Wassily Kandinsky - Über die abstrakte Bühnensynthese 1919-23

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Über die abstrakte Bühnensynthese

 

«Über die abstrakte Bühnensynthese» erschien im Buch Staatliches Bauhaus in Weimar 1919–23, im Bauhaus-Verlag, Weimar-München, herausgegeben vom Staatlichen Bauhaus in Weimar und Karl Nierendorf in Köln, Kandinsky formuliert hier in abschließender Form seine Konzeption für eine Bühnensynthese, die er 11 Jahre vorher im Blauen Reiter schon vorgezeichnet hatte.

 

 

 

Im Theater ist ein sonderbarer Magnet mit einer sonderbaren verborgenen Kraft eingeschlossen. Nicht selten gewann dieser Magnet größere Spannungen der Anziehungskraft, die scheinbar zu größeren spannenden Mitwirkungen bringen konnten.

 

Aber dem Aufschwung folgte der Niedergang und es bildete sich eine feste, kalte Kruste über das innere Wesen des Theaters. Gerade heute ist diese Kruste so stark, dick und kalt geworden, daß die pulsierende Kraft scheinbar für alle Zeiten erstarrte.

 

Es dürfte heute eher als je vorn Niedergang des Theaters gesprochen werden. Nicht umsonst wird ihm der gleichgültige Rücken gekehrt und das erwartende Gesicht wird nicht umsonst dem Varieté, dem Zirkus, dem Kabarett, dem Kino zugewendet. Die alten Theater- formen – Drama, Oper, Ballett – sind zu Museumsformen verhärtet und nur im Sinne des Museums können sie wirken. Das übrige ist ihnen verloren gegangen.

 

Und trotzdem ist der heutige Tag die Schwelle des neuen Aufschwunges, der in der keimenden und kommenden Größe alle frühe- ren Höhen weit überragen wird.

 

Der verborgene Magnet wird lebendig und sein Pulsieren wird immer mehr hörbar. Von außen kommen neu gespitzte Kräfte zu Hilfe, die berufen sind, die harte Kruste zu sprengen.

 

Das Gebäude (Architektur), das nicht anders wie farbig sein kann (Malerei) und jeden Augenblick geteilte Räumlichkeiten (Plastik) zusammenzuschmelzen vermag, saugt durch die geöffneten Türen Menschenströme in sich und ordnet sie in schematische strenge Reihen.

 

Alle Augen in einer Richtung, alle Ohren zu einer Quelle. Höchste Empfangsspannung, die hier entladen werden sollte. Das ist die äußere Möglichkeit des Theaters, die auf die neue Gestaltung wartet.

 

In dieser abgesonderten Welt der Spannung ist eine andere abgesonderte Welt, zu der die Augen und Ohren gerichtet sind – die Bühne. Hier ist das versprechende Zentrum des Theaters, das durch höchste Spannung eigenen Lebens die höchste Spannung der harrenden Reihen entladen sollte.

Die aufsaugende Fähigkeit dieses Zentrums ist grenzenlos – sie vermittelt durch die höchsten Spannungen die sämtlichen Kräfte der sämtlichen Künste der harrenden Reihen. Das ist die innere Möglich- keit des Theaters, die auf die neue Gestaltung wartet.

 

Die sämtlichen einzelnen heutigen Künste vertiefen sich seit Jahr- zehnten in eigene Kräfte. Sie zerlegen rücksichtslos die eigenen Mittel bis an die letzte Grenze und prüfen diese Mittel unbewußt oder bewußt auf der inneren Waage.

 

Das ist die Periode der großen Analyse, die von großer Synthese laut redet. Das Zerlegen soll dem Zusammenlegen dienen, der Abbau – dem Aufbau.

 

So sieht heute die «große Welt» aus und die in ihr lebenden kleinen Welten spiegeln genau ihre Schicksale ab. Dieses Schicksal soll das Theater teilen.

 

Jede Kunst hat eine eigene Sprache und die ihr allein geeigneten Mittel – der abstrakte innere Klang ihrer Elemente. In diesem abstrakten inneren Klang ist keine dieser Sprachen durch eine andere zu ersetzen. So ist jede abstrakte Kunst von allen anderen grundsätzlich verschieden. Darin liegt die Stärke des Theaters.

 

Der im Theater verborgene Magnet hat die Kraft, alle diese Sprachen an sich zu ziehen, alle Mittel der Künste, die gemeinsam die größte Möglichkeit der monumentalen abstrakten Kunst bieten.

 

Bühne:

 

1. Raum und Räumlichkeit – Mittel der Architektur – der Boden, auf dem jede Kunst zu ihrem Wort kommen kann, damit gemeinsame Sätze entstehen,

 

2. die vom Objekt unabtrennbare Farbe – Mittel der Malerei – in ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung, ganz besonders in der Form des farbigen Lichtes,

 

3. die einzelnen räumlichen Ausdehnungen – Mittel der Plastik – mit den positiven und negativen Luftgestaltungen,

 

4. der organisierte Klang – Mittel der Musik – mit den zeitlichen und räumlichen Ausdehnungen,

 

5. die organisierte Bewegung – Mittel des Tanzes – zeitliche, räumliche, abstrakte Bewegungen nicht des Menschen allein, sondern des Raumes, der abstrakten Formen, die eigenen Gesetzen unterliegen;

 

6. endlich die letzte uns bekannte Kunst, die ihre abstrakten Mittel noch nicht entblößt hat – die Dichtung – stellt das menschliche Wort in der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung zur Verfügung.

 

Wie die Plastik in der Architektur teilweise aufgeht, so geht die Dichtung in der Musik teilweise auf. Also streng genommen ist die reine abstrakte Form des Theaters die Summe der abstrakten Klänge:

 

1. der Malerei – Farbe,

 

2. der Musik – Klang,

 

3. des Tanzes – Bewegung,

 

im gemeinsamen Klange der architektonischen Gestaltung. Hier fängt die abstrakte Bühne an, die zu reinen Formen der abstrakten Bühnenkomposition werden kann und bald wird, und für die die analytische Periode der gesamten Künste eine unumgängliche Vorstufe ist. Die Künste, die ein eigenes Leben weiterführen werden, wofür ebenso wichtig und unumgänglich die analytische Periode ist, werden der Bühne rein synthetisch dienen können. In diesem Falle verzichten sie auf eigene Ziele, um dem Gesetz der Bühnenkomposition zu unterliegen, die den anderen Künsten gleich zur neuen Praxis nur mit Hilfe der Kunsttheorie kommen kann. Die Methoden der Kunstwissenschaft, der einzelnen Künste und der synthetischen Theaterkunst bleiben dieselben, das heißt sie muß drei Hauptfragen umfassen: Speziell auf der Bühne:

 

1. Elemente der Bühne und ihre inneren Kräfte – Grundelemente, Hilfselemente undsoweiter, das heißt genaue systematische Prüfung der abstrakten Werte.

 

2. Das Gesetz des Aufbaues – Konstruktion der Bühnenelemente, die ebenso rein wissenschaftliche experimentale Arbeiten voraussetzen.

 

3. Das Gesetz der Unterordnungen der Elemente und der Konstruktion dem inneren Ziele des Werkes – Komposition.

 

Es sollen Theaterlaboratorien veranstaltet werden, wo einzelne Elemente im Sinne und zum Zweck des Theaters geprüft werden sollen. Schematischer Aufbau der einzelnen Teile soll die Kräfte und Mittel der Konstruktion entdecken und abwägen, wobei das Gesetz des Gegensatzes im Sinne des Mit- und Auseinandergehens in erster Linie verwendet sein soll – Farbe, Klang, Bewegung in daraus entstehenden Zusammenhängen und zeitlichen Zusammenwirkungen.

 

Dem schöpferischen Geist werden diese Vorarbeiten zum Schaffen des lebenden Werkes als Werkzeuge dienen.