1912 Matisse Farbe, Picasso Form

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WASSILY KANDINSKY

 

Matisse-Farbe. Picasso-Form

Zwei Weisungen, ein Ziel

 

 

Quelle: Wassily Kandinsky, in: W. K., Das Geistige in der Kunst, Bern 1952, S. 51f. (erste Auflage: München 1912)

 

 

 

Nicht ein Mensch, nicht ein Apfel, nicht ein Baum werden dargestellt, sondern das alles wird von Cézanne gebraucht zur Bildung einer innerlich malerisch klingenden Sache, die Bild heißt. So nennt auch schließlich seine Werke einer der größten neuesten Franzosen- Henri Matisse. Er malt »Bilder« und in diesen »Bildern« sucht er das »Göttliche« wiederzugeben. Um dieses zu erreichen, braucht er keine anderen Mittel, als den Gegenstand (Mensch oder sonst etwas) als Ausgangspunkt und die der Malerei und nur ihr eigenen Mittel-Farbe und Form. Durch rein persönliche Eigenschaften geleitet, als Franzose speziell und vorzüglich koloristisch begabt, legt Matisse Schwerpunkt und Übergewicht auf die Farbe. Ebenso wie Debussy kann er sich lange nicht immer von der gewohnten Schönheit befreien: der Impressionismus rollt ihm im Blut. So trifft man bei Matisse unter Bildern, die von großer innerer Lebendigkeit sind, von dem Zwange der inneren Notwendigkeit hervorgerufen, auch andere Bilder, die, hauptsächlich durch äußere Anregung, äußere Reize entstanden (wie oft denkt man da an Manet!), hauptsächlich oder ausschließlich nur das äußere Leben besitzen. Hier wird die spezifisch französische verfeinerte, gourmante, rein melodisch klingende Schönheit der Malerei auf eine über Wolken stehende kühle Höhe gezogen.

 

Nie unterliegt diesem Schönen der andere große Pariser, der Spanier Pablo Picasso. Immer durch Selbstäußerungszwang geführt, oft stürmisch hingerissen, wirft sich Picasso von einem äußeren Mittel zum anderen. Wenn eine Kluft zwischen diesen Mitteln liegt, so macht Picasso einen tollen Sprung, und da steht er auf der anderen Seite zum Entsetzen seiner unmenschlich dichten Schar der Nachfolger. Gerade wähnten sie ihn erreicht zu haben. Nun muß wieder das mühsame Hinab und Hinauf beginnen. So entstand die letzte »französische« Bewegung des Kubismus, über welche im Teil II ausführlich gesprochen wird. Picasso sucht durch Zahlenverhältnisse das Konstruktive zu erreichen. In seinen letzten Werken (1911) kommt er auf logischem Wege zur Vernichtung des Materiellen, nicht aber durch Auflösung desselben, sondern durch eine Art Zerstückelung der einzelnen Teile und konstruktive Zerstreuung dieser Teile auf dem Bild. Dabei scheint er aber merkwürdigerweise den Schein des Materiellen beibehalten zu wollen. Picasso scheut vor keinem Mittel zurück, und wenn ihn die Farbe im Problem der rein zeichnerischen Form stört, so wirft er sie über Bord und malt ein Bild mit Braun und Weiß. Diese Probleme sind auch seine Hauptkraft. Matisse-Farbe. Picasso-Form. Zwei große Weisungen auf ein großes Ziel.