1889 Die Farbenzerlegung

Nach oben  Zurück  Weiter

Paul Signac

 

Die Farbenzerlegung

 

 

Quelle: Signac, Paul: D'Eugène Delacroix au Néoimpressionsme. Paris 1889.

 

Paul Signac, 1863-1935, französischer Maler, neben Seurat der Hauptmeister des Neo-Impressionismus oder Pointiiiismus, auch Divisionismus genannt.

 

 

 

 

Der Neoimpressionismus bedeutet prismatische Zerlegung der Farben und deren Mischung durch das Auge des Beschauers und damit verbunden Ehrfurcht vor den ewigen Gesetzen der Kunst: Rhythmus, Gleichmaß und Kontrast. Diese Malweise ist die notwendige Folge des Impressionismus. - So sehr die Technik der Impressionisten instinktiv ist und flüchtig, so sehr überlegt und beständig ist die der Neoimpressionisten. Sie haben wie die Impressionisten nur reine Farben auf der Palette, sie verwerfen jedoch unter allen Umständen jede Mischung auf der Palette, ausgenommen die Mischung von im Farbenkreis benachbarten Farben. Diese, untereinander abgestuft und mit Weiß erhellt, erzeugen die Mannigfaltigkeit der Farben des Prismas und alle ihre Abstufungen. - Durch die Verwendung von einzelnen Pinselstrichen, deren Größe in einem richtigen Verhältnis zur Größe des Bildes selbst steht, gehen die Farben bei richtigem Abstand im Auge eine Mischung ein. — Durch kein anderes Mittel läßt sich mit Genauigkeit das Spiel und Zusammentreffen kontrastierender Elemente festhalten; z.B. das richtige Quantum Rot, das sich im Schatten eines Grün befindet, die Wirkung eines Orangelichts auf eine blaue Lokalfarbe oder umgekehrt eines blauen Schattens auf eine orange Lokalfarbe. Wenn man diese Elemente anders als durch optische Mischung kombiniert, ergibt sich eine schmutzige Farbe. Wenn man die Pinselstriche zusammenmischt, erhält man Schmutzfarben, wenn man sie in reinen, aber nicht genau abgewogenen Strichen nebeneinandersetzt, ist keine systematische Verteilung möglich. [...]

 

Das Ziel der Farbenzerlegung ist, der Farbe höchstmöglichen Glanz zu geben, durch die Mischung der nebeneinandergesetzten Farbteile im Auge farbiges Licht zu erzeugen, den Licht- und Farbenglanz der Natur. Aus dieser Quelle aller Schönheit schöpfen wir die Grundbestandteile unserer Werke. Aber der Künstler soll diese Elemente auswählen. Ein Bild in Linien und Farben von einem echten Künstler komponiert stellt eine über-legtere Gestaltung dar als das Kopieren der Natur, wie sie der Zufall bietet. Die Technik der Farbenzerlegung sichert nämlich dem Werk vollkommene Harmonie - divina proportione - durch die richtige Verteilung und genaue Abwägung dieser Elemente nach den Regeln der Kontrastwirkung, Abstufung und Strahlung. Die Neoimpressionisten wenden diese Regeln, welche die Impressionisten nur hier und da und instinktiv beobachteten, stets und strengstens an. - Die Neoimpressionisten messen der Form des Pinselstrichs keine Bedeutung bei, denn er dient ihnen nicht als Ausdrucksmittel der Modellierung, des Gefühls oder der Nachbildung der Form eines Gegenstandes. Für sie ist der Pinselstrich nur einer der zahllosen Bestandteile, deren Summe das Bild ausmacht; ein Element, das dieselbe Rolle spielt wie die Note in einer Symphonie. Traurige oder heitere Empfindungen, ruhige oder bewegte Stimmungen werden nicht mehr durch die Virtuosität der Pinselführung ausgedrückt, sondern durch die Verbindung von Linien, Farben und Tönen. - Die Kunst des Koloristen hängt offenbar in gewisser Hinsicht mit der Mathematik und der Musik zusammen. - Vor einer frischen Leinwand sollte der Maler vor allen Dingen bestimmen, welche Linien- und Flächenwirkungen dieselbe überziehen, welche Farben und Töne sie bedecken sollen. - Die Farbenzerlegung ist ein Harmonie anstrebendes System, mehr eine Ästhetik als eine Technik. - Der Maler unterzieht sich der langwierigen Aufgabe, seine Leinwand von oben nach unten und von rechts nach links mit vielfarbigen Pünktchen zu betupfen. Er geht vom Kontrast zweier Töne aus, stellt auf jeder Seite die einzelnen Elemente gegenüber und gleicht sie aus. bis ihm ein anderer Kontrast zum Motiv einer neuen Kombination wird, und in dieser Weise von Kontrast zu Kontrast weitergehend, füllt er seine Leinwand. Er spielt mit der Skala seiner Farben, wie der Komponist bei der Orchestrierung einer Symphonie die verschiedenen Instrumente behandelt. Nach seinem Ermessen mäßigt er den Rhythmus und den Takt, stimmt ein Element herab oder steigert es, moduliert eine andere Nuance bis ins Unendliche, ganz der Freude hingegeben, Spiel und Kampf der sieben prismatischen Farben zu lenken, wird er dem Musiker gleich, der die sieben Noten der Tonleiter variiert, um die Melodie zu erzeugen. - Die Bilder der Neoimpressionisten sind weder Studien noch Staffeleibilder, sondern Beispiele einer Kunst von großer dekorativer Entfaltung, welche die Anekdote der Linie, die Analyse der Synthese, das Flüchtige dem Beständigen opfert und der Natur, die mittlerweile der zweifelhaften Verwirklichungen müde war, eine unantastbare Wahrheit verleiht. [...]

 

1899