

 

Es werden meist mehrere zusammenstehen müssen, um Formen oder Gegenstände zu bilden oder sonstige Dinge zweiten Grades. Flächen aus zueinander in Beziehung tretenden Linien (z. B. beim Anblick von bewegten Wasserläufen) oder Raumgebilde aus Energien mit Beziehungen dritter Dimension (durcheinanderwimmelnde Fische). Durch solche Bereicherung der formalen Symphonie wachsen die Variationsmöglichkeiten und damit die ideellen Ausdrucksmöglichkeiten ins Ungezählte.

 

Im Anfang ist wohl die Tat, aber darüber liegt die Idee. Und da die Unendlichkeit keinen bestimmten Anfang hat, sondern kreisartig anfanglos ist, so mag die Idee für primär gelten. Im Anfang war das Wort, übersetzt Luther.

 

IV. Bewegung liegt allem Werden zugrunde. In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist's doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff.

 

Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen.

 

Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus. Und der Beschauer, wird er auf einmal fertig mit dem Werk? (Leider oft ja.) Sagt nicht Feuerbach, zum Verstehen eines Bildes gehöre ein Stuhl? Wozu der Stuhl? Damit die ermüdenden Beine den Geist nicht stören. Beine werden müde vom langen Stehen. Also, Spielraum: Zeit. Charakter: Bewegung. Zeitlos ist nur der an sich tote Punkt. Auch im Weltall ist Bewegung das Gegebene. (Woher sie wohl die Kraft haben dazu? Ist die müßige Frage eines Getäuschten.) Ruhe auf Erden ist zufällige Hemmung der Materie. Dies Haften für primär zu nehmen, eine Täuschung.

 

Die Genesis der „Schrift" ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es rein als Produkt erlebt.

 

Ein gewisses Feuer, zu werden, lebt auf, leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt als Funke, den Kreis schließend, woher es kam: zurück ins Auge und weiter (zurück in ein Zentrum der Bewegung, des Wollens, der Idee). Auch des Beschauers wesentliche Tätigkeit ist zeitlich. Das Auge ist so eingerichtet, es bringt Teil für Teil in die Sehgrube, und um sich auf ein neues Stück einzustellen, muß es das alte verlassen. Einmal hört er auf und geht weg wie der Künstler. Hält er's für lohnend, kehrt er zurück wie der Künstler.

 

Dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Beschauers sind im Kunstwerk Wege eingerichtet (in der Musik dem Ohr Zuleitungskanäle - das weiß ein jeder - im Drama beides beiden). Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln).

 

V.        Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind. Die Dinge erscheinen in erweitertem und vermannigfachtem Sinn, der rationellen Erfahrung von gestern oft scheinbar widersprechend. Eine Verwesentlichung des Zufälligen wird angestrebt.

 

Die Einbeziehung der gut-bösen Begriffe schafft eine sittliche Sphäre. Das Böse soll nicht triumphierender oder beschämender Feind sein, sondern am Ganzen mitschaffende Kraft. Mitfaktor der Zeugung und der Entwicklung. Eine Gleichzeitigkeit von Urmännlich (bös, erregend, leidenschaftlich) und Urweiblich (gut, wachsend, gelassend) als Zustand ethischer Stabilität.

 

Dem entspricht der simultane Zusammenschluß der Formen, Bewegung und Gegenbewegung oder naiver der gegenständlichen Gegensätze (koloristisch: Anwendung zergliederter, farbiger Gegensätze, wie bei Delaunay). Jede Energie erheischt ein Kompliment, um einen in sich selber ruhenden, über dem Spiel der Kräfte gelagerten Zustand zu verwirklichen. Aus abstrakten Formelementen wird über ihre Vereinigung zu konkreten Wesen oder zu abstrakten Dingen wie Zahlen und Buchstaben hinaus zum Schluß ein formaler Kosmos geschaffen, der mit der großen Schöpfung solche Ähnlichkeit aufweist, daß ein Hauch genügt, den Ausdruck des Religiösen, die Religion zur Tat werden zu lassen.

 

VI.        Ein paar Beispiele: Ein Mensch des Altertums als Schiffer im Boot, so recht genießend und die sinnreiche Bequemlichkeit der Einrichtung würdigend. Dementsprechend die Darstellung der Alten. Und nun: Was ein moderner Mensch, über das Deck eines Dampfers schreitend, erlebt: 1. die eigene Bewegung, 2. die Fahrt des Schiffes, welche entgegengesetzt sein kann, 3. die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit des Stromes, 4. die Rotation der Erde, 5. ihre Bahn, 6. die Bahnen von Monden und Gestirnen drum herum.

 

Ergebnis: ein Gefüge von Bewegungen im Weltall, als Zentrum das Ich auf dem Dampfer. Ein blühender Apfelbaum, seine Wurzeln, die ansteigenden Säfte, sein Stamm, der Querschnitt mit den Jahresringen, die Blüte, ihr Bau, ihre sexuellen Funktionen, die Frucht, das Gehäuse mit den Kernen. Ein Gefüge von Zuständen des Wachstums.

 

Ein schlafender Mensch, der Kreislauf seines Blutes, die gemessene Atmung der Lungen, die zarte Funktion der Nieren, im Kopf eine Welt von Träumen, mit Beziehung zu den Schicksalsgewalten. Ein Gefüge von Funktionen, zur Ruhe geeint.

 

VII. Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig. Sie ist jeweils ein Beispiel, ähnlich wie das Irdische ein kosmisches Beispiel ist. Die Freimachung der Elemente, ihre Gruppierung zu zusammengesetzten Unterabteilungen, die Zergliederung und der Wiederaufbau zum Ganzen auf mehreren Seiten zugleich, die bildnerische Poly-phonie, die Herstellung der Ruhe durch Bewegungsausgleich, all dies sind hohe Formfragen, ausschlaggebend für die formale Weisheit, aber noch nicht Kunst im obersten Kreis. Im obersten Kreis steht hinter der Vieldeutigkeit ein letztes Geheimnis, und das Licht des Intellekts erlischt kläglich.

 

Man kann wohl noch vom Effekt und vom Heil vernunftmäßig reden, die sie da ausübt, dadurch: daß Phantasie, von instinktgeborgten Reizen beschwingt, uns Zustände vortäuscht, die irgend mehr ermuntern und anregen als die allbekannten irdischen oder bewußten überirdischen. Daß Symbole den Geist trösten, damit er einsehe, daß für ihn nicht nur die eine Möglichkeit des Irdischen mit seinen eventuellen Steigerungen besteht. Daß ethischer Ernst waltet und zugleich koboldisches Kichern über Doktoren und Pfaffen. Denn auch gesteigerte Wirklichkeit kann auf die Dauer nicht frommen.

 

Die Kunst spielt mit den letzten Dingen ein unwissend Spiel und erreicht sie doch! Auf, Mensch! Schätze diese Villegiatur, einmal den Gesichtspunkt wie die Luft zu wechseln und dich in eine Welt versetzt zu sehen, die ablenkend Stärkung bietet für die unvermeidliche Rückkehr zum Grau des Werktags. Noch mehr, sie verhelfe dir, die Hülle abzulegen, dich auf Momente Gott zu wähnen. Dich stets wieder auf Feierabende zu freuen, an denen die Seele zur Tafel geht, ihre hungernden Nerven zu nähren, ihre erschlaffenden Gefäße mit neuem Saft zu füllen. In dies stärkende Meer laß dich tragen, auf breitem Strom und auch auf reizvollen Bächen, wie die aphoristisch-vielverzweigte Graphik.

 

1918

 

 

 

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Literatur:

 

Haftmann, Werner: Paul Klee. München 1950.
Grohmann, W.: Paul Klee. Stuttgart 1954.