Wassily Kandinsky - Primäre Elemente der Malerei 1928

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Analyse der primären Elemente der Malerei

 

«Analyse der primären Elemente der Malerei» erschien 1928 in den Cahiers de Belgique. Dieser Text ist auf Grund und unter Verwendung von Zeichnungen aus Punkt und Linie zu Fläche entstanden, als konzentrierte Darstellung der Kunsttheorie, die Kandinsky im Begriff war auszubauen.

 

 

 

 

Es ist mir nicht möglich, in einem kurzen Essay einen so vielseitigen Gegenstand gründlich zu behandeln. Die Gedanken, die ich hier zusammenfasse, werden deshalb unvermeidlich schematischen Charakter haben. Diese Schematik ist nichts anderes als eine Basis, welche die mannigfaltigen ideologischen Entwicklungen notwendiger- weise ausschließt.

 

Man unterscheidet heute – in einer Epoche von «chaotischem» Zustand – verschiedene Erscheinungen der Ordnung, in unterschiedlichen Gebieten: in der Kunst im allgemeinen und in der Malerei im besonderen.

 

Diese Ordnung manifestiert sich speziell in der Malerei durch die wiederaufgenommenen Versuche, eine neue, erstmalige Theorie der Malerei aufzustellen, ausgehend von Prinzipien und hinführend zu einer «Abhandlung über die Komposition».

 

Es ist wahr, daß vielen die Neigung zur Theorie sehr zweifelhaft, wenn nicht gefährlich und gar unselig erscheint. Nicht nur die Historiker, die Künstler selber weichen zurück vor der Reflexion, vor der «Gehirntätigkeit», denn sie befürchten, daß dadurch die reine «Erfindung» in eine Gefahr gebracht werde, deren natürliche Folgerung das Ende jeder Kunst sein müßte.

 

Auf der andern Seite gibt es gewisse Künstler, die so sehr von der Notwendigkeit eines theoretischen Vorgehens überzeugt sind, daß sie zur Ablehnung der intuitiven Phase kommen.

 

Dies bedeutet, daß der anomale Zustand des modernen Denkens das Gleichgewicht zwischen den beiden Phasen Intuition und Reflexion gestört hat.

 

Man kann mit aller Gewißheit annehmen, daß die großen künstlerischen Epochen ihre voll entwickelten Kunsttheorien hatten, von denen man heute noch einige winzige Reste entdeckt. Die «akademische» Epoche, die dem Impressionismus voranging, besaß sicherlich noch die seltenen Fragmente einer von der Vergangenheit vererbten «Kompositionslehre», aber sie machte von ihnen keinen andern Gebrauch als den einer mechanischen Anwendung, die nicht mehr zu plastischen, wirklich lebendigen Organismen führen konnte.

 

Es geschah mehr oder weniger unbewußt, daß der erste Stein zu einer – heute noch jungen – Theorie gelegt wurde, nämlich durch die Impressionisten. Ihr Prinzip wurde entwickelt durch die Neo-Impressionisten (Signac hat das erste theoretische Werk veröffentlicht auf diesem Gebiet), und die Entfaltung setzte sich im Expressionismus, im Kubismus und in den andern Ismen fort.

 

Die abstrakte Malerei war dazu berufen, diesen ersten Theorien eine klare Begründung und eine Methode der Schöpfung und der Verwirklichung zu geben, die sich durch besondere Deutlichkeit auszeichnet.

 

Zu dieser unerläßlichen Klarheit, in ihrer Begründung und in ihrer Methode, kam die Theorie der abstrakten Malerei durch die Betrachtung des objektiven Charakters der malerischen Vorgänge. Schon heute darf man mit Recht annehmen, daß die Theorie der Malerei einen wissenschaftlichen Weg eingeschlagen hat, um, ganz zweifellos, schließlich zu einer präzisen Lehre zu gelangen.

 

Die Aufgaben der Theorie werden sein:

 

1. die Aufstellung eines methodischen Vokabulars aller gegenwärtig zerstreuten und ihres Sinnes verlustig gegangenen Worte,

 

2. die Gründung einer Grammatik, welche Regeln der Konstruktion enthält.

 

So wie die Worte der Sprache, werden die plastischen Elemente wieder erkannt und bestimmt werden.

 

Wie in der Grammatik werden Gesetze der Konstruktion aufgestellt werden, wobei in der Malerei die Kompositionslehre dieser Grammatik entspricht.

 

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1. Wiederholung einer geraden Linie mit Gewichtsänderung.
2. Wiederholung eines Winkels.
3. Gegensätzliche Wiederholung eines Winkels erzeugt Fläche.
4. Wiederholung einer Gebogenen

Die abstrakte Malerei  versucht also diese Elemente zu gruppieren, und zwar vielleicht auf folgende Weise:

1. durch genaue Bestimmung der primären Elemente und Benennung derjenigen, die sich von ihnen ableiten und bereits differenzierter und komplizierter sind (der analytische Teil).

2. durch Feststellung der möglichen  Gesetze der Anordnung  dieser Elemente in einem Werk (der synthetische Teil).

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5. Wiederholung von entgegengesetzten Kurven, neue Flächenschöpfung.
6. Zentralrhythmische Wiederholung einer Geraden.
7. Zentralrhythmische Wiederholung einer Kurve.
8. Wiederholung einer Kurve, die durch eine Begleitkurve zerteilt wird.
9. Gegensätzliche Wiederholung einer Kurve.

Das primäre Element der gezeichneten Form ist der Punkt, der unteilbar ist. Alle Linien entstammen organisch diesem Punkt:

 

A. Linien:

I. Gerade:

a) horizontale

b) vertikale

c) diagonale

d) gerade

II. Winklige oder Quadratlinien:

a) geometrische

b) freie – in horizontaler, vertikaler und anderen Richtungen

III. Kurven:

a) geometrische

b) freie – in den gleichen Arten wie unter II.

 

B. Flächen:

1. Dreieck

2. Viereck

3. Kreis

4. Formen, die freier als diese drei fundamentalen Formen sind

5. Freie Flächen, die nicht der Geometrie entstammen.

 

Ich bestehe auf dem sehr bedingten Charakter des Ausdrucks «Zeichnung», den ich wegen folgender Formen gewählt habe: die zeichnerische Form ist, in ihrer letzten Analyse, plastisch, nämlich in Anbetracht dessen, daß «Kontur» und «Farbe» in der Malerei gleichwertige Elemente sind. Theoretisch müssen jedoch die beiden Arten unterschieden werden.

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Spannungen aus dem Zentrum

Die Elemente der Zeichnung  und die plastischen Elemente stehen untereinander in einer ständigen organischen Beziehung.

Man erkennt diese Beziehung an den Spannungen, die nichts anderes sind als die inneren Kräfte der Elemente.

Diese inneren Kräfte, die ich Spannungen nenne, sind ausschließlich aktive Kräfte, und zwar in der Theorie so gut wie in der Praxis. In einem so weit wie möglich  isolierten Element muß die Spannung  als absolut betrachtet werden.

In Verbindungen von zwei oder mehr  Elementen  bestehen die absoluten Spannungen  fort, aber sie erhalten einen relativen Wert. Diese relativen Werte gehören zu den einzigen Ausdrucksmitteln der Komposition, das heißt  sie dienen dem  Gegenstand  als alleiniges Mittel und durch sie drückt er sich aus.

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Verteilung von Gewichten

Ich kann hier nur einige Beispiele geben von der organischen  Beziehung zwischen der gemalten Form und der gezeichneten Form, ohne sie näher zu begründen (Der Leser findet näher  begründete Entwicklungen in meinem Buch Punkt und Linie zu Fläche.).

Winkel

Fläche

Farbe

Gelb

Rot

Blau

 

Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß diese Beziehungen, die im Prinzip unveränderlich sind, nur theoretisch betrachtet werden dürfen. In der Praxis können die plastischen Formen und die gezeichneten Formen anders und nach allen möglichen Weisen kombiniert werden, was zu wichtigen Folgerungen führt.

Theoretisch  gesehen, ist das Dreieck  immer gelb. In der Praxis jedoch ergibt diese Verbindung:

1  (absoluter Wert des Dreiecks)  +  1 (absoluter Wert von gelb) = 2.

Ein blaues Dreieck wird ergeben:

1 (Dreieck) +  1 (gelb) +  1 (zusätzlicher Wert des «Harmonischen») = 3.

Die erste Kombination ist sozusagen von «Lyrismus», die zweite von «Dramatik»  gefärbt. Beide sind in der Praxis möglich, aber da sie in den Resultaten verschieden sind, müssen sie mit genauem Wissen um die Natur des Inhalts verwendet werden.

Der Inhalt ist nichts anderes als die Summe der organisierten Spannungen. Von diesem Gesichtspunkt aus entdeckt man die ursprüngliche Identität der Gesetze der Komposition in allen Künsten – unter der Annahme, daß die Künste ihren Gegenstand nicht anders materiell darstellen können als durch organisierte Reaktionen.

Hier findet man nun auch die Lösung eines zukünftigen «synthetischen» Werkes und hier wird deutlich  erkennbar, wieso dieses verloren ging.

Von diesem Gesichtspunkt aus entdeckt man  ferner die innige Beziehung zwischen Kunst und Natur: so wie die Kunst, «arbeitet» auch die Natur mit ihren eigenen Mitteln  (das primäre Element in der Natur ist ebenfalls der Punkt), und heute schon kann man mit Sicherheit annehmen, daß die Wurzel der Gesetze der Komposition die gleiche ist sowohl in der Kunst wie in der Natur.

Die Beziehung zwischen Kunst und Natur (oder dem «Gegenstand», wie man  heute sagt) besteht nicht darin, daß die Malerei niemals zu kommen wird, die Darstellung der Natur  oder des Gegenstandes zu vermeiden, sondern sie besteht darin,  daß die beiden «Domänen» ihre Werke in einer ähnlichen oder gleichen Art und Weise verwirklichen, und sie müssen – unmittelbar wie sie erblüht  sind und unabhängig wie sie leben – so genommen werden, wie sie sind.