Wassily Kandinsky - Kunstpädagogik 1928

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Kunstpädagogik

 

«Kunstpädagogik» erschien in der Zeitschrift bauhaus No 2/3 1928 und kann als die Antwort Kandinskys angesehen werden auf die am Bauhaus sich stärker zu Wort meldende Diskussionsfrage «Warum denn Kunst?» und «Warum Kunsterziehung am Bauhaus?» und schließlich «Warum eine Kunst-Theorie?» Im Text «Die kahle Wand» gibt Kandinsky noch eine weitere Antwort zum gleichen Problem.

 

 

Vor kurzem wurde allgemein und heute wird noch größtenteils der «Kunstunterricht» als ein Sondergebiet betrachtet, das mit den Fragen der «allgemeinen» Bildung fast keine Berührungspunkte hat. Anderseits ist der Begriff der «allgemeinen» Bildung ein durchaus verworrener. Man ist berechtigt zu behaupten, daß es zu unserer Zeit keine allgemeine Bildung ohne « » gibt.

 

Es gibt dagegen unendlich viele «Fachausbildungen», die weder mit der allgemeinen Bildung, noch untereinander irgendwie verbunden sind. So bezweckt auch der heutige Kunstunterricht eine Fachausbildung, die in sich begrenzt bleibt – wie die Fachausbildung eines Mediziners, Juristen, Ingenieurs, Mathematikers.

 

Dieser allgemeinen Sachlage ist die Anschauung entgegengesetzt, daß ein Kunstunterricht überhaupt als solcher nicht existieren könne, weil man Kunst weder lehren, noch lernen könne: die Kunst wäre eine Angelegenheit der reinen Intuition, die naturgemäß gewaltsam oder unterrichtlich nicht zu erzeugen ist.

 

Das einflußreiche Erbe des 19. Jahrhunderts – die extreme Speziali- sierung und das darauf folgende Zersetzen – belastet die sämtlichen Gebiete unseres heutigen Lebens und zwingt auch die Fragen des Kunstunterrichts immer tiefer in eine Sackgasse. Es ist erstaunlich, wie wenig Konsequenzen aus den Ereignissen der letzten Jahrzehnte gezogen wurden und wie selten der Verstand für den inneren Sinn der großen «Verschiebung» zu bemerken ist.

 

Dieser innere Sinn, oder die innere Spannung der weiteren «Entwicklung» sollte zur Grundlage jedes Unterrichts gelegt werden; die Zerstückelung wird allmählich durch Verbindung ersetzt. Das «entweder – oder» muß den Platz dem «und» räumen. Eine Fachausbildung ohne allgemein-menschliche Grundlage sollte nicht mehr möglich sein. Es fehlt heute in jedem Unterricht – fast ohne Ausnahme – eine «Weltanschauung» inneren Charakters oder die «philosophische» Grundlage des Sinnes der menschlichen Tätigkeit. Merkwürdiger- weise werden noch heute junge Leute auf die veraltete und innerlich tötende Weise zu Fachmenschen erzogen, die im äußeren Leben sehr brauchbar sein können, aber nur ganz selten auch einen rein menschlichen Wert darstellen.

 

Der Unterricht besteht in der Regel in einem mehr oder weniger ge- waltsamen Aufhäufen von Einzelkenntnissen, welche die Jugend sich aneignen soll und mit welchen sie außerhalb ihres «Faches» nichts anfangen kann. Selbstverständlich bleibt dabei die Fähigkeit der Verbindung, mit anderen Worten die Fähigkeit des synthetischen Beobachtens und Denkens so wenig berücksichtigt, daß sie größten- teils verkümmert.

 

Der Hauptzweck jedes Unterrichts sollte die Entwicklung des Denkvermögens in zwei gleichzeitig vor sich gehenden Richtungen sein:

 

1. der analytischen und

2. der synthetischen.

 

Wir sollen also das Erbe des letzten Jahrhunderts weiter ausnützen (Analyse = Zersetzung) und gleichzeitig durch die synthetische Einstellung so ergänzen und vertiefen, daß die Jugend die Fähigkeit bekommt, bei scheinbar weit voneinander liegenden Gebieten eine lebendige, organische Verbindung zu empfinden und zu begründen (Synthese = Verbindung).

 

Dann würde die Jugend die starr gewordene Atmosphäre des «entweder – oder» verlassen und sich in die biegsame, lebendige Atmosphäre des «und» begeben – Analyse als Mittel zur Synthese. Daraus ist die Folgerung leicht zu ziehen, daß

 

1. die Hauptbasis jeder Erziehung oder jedes Unterrichts immer dieselbe bleibt,

2. also der Kunstunterricht kein von jedem anderen Unterricht ab- gesondertes Gebiet ist und

3. in erster Linie nicht das wichtig ist, was unterrichtet wird, sondern wie.

 

Der Punkt 3 soll nicht paradox wirken.

 

Der in der Zeit der Zersetzung entstandene Aberglaube, es gäbe verschiedene Arten des Denkens und also auch der schöpferischen Arbeit, ist vom Standpunkt des «und» definitiv abzulehnen: die Den- kensart und der Prozeß der schöpferischen Arbeit unterscheiden sich auf verschiedensten Gebieten der menschlichen Tätigkeit nicht im geringsten voneinander – sei es die Kunst, Wissenschaft, Technik. Das maßgebende ist dabei, ob die Art des Beibringens von Fachkenntnissen (Unterricht) sich mit dem Aufhäufen von diesen Kenntnissen zufriedenstellt, oder in erster Linie die Fähigkeit des analytisch-synthetischen Denkvermögens zu entwickeln und zu kultivieren sucht. Es ist für einen Künstler fruchtbarer, Fachkenntnisse aus einem fremden Gebiet zu sammeln mit der Bedingung des erwähnten Denkvermögens, als eng in seinem Fach «ausgebildet» zu werden und im erwähnten Denken wie vorher unfähig zu bleiben.

 

Es braucht nicht weiter bewiesen zu werden, daß der ideale Unterricht in jedem «Fach» aus 2 Teilen bestehen sollte, die unzertrennlich mit- einander verbunden werden müßten:

 

1. die Erziehung zum analytisch-synthetischen Beobachten, Denken und Handeln und

2. systematische Mitteilung und Aneignung von entsprechenden Fachkenntnissen.

 

Dies bezieht sich also selbstverständlich auch auf den Kunstunterricht. Die Kunst ist tatsächlich nicht zu erlernen – ganz genau wie die schöpferische Arbeit und Erfindungskraft in der Wissenschaft oder in der Technik nicht gelehrt oder gelernt werden kann.

 

Die großen Kunstepochen hatten aber immer ihre «Lehre» oder «Theorie», die ebenso selbstverständlich in ihrer Notwendigkeit war, wie es in der Wissenschaft der Fall war und ist. Diese «Lehren» konnten nie das Element des Intuitiven ersetzen, weil das Wissen an und für sich unfruchtbar ist. Es muß sich mit der Aufgabe begnügen, das Material und die Methode zu liefern. Fruchtbar ist die Intuition, die dieses Material und diese Methode als Mittel zum Zweck braucht. Der Zweck kann aber ohne Mittel nicht erreicht werden, und in diesem Sinne wäre auch die Intuition unfruchtbar.

 

Kein «entweder – oder», sondern «und».

 

Der Künstler arbeitet wie jeder andere Mensch auf Grund seiner Kenntnisse mit Hilfe seines Denkvermögens und des intuitiven Moments.

 

Auch in diesem Falle ist der Künstler von jedem anderen schöpferischen Menschen nicht zu unterscheiden.

 

Seine Arbeit ist gesetz- und zweckmäßig.