Wassily Kandinsky Über abstrakte Kunst 1931

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Betrachtungen über die abstrakte Kunst

 

1930 erschien die erste große Kandinsky-Monografie von Will Grohmann im Verlag Cahiers d’Art in Paris, und damit begann das Interesse für ihn in der Stadt, die sich so gern als führend und avantgardistisch in der Kunst ausgibt. Daß Kandinsky über 60 Jahre alt werden mußte, bis er in Paris einigermaßen zu Anerkennung gelangte, wirft immerhin ein eigenartiges Licht auf den Pariser «Kunstbetrieb».

 

In Cahiers d’Art No 1/1931, herausgegeben von Christian Zervos in Paris, erschien dann von Kandinsky der Aufsatz «Réflexions sur l’Art Abstrait». Obschon seit jeher sogenannte «abstrakte Kunst» in Paris entstand, – waren doch Kupka, Mondrian, Vantongerloo, van Doesburg, Arp seit Jahren in Paris tätig, bestand doch schon das Manifest Art concret von van Doesburg (1930), Cercle et Carré, herausgegeben von Michel Seuphor, und war die internationale Vereinigung «Abstraction-Création» im Entstehen –, war es nötig, daß Kandinsky einen grundsätzlichen Aufsatz für Cahiers d’Art schrieb, der nochmals darstellen mußte, wann «Kunst» = «Kunst» sei. Man konnte sich damals in Frankreich noch schwer derartige Gedankengänge vorstellen. Der Kubismus hatte die Entwicklung auf Jahre hinaus blockiert.

 

 

Die «abstrakten» Maler sind die Angeklagten, das heißt also, daß sie sich verteidigen müssen. Sie müssen beweisen, daß die «gegenstandslose» Malerei wirklich Malerei ist und neben der anderen ihre Existenzberechtigung hat.

 

Diese Art der Fragestellung ist ungenau und ungerecht.

 

Ich werde versuchen, die Frage umzukehren und von den ausschließlichen Parteigängern der gegenständlichen Malerei verlangen, daß sie beweisen: ihre Malerei sei die einzig wahre.

 

Mit andern Worten: daß die Parteigänger der gegenständlichen Malerei beweisen, daß der Gegenstand in der Malerei ebenso unentbehrlich ist wie die Farbe und die Form (in einem gewissen Sinne), ohne die man sich die Malerei nicht denken könnte.

 

Die Erfahrung verschiedener Zeitalter hat Gemälde hervorgebracht, die nicht in der Darstellung ihre Zuflucht suchten und die auf diese Weise besonders den Wert der unentbehrlichen Elemente – Form und Farbe – vergrößerten.

 

Einige unserer heutigen «abstrakten» Malereien sind im besten Sinne des Wortes mit künstlerischem Leben begabt: sie haben den Pulsschlag des Lebens, die Ausstrahlung, und sie üben auf das Innere des Menschen durch Vermittlung des Auges eine Bewegung aus. Auf eine rein mährische Weise. Ebenso gibt es unter den heutigen gegenstandslosen Bildern nicht nur solche, die mit künstlerischem Leben, im besten Sinne des Wortes, begabt sind.

 

Ich möchte kurz bemerken, daß die Etikette «abstrakt» zum Irrtum verleitet und schädlich ist, wenn man sie buchstäblich nimmt. Aber soviel ich weiß, wurde zu ihrer Zeit die Etikette «impressionistisch» ausgedacht und angewendet, um dieser Bewegung eine Wendung ins lächerliche zu geben. Der Ausdruck «Kubismus», wörtlich genommen, ist eine schädliche Banalisierung des Neuen im Kubismus. Die Vorwürfe, die man der abstrakten Malerei macht, sind mir seit langem bekannt.

 

Sie wäre eine Sackgasse: Haben die Impressionisten, Kubisten, Expressionisten und Nachimpressionisten nicht ganz genau dieselben Prophezeiungen hören müssen? Alle diese «Richtungen» – denn so nennt man im allgemeinen die Entdeckungen – wurden von der Presse, dem Publikum und selbst den Künstlern als «anarchisch» betrachtet (damals gab es noch keinen Bolschewismus), die das «ewige» Grundgesetz der Malerei bedrohen und zerstören. Man tröstete sich, indem man sagte, daß sie in eine Sackgasse führten. Man versicherte, daß die Impressionisten die Kunst durch ihre Liebe zur Landschaft erniedrigten und daß diese Liebe einer katastrophalen Abnahme der schöpferischen Kraft entspräche. Man sprach nicht nur von einer Sackgasse, sondern vom Ende der Kunst. Was Beispiele anbetrifft, so ist es nicht schwer, sie in der Kunstgeschichte zu finden.

 

Die Natur der Kunst bleibt stets unwandelbar, wenn es sich zum Beispiel um Malerei oder Musik handelt. Wäre es möglich, einen Menschen zu finden, der behauptet, daß das Lied oder die Oper allein dem wahren Wesen der Musik entsprechen, und daß die reine symphonische Musik intellektuell und erkünstelt sei und in einer Sackgasse endige! Es gab eine Zeit, wo man solche Behauptungen zu hören bekam.

 

Nur was dem Geist den Rücken kehrt, gerät in Sackgassen. Hingegen öffnet das, was aus dem Geist geboren wird und ihm dient, alle Sackgassen und führt zur Freiheit.

 

Intellektuelle Arbeit. – Es ist immer ein wenig abträglich, sich nur auf die Vergangenheit zu stützen. Es ist gefährlich zu behaupten, daß die Neuheiten Irrtümer wären, weil es sie noch niemals gegeben hat. Und schon aus dem Grund, weil unsere Kenntnis der Vergangenheit sehr mangelhaft ist. Tatsächlich kann man sehr oft in der Vergangenheit Erscheinungen finden, die zum mindesten eng verschwägert sind mit den «allerneuesten» Phänomenen, und die es noch niemals gegeben zu haben scheint; denken wir zum Beispiel an Frobenius und an seine neuesten Entdeckungen.

 

Was die intellektuelle Arbeit angeht, so sind wir im Recht zu versichern, daß es in der Kunstgeschichte Zeiten gab, in denen die Mitarbeit der Vernunft (intellektuelle Arbeit) nicht bloß eine wichtige, sondern eine entscheidende Rolle spielte. Es wäre also unleugbar, daß die intellektuelle Arbeit manchmal eine notwendige Kraft der Mitarbeit ausmacht.

 

Wir können außerdem auch ganz mit Recht behaupten, daß bis zur Gegenwart die intellektuelle Arbeit als solche, das heißt ohne intuitives Element, niemals lebende Werke hervorbrachte.

 

Aber man kann ferner nur «überzeugt» sein, «fest glauben», prophezeien, daß es niemals anders ist mit diesem Verhältnis, weil es anders gar nicht sein kann.

 

Das ist auch meine persönliche «Überzeugung», ohne daß ich sie auf rein theoretische Weise begründen könnte. Ich kann nur aus persönlicher Erfahrung sprechen: meine verschiedenen Versuche, von Anfang bis zu Ende auf eine ausschließliche vernunftgemäße Art zu verfahren, haben niemals zu einer wahren Lösung geführt. Ich zeichnete zum Beispiel das geplante Bild gemäß mathematischer Proportionen auf eine berechnete Fläche; aber schon die Farbe veränderte die Proportionen der Zeichnung so gründlich, daß man es nicht bloß der «Mathematik» allein zuschreiben konnte.

 

Das weiß jeder Künstler, für den die Elemente lebende Dinge sind. Außerdem sind allein in der Farbe (indem man sie so weit wie möglich von der Form abstrahiert) die mathematische «Mathematik» und die «malerische» Mathematik gänzlich voneinander verschiedene Bereiche. Wenn man zu einem Apfel eine immer größer werdende Zahl Äpfel hinzufügt, vermehrt sich die Zahl der Äpfel, und man kann sie zusammenzählen. Aber wenn ich zu einem Gelb immer mehr Gelb hinzufüge, vermehrt sich das Gelb nicht, sondern verringert sich (das, was wir am Anfang haben und das, was zum Schluß blieb, kann nicht berechnet werden).

 

Unglücklich derjenige, der sich allein der Mathematik – der Vernunft überläßt.

 

Das Grundgesetz, das die Arbeitsmethode und die Energien des «gegenständlichen» und des «ungegenständlichen» Malers lenkt, ist absolut das gleiche.

 

Die normalen Werke der abstrakten Malerei entspringen der gemeinsamen Quelle aller Künste: der Intuition.

 

Die Vernunft spielt in allen diesen Fällen die gleiche Rolle: sie arbeitet mit, ob es sich nun um Werke handelt, die die Natur nachahmen oder nicht, aber immer als sekundärer Faktor.

 

Die Künstler, die sich «reine Konstruktivisten» nennen, haben verschiedene Versuche gemacht, um auf einer rein materialistischen Basis zu konstruieren. Sie suchten das «veraltete» Gefühl (Intuition) wegzuschaffen, um der «vernünftigen» Gegenwart mit Mitteln zu dienen, die ihr angepaßt sind. Sie vergaßen, daß es zwei Mathematiken gibt. Und außerdem konnten sie niemals eine klare Formulierung aufstellen, die sich auf alle Verhältnisse des Bildes erstreckte. Sie waren somit gezwungen, entweder schlechte Bilder zu malen, oder die Vernunft durch «veraltete» Intuition zu korrigieren.

 

Henri Rousseau sagte eines Tages, daß seine Bilder besonders gut gelungen wären, wenn er in sich auf eigentümliche Art klar «die Stimme seiner verstorbenen Frau» vernahm. Ebenso rate ich meinen Schülern denken zu lernen, aber Bilder nur zu malen, wenn sie die Stimme «ihrer verstorbenen Frau» hören.

 

Geometrie. – Warum wird nun ein Gemälde, in welchem sich «geometrische» Formen befinden, «geometrisch» genannt, und ein Gemälde, in dem Pflanzenformen vorkommen, nicht «botanisch»?

 

Oder kann man vielleicht ein Bild, auf dem eine Gitarre oder eine Violine dargestellt ist, «musikalisch» nennen?

 

Man wirft einigen «abstrakten» Malern vor, daß sie sich für Geometrie interessieren. Als ich Anatomie an der Malschule studieren mußte (woran ich keineswegs Geschmack fand, um so mehr als der Unterricht des Anatomieprofessors schlecht war) sagte mir mein Lehrer Anton Azbe: «Sie müssen die Anatomie kennen, doch vor der Staffelei müssen Sie sie vergessen.»

 

Nach der Landschaftsperiode, als diese «zugelassen» war, wurden die Presse, das Publikum und selbst die Künstler von einem neuen Schrecken erfaßt, da man plötzlich mehr und mehr «Stilleben» (natures mortes) zu malen anfing. Die Landschaft ist wenigstens etwas Lebendes (nature vivante), sagte man damals, und nicht umsonst nennt man diese «nature» «morte».

 

Aber der Maler hatte zurückhaltende, stille, fast unbedeutende Gegenstände nötig. Wie still ist ein Apfel gegen einen Laokoon!

 

Ein Kreis ist noch stiller. Mehr noch als ein Apfel. Unser Zeitalter ist nicht ideal, aber unter den seltenen wichtigen «Neuigkeiten» oder den neuen Eigenschaften des Menschen muß man die wachsende Fähigkeit zu schätzen wissen: einen Klang in der Stille zu hören. Und so wie der geräuschvolle Mensch durch die stillere Landschaft, wurde die Landschaft selbst durch das noch stillere Stilleben ersetzt. Man ging noch einen Schritt weiter. Heutzutage sagt ein Punkt im Bilde manchmal mehr als ein menschliches Gesicht.

 

Eine Vertikale, die sich einer Horizontalen verbindet, erzeugt einen fast dramatischen Klang. Die Berührung des spitzen Winkels eines Dreiecks mit einem Kreis hat in der Tat nicht weniger Wirkung als die des Finger Gottes mit dem Finger Adams bei Michelangelo.

 

Und wenn die Finger nicht Anatomie oder Physiologie sind, sondern mehr, nämlich malerische Mittel, sind Kreis und Dreieck nicht Geometrie, sondern mehr: malerische Mittel. Zuweilen spricht die Stille sogar stärker als das Laute, und die Stummheit bekommt eine klare Beredsamkeit.

 

Die abstrakte Malerei kann natürlich außer den sogenannten sehr strengen, geometrischen Formen von einer unbegrenzten Zahl sogenannter freier Formen Gebrauch machen und neben den primären Farben eine unbegrenzte Menge unerschöpflicher Abtönungen verwenden, – jedesmal im Einklang mit dem Ziel des gegebenen Bildes. Was den Grund betrifft, weshalb sich diese scheinbar neue Fähigkeit bei den Menschen zu entwickeln beginnt, würde uns hier zu weit führen. Es genügt hier zu sagen, daß sie mit der scheinbar neuen Fähigkeit verbunden ist, die es dem Menschen erlaubt, unter der Oberfläche der Natur sein Wesen, seinen «Inhalt» zu spüren. Mit der Zeit wird man schlagend beweisen, daß die «abstrakte» Kunst nicht die Verbindung mit der Natur ausschließt, sondern daß im Gegenteil diese Verbindung größer und intensiver ist als je in jüngster Zeit.

 

Die Geister, die beim Anblick einiger Dreiecke in einem Gemälde Gefangene dieser Dreiecke bleiben, und die somit unfähig sind, die Malerei zu sehen, sind dieselben Geister, die auf jede männliche Figur der Antike Feigenblätter anbringen ließen.

 

Aber ich glaube, daß selbst das Feigenblatt ihnen niemals für die plastische Form des Altertums die Augen hat öffnen können. Vergessen wir übrigens nicht, was ein großer Theatermann, Nelidoff, in seiner Geschichte des russischen Theaters gesagt hat: daß nichts mit solcher Erbitterung bekämpft wird als eine neue Form in der Kunst.

 

Die ungewohnte Form verdeckt den Gehalt: so ist es bei den meisten Menschen.

 

Allein die Zeit ist fähig, diesen Stand der Dinge zu ändern.