Wassily Kandinsky - Wert des theoretischen Unterrichts 1926

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Der Wert des theoretischen Unterrichts in der Malerei

 

«Der Wert des theoretischen Unterrichts in der Malerei» entstand 1926 für No 1 der Zeitschrift bauhaus, herausgegeben in Dessau von Walter Gropius und Ladislaus Moholy-Nagy. Kandinsky setzt sich hier vor allem mit dem «Unterricht» in der Malerei auseinander, so wie er um jene Zeit am Bauhaus aufgefaßt wurde. In der Gruppe 2 stellt Kandinsky dar, was er darunter versteht: Malerei als zen- traler Ausgangspunkt, aber mit der Möglichkeit, ihre Grenzen zu überschreiten. Gewissermaßen Malerei als «Allgemeinbildung».

 

 

 

Beim Unterricht in der Malerei können verschiedene Methoden verwendet werden, wobei aber diese Methoden in zwei große Gruppen geteilt bleiben:

 

1. die Malerei wird als Selbstzweck behandelt, das heißt der Studierende wird zum Maler ausgebildet: er bekommt auf der Schule die dazu notwendigen Kenntnisse – soweit es durch den Unterricht zu erreichen ist – und braucht nicht unbedingt die Grenzen der Malerei zu überschreiten, oder

 

2. die Malerei wird als eine mitorganisierende Kraft behandelt, das heißt der Studierende wird über die Grenzen der Malerei, aber durch ihre Gesetzmäßigkeit zum synthetischen Werk geleitet.

 

Dieser zweite Standpunkt bildet die Grundlage des malerischen Unterrichts im Bauhause. Auch hier können natürlich verschiedene Methoden verwendet werden. Was speziell meine Richtlinie anlangt, so muß meiner Meinung nach folgendes als Hauptzweck und schließlich als Endzweck diese Richtlinie lenken:

 

1. Analyse der malerischen Elemente in ihrem äußeren und inneren Wert,

 

2. Beziehungen dieser Elemente zu denjenigen der anderen Künste und der Natur,

 

3. Aufbau der malerischen Elemente in thematischer Form (Lösungen thematischer planmäßiger Aufgaben) und im Werk,

 

4. Beziehungen dieses Aufbaues zu anderen Künsten und zur Natur,

 

5. Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit.

 

Ich muß mich hier mit dieser allgemeinen Richtungsangabe begnügen, da die Einzelheiten nicht in den Raum einer Zeitung passen. Aber auch dieses kurze Schema zeigt, wohin ich hinaus will. Es hat tatsächlich bis jetzt kein planmäßiges analytisches Denken in Kunstfragen gegeben, und analytisch denken können heißt logisch denken können. Es wäre hier nicht angebracht, über die Kunstschulen ausführlicher zu sprechen, die zum Zweck die Malerei als solche haben, das heißt wo sie Selbstzweck ist, obwohl ich allmählich zur Überzeugung kam, daß auch in dieser Art Schulen der frühere Weg der sehr knappen wissenschaftlichen «Beigabe» in Form von Anatomie, Perspektive und Kunstgeschichte weiter nicht mehr gangbar ist: auch die «reine» Kunst bedarf heute einer exakteren, konsequenten wissenschaftlichen Grundlage. Das einseitige Betonen des intuitiven Elementes und die damit verbundene «Zwecklosigkeit» der Kunst haben öfters den jungen Künstler (und wenn es nur der «junge» Künstler wäre!) zu ungeschickten, von der Kunst ablenkenden Folgerungen gebracht. Als Beispiel aus der heutigen Zeit würde die «neue Sachlichkeit» genügen, die der Kunst «politische» Zwecke zu stellen versucht – die Verwirrung hat ihr höchstes Maß erreicht.

 

Der junge und besonders der anfangende Künstler muß von vornherein an ein objektives, das heißt wissenschaftliches Denken gewöhnt werden. Er soll verstehen, seinen Weg abseits der «Ismen» zu suchen, die in der Regel nicht zum Kern streben, sondern schnell vergängliche Einzelheiten für Grundfragen halten. Die Fähigkeit, sich zu fremden Werken objektiv zu stellen, schließt die eigene Einseitigkeit in eigener Arbeit nicht aus, was natürlich und vollkommen gesund ist: im eigenen Werk darf (vielmehr «muß») der Künstler einseitig sein, da die Objektivität in diesem Falle zu innerer Verschwommenheit führen könnte. Er soll in eigener Arbeit nicht nur einseitig, sondern fanatisch sein: zum entwickelten Fanatismus gehören aber viele Jahre gewaltiger innerer Spannung.

 

Durch Vertiefung in die Elemente, welche die Bausteine der Kunst sind, bekommt der Studierende – außer der Fähigkeit des logischen Denkens – die notwendige innere Fühlung zu den Kunstmitteln. Diese einfache Behauptung darf nicht unterschätzt werden: die Mittel werden durch den Zweck bestimmt – so wird der Zweck durch die Mittel verstanden. Die innere, vertiefte Bestimmung der Mittel und der gleichzeitig unbewußte und bewußte Verkehr mit den Mitteln verwerfen die der Kunst fremden Zwecke, die dadurch unnatürlich und abstoßend wirken. Hier dient also tatsächlich das Mittel dem Zweck.

 

Das Sichverwandtfühlen mit den Elementen einer Kunst steigt weiter in seiner Intensität bei dem Studium der Beziehungen dieser Elemente zu denjenigen anderer Künste, was ohne weiteres klar ist. Die Beziehungen der Kunstelemente überhaupt zu denjenigen der Natur bringen die ganze Frage auf eine noch breitere philosophische

 

Basis, was ebenso ohne weiteres klar ist. So geht der Weg vom Synthetischen in der Kunst zum Allgemein-Synthetischen über. Wenn man heute wirklich nicht weiß, was eigentlich unter dem Begriff «Bildung», «Gebildetsein» verborgen ist oder sein sollte, so darf doch mit vollem Recht behauptet werden, daß nicht eine kleinere oder größere Anhäufung von speziellen Kenntnissen (sogenannte «Fachkenntnisse») hier die Hauptrolle spielen oder den Hauptbestandteil ausmachen, sondern die ausgebildete Fähigkeit, das scheinbar zerrissene Bild der Einzelerscheinungen in den organischen Zusammenhängen zu empfinden und schließlich zu «verstehen».

 

Und andererseits: das Fehlen dieser Fähigkeit darf trotz dem Vor- handensein von «enzyklopädischen Fachkenntnissen» als Merkmal des ungebildeten Menschen angesehen werden.

 

Und endlich: eine Schule, die dem Studierenden das planmäßige Erkennen der allgemeinen Basis zu übermitteln nicht imstande ist, darf sich nicht «Schule» nennen – ganz besonders, wenn sie als Hochschule angesehen werden möchte.

 

Ganz abgesehen vom prinzipiell unbestreitbaren Wert der «Bildung» im ungefälschten Sinne wäre diese Schulbildung ein gewaltiges Mittel gegen die extreme Spezialisierung, die wir aus dem vergangenen Jahrhundert übernommen haben, und die nicht nur aus allgemein- philosophischen, sondern auch aus rein praktischen Gründen zu bekämpfen ist. In der Praxis ist die extreme Spezialisierung eine dicke Mauer, die uns vom synthetischen Schaffen trennt. Ich darf wohl hoffen, daß ich manche, heute allgemein bekannte Tatsachen nicht zu beweisen brauche: zum Beispiel die Gesetzmäßigkeit des malerischen Aufbaues. Und trotzdem ist die prinzipielle Anerkennung dieser Tatsache für den Studierenden nicht ausreichend – sie muß in sein Inneres eingepflanzt werden und zwar so gründlich, daß sie in seine Fingerspitzen von selbst eindringt: der bescheidene oder gewaltigste «Traum» des Künstlers hat an und für sich keinen Wert – solange die Fingerspitzen nicht imstande sind, dem «Diktat» dieses Traumes mit höchster Präzision zu folgen. Für diesen Zweck müssen mit dem theoretischen Unterricht praktische (thematische) Übungen verbunden werden: was nützt ein herrliches Kochbuch ohne Lebens- mittel und Kochtöpfe? Und: nur ein wiederholtes Verbrennen eigener Fingerspitzen bringt den Anfänger vorwärts. Die Gesetzmäßigkeit in der Natur ist lebendig, da sie das Statische und das Dynamische in sich vereinigt und in dieser Beziehung ist sie der Gesetzmäßigkeit in der Kunst gleichwertig. Also außer der philosophisch-bildenden Wichtigkeit für jeden Menschen ist die Erkenntnis der Naturgesetzmäßigkeit für den Künstler unumgänglich. Diese einfache Tatsache bleibt aber den Kunsthochschulen leider voll- kommen fremd.

 

Folgendes Schema soll den knappen Sinn dieses kurzen Artikels in sich aufnehmen:

 

Mittel

Zweck

1. Analyse der malerischen Elemente,

analytisches (allgemein-logisches) Denken.

2. Beziehungen zu anderen Künsten und zur Natur,

synthetisches Denken.

3. Aufbau der malerischen Elemente in thematischer Form und im Werk,

Fähigkeit das Getrennte zu vereinigen, theoretische und praktische Gesetzmäßigkeit und relativer Wert derselben in der Praxis.

4. Beziehungen zu anderen Künsten und zur Natur,

synthetisches Schaffen und Werk und das Erkennen des schöpferischen Prinzips in der Natur und innere Verwandtschaft derselben mit der Kunst.

5. Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit,

Ausbildung der «Fingerspitzen» und Ausbildung des Menschen.

 

 

Es ist klar, daß außer der Malerei auch andere Künste diesem pädagogischen Ziele dienen könnten. Es ist aber ebenso klar, daß im Bauhause gerade die Malerei die geeignetste Erzieherin sein soll:

 

1. die Farbe und ihre Verwendung finden in den sämtlichen Werkstätten Platz, wo also die beschriebene Methode auch rein praktischen Zwecken dient, und

 

2. die Malerei ist diejenige Kunst, die seit Jahrzehnten an der Spitze der sämtlichen Kunstbewegungen voranging und die anderen Künste – speziell die Architektur – befruchtete.