Wassily Kandinsky - Die kahle Wand 1929

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Die kahle Wand

 

«Die kahle Wand» ist am 1. April 1929 im Kunstnarr, herausgegeben von Ernst Kállai, erschienen. In diesem Aufsatz wird von Kandinsky eine Tendenz, die am Bauhaus wie eine schleichende Krankheit begann, dargestellt und begrüßt, nämlich das, was wir heute als die «Mal-Krankheit» bezeichnen möchten. Diese Krankheit entstand dadurch, daß man zeitweise die «Kunst» allgemein aus dem Bauhaus verbannen wollte, anstatt sie wirklich zu integrieren. So wurde sie in die Malerei – vor allem in die heimliche – verdrängt. An der «Mal-Krankheit» kann selbst eine gesunde Institu- tion demoralisieren. Malerei – und das hat Kandinsky damals leider noch nicht in der heutigen Bedeutung erkennen können –, ist wirklich nur geistig gesicherten Naturen zuträglich. Für die andern ist sie «der bequeme Ausweg» aus den Tagesproblemen – eine Flucht aus der Synthese von Kunst und Leben, wie wir sie heute auffassen.

 

 

 

Die kahle Wand! …

 

Die Idealwand, an der nichts steht, an die nichts angelehnt ist an der kein Bild hängt, an der nichts zu sehen ist.

 

Die egozentrische, die «an und für sich» lebende, die sich behauptende, die keusche Wand.

Die romantische Wand.

 

Auch ich liebe die kahle Wand, weil sie einer der Klänge der neuen kommenden Romantik ist.

Der Verkünder der kahlen Wand, die Gegner der Romantik sind heute sehr gute Freunde der Kunst und speziell der Malerei.

 

Sogar ganz besonders der Malerei, weil sie unter allen Künsten nur die Malerei bekämpfen.

Wer die kahle Wand erleben kann, ist am besten zum Erleben eines malerischen Werkes vorbereitet:

 

die zweidimensionale, tadellos glatte, vertikale, proportionierte, «schweigende», erhabene, sich behauptende, in sich gekehrte, von außen begrenzte und nach außen ausstrahlende Wand ist ein fast primäres «Element».

 

Und das primäre Element ist das «A» des Kunstverstandes, nach dem das «B» unvermeidlich kommen muß: es muß, da es kann.

 

Die Biermusik ist laut und donnernd wie eine bürgerliche Durchschnittswohnung. Der heutige Mensch ist betäubt – er kann nur Lautes empfinden. Wenn er nicht am Kragen gepackt und nicht ordentlich geschüttelt wird, bleibt er unberührt.

 

Aber das Laute ist nur ein Teil des Ganzen – wer weiß, ob das Leise (und Schweigsame) nicht ein noch wichtigerer Teil des Ganzen ist? Wir Maler sind unseren «Feinden» zu Dank verpflichtet, weil sie unsere Freunde sind.

 

Je nach «Richtung» und Gesinnung wird verschiedenes vom heutigen Maler verlangt. Besonders vom «abstrakten».

 

Manche verlangen von uns, daß wir nur Wände anstreichen. Und nur innen.

Manche wünschen, daß wir die Häuser von außen anstreichen. Und nur von außen.

Manche verlangen von uns, daß wir die Industrie bedienen, daß wir Muster für Stoffe, Krawatten, Socken, Geschirr, Sonnenschirme, Aschenbecher, Teppichläufer liefern.

 

Nur Kunstgewerbe.

 

Wir sollen nur das Bildermalen für alle Zeiten lassen. Manche sind wieder gütiger und gestatten uns, Bilder direkt auf Wände zu malen, wenn wir auf die Staffeleimalerei verzichten.

 

Je nach «Richtung» und Gesinnung wird dem heutigen Maler verboten:

 

das Staffeleibildmalen, das Wandmalen, das Bemustern der Stoffe und aller anderen Gegenstände, das Wandanstreichen von außen, das Wandanstreichen von innen, das Malen überhaupt.

 

Es gibt heute Menschen, welche die Malerei lieben. Sie finden manchmal, daß heute keine «richtige» Malerei getrieben wird.

 

Das Verlassen der alten sicheren Tradition durch die Maler wird nach Meinung dieser kunstliebenden Menschen durch Unfruchtbarkeit gestraft.

 

Wie oft wird mündlich und schriftlich getrauert: es gäbe keinen «Nachwuchs». «Immer dieselben langsam alternden Maler – und wo ist die Jugend, welche die ‚heilige Fahne‘ der Kunst übernehmen sollte und könnte?»

 

«Die Malerei entartet und geht zugrunde.» Die einen trauern, die andern freuen sich. Die einen trauern, die andern freuen sich, daß im Bauhaus gemalt wird, daß es nicht nur die «Meister» tun, sondern daß es auch die Jugend tut, daß es im Bauhaus seit bald zwei Jahren einen regelrechten Unterricht gibt – außer der praktischen «Werkstatt für Wandmalerei» wird jetzt die Malerei auch in den unpraktischen «freien Malklassen» kultiviert.

 

Man begegnet aber in demselben Bauhaus Studierenden, die weder in der praktischen Abteilung, noch in den unpraktischen Malklassen zu finden sind und die sich trotzdem «freimalerisch» betätigen: es malen zum Beispiel Tischler, Metallisten, Weberinnen, sogar Architekten.

Sogar Architekten.

 

Ist es ein Wunder, daß alle diese jungen Menschen die kahle Wand lieben, obwohl sie oft gar nicht wissen, wie romantisch sie ist?

 

Sie malen aus innerem Bedürfnis und zweifeln nicht an der Zukunft der Malerei. Wenn sie theoretisieren, so machen sie auch dies malerisch, das heißt künstlerisch.

 

Das abgestorbene Wort Kunst ist ausgerechnet im Bauhaus auferstanden. Und mit dem Wort ist die Tat verbunden.

 

Glücklicherweise und endlich verschwinden von den Wänden dank unseren Freunden (der kahlen Wand) die Mißgeburten der Malerei. Und nicht nur wir, geduldige, ausharrende, wenn auch «langsam alternde Meister», sondern mit uns wird auch die heranwachsende Jugend dafür sorgen, daß die kahle Wand dort, wo es nötig ist, weiter kahl bleibt, und daß die anderen Wände nicht wieder mit Mißgeburten vollgestopft werden, sondern «plan- und zweckmäßig» mit schweigender Freude die «malerischen Welten» an sich nehmen. Wer hier einen Anlaß zum Trauern findet, soll ruhig weiter trauern. Wir freuen uns.