1912 Ursprünglichkeit und Ausdruck

Nach oben  Zurück  Weiter

Emil Nolde

 

Ursprünglichkeit und Ausdruck

 

 

 

Quelle: Nolde, Emil: Jahre der Kämpfe. 1902-1914. Berlin 1934, 3. Aufl. Köln 1971, S. 172 ff., 181 ff.

 

Emil Nolde (eigentlich Hansen), geb. 1867 in Nolde (Kr. Tündern) gest. 1956 in Seebüll, findet um 1905 seinen eigenen Stil einer ausdrucksstarken Malerei, 1913/14 Reise in die Südsee, arbeitet vorwiegend in seiner schleswig-holsteinischen Heimat (Seebüll), gehört für kurze Zeit zur Künstlergemeinschaft „Brücke", nach 1933 von den Nationalsozialisten als „entarteter Künstler" verfemt.

 

 

 

1. „Bei den Griechen sehen wir die vollendetste Kunst. In der Malerei ist Raffael der größte aller Meister." So lehrte vor nur 20 oder 30 Jahren jeder Kunstpädagoge.

 

2. Seitdem hat sich manches geändert. Wir mögen Raffael nicht, und verbleiben kühl vor den Plastiken der sogenannten griechischen Blütezeit. Die Ideale unserer Vorgänger sind nicht mehr unsere. Wir lieben weniger die Werke, unter denen seit Jahrhunderten große Namen stehen. Weltgewandte Künstler im Getriebe ihrer Zeit schufen Kunst für Päpste und Paläste. Die anspruchslosen Menschen, die in ihrer Werkstatt arbeiteten, von deren Leben man heute kaum etwas weiß, deren Namen uns nicht einmal erhalten sind, schätzen und lieben wir in ihren schlicht und groß gehauenen Plastiken der Dome zu Naumburg, Magdeburg, Bamberg.

 

3. Unsere Museen werden groß und voll und wachsen rapid. Ich bin kein Freund dieser durch ihre Masse tötenden Ansammlungen. Eine Reaktion gegen die Überhäufung wird sich wohl bald melden.

 

4. Vor nicht langer Zeit waren nur einige Kunstzeiten museumsreif. Dann aber kamen hinzu: koptische und frühchristliche Kunst, griechische Terrakotten und Vasen, persische und islamische Kunst. Warum aber wird immer noch die indische, chinesische und javanische Kunst unter Wissenschaft und Völkerkunde eingeordnet? Und die Kunst der Naturvölker als solche überhaupt nicht gewertet?

 

5. Wie mag es kommen, daß wir Künstler so gern die primitiven Äußerungen der Naturvölker sehen?

 

6. Unsere Zeit brachte es mit sich, daß für jedes Tongefäß oder Schmuckstück, für jeden Gebrauchsgegenstand oder jedes Kleidungsstück zuerst der Riß auf Papier entstehen mußte. — Mit dem Material in der Hand, zwischen den Fingern, entstehen die Werke der Naturvölker. Das sich äußernde Wollen ist Lust und Liebe zum Bilden. Die absolute Ursprünglichkeit, der intensive, oft groteske Ausdruck von Kraft und Leben in aller-einfachster Form, - das möge es sein, was uns die Freude gibt."

 

Es reichen diese Sätze in unsere Gegenwart hinein, und vielleicht etwas über sie hinaus. Das Urgefühl und die plastisch - farbig - ornamentalen Freuden der „Wilden" an Waffen, Kult-und Gebrauchsgegenständen ist sicherlich oft viel schöner als die süßlich geschmäcklerischen Formen an Objekten, die in Glasschränken der Salons und in unseren Kunstgewerbemuseen stehen. Uberzüchtete, blasse, dekadente Kunstwerke gibt es genug, - daher mag es gekommen sein, daß werdende Künstler am Urwüchsigen sich orientierten.

 

Wir „gebildete" Menschen haben es nicht so herrlich weit gebracht, als oftmals gesagt wird. Unsere Taten sind zweischneidig. Den Naturvölkern gegenüber hausen wir Europäer seit Jahrhunderten mit barbarischer unverantwortlicher Gier, ganze Völker und Rassen vernichtend — aber stets unter dem erheuchelten Deckmantel schönster Absichten.

 

Raubtiere kennen kein Mitleid. Wir weißen Menschen oft noch weniger.

 

Die ersten einleitenden Sätze zur griechischen Kunst und der Kunst Raffaels mögen vielleicht als leichtfertig hingeworfen scheinen. Dem ist nicht so. Ein Maler sagt offen seine Meinung: Die Assyrer, die Ägypter hatten mächtigen Sinn für Plastik, die archaischen Griechen auch. Dann aber kam die Zeit der gefälligen schönen Stellungen, der vielen Glieder, der Gesichter und Körper der Männer wie Frauen, so daß es des Zeichens des Geschlechts bedarf, um zu sehen, ob Mann, ob Weib. Das war erschreckende Verfallszeit. Und wenn alle bisherigen Ästheten das Gegenteil bekundet haben mögen. [...]

 

Die Zweiheit hatte in meinen Bildern und auch in der Graphik einen weiten Platz erhalten. Mit oder gegeneinander: Mann und Weib, Lust und Leid, Gottheit und Teufel. Auch die Farben wurden einander entgegengestellt: Kalt und warm, hell und dunkel, matt und stark. Meistens aber doch, nachdem eine Farbe oder ein Akkord wie selbstverständlich angeschlagen war, bestimmte eine Farbe die andere, ganz gefühlsmäßig und gedankenlos tastend in der ganzen herrlichen Farbenreihe der Palette, in reiner sinnlicher Hingabe und Gestaltungsfreude.

 

Die Form war fast immer in wenigen struktiven Linien festgelegt, bevor die Farbe weiterbildend in sicherer Empfindung gestaltend sich auswirkte. Farben, das Material des Malers: Farben in ihrem Eigenleben, weinend und lachend, Traum und Glück, heiß und heilig, wie Liebeslieder und Erotik, wie Gesänge und herrliche Choräle! Farben in Schwingungen wie Silberglockenklang und Bronzegeläute, kündend Glück, Leidenschaft und Liebe, Seele, Blut und Tod. Schwer war es mir oft, wenn im Werk künstlerisch die Höchstleistung erreicht war, - das oft sehr früh geschah - die Spannung bis zur Vollendung beizubehalten. Wenn die reine sinnliche Kraft des Sehens nachläßt, will so gern hilfebereit verstandliche Kälte weiterarbeiten, zur Abschwächung führend, und, zuweilen bis zur Vernichtung. Der Verstand will immer klüger sein als der Künstler im Menschen: „Es ist doch klar, daß nur er es versteht. Der Künstler in seiner Einfalt weiß ja nichts!" -

 

Der Maler braucht nicht viel zu wissen; schön ist es, wenn er unter instinktiver Führung so zielsicher malen kann, wie er atmet, wie er geht. Intellekt ist dem schaffenden Menschen antikünstlerisch, Intelligenz dem Künstler ein falscher Freund. [.. .] Immer so gern wollte ich nur ich sein und in meinen Bildern erreichen, daß nicht nur die Bildfläche gesehen wird, sondern daß vom Bilde aus ein Hauch geistig-seelischer Schönheit ausgehe, über die Grenzen des Rahmens hinaus, den ganzen Raum füllend.

 

Bilder sind geistige Lebewesen. Die Seele des Malers lebt in ihnen.

 

1912

 

-------------------

 

 

 

Literatur:

 

Haftmann, Werner: Emil Nolde. Köln 1958.