Wassily Kandinsky - Farbkurs und Seminar 1919-23

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Farbkurs und Seminar

 

«Farbkurs und Seminar» erschien im Buch Staatliches Bauhaus in Weimar 1919–23, im Bauhaus-Verlag, Weimar-München, herausgegeben vom Staatlichen Bauhaus in Weimar und Karl Nierendorf in Köln. Die hier von Kandinsky dargestellten Gedanken sind entstanden im Zusammenhang mit den von ihm am Bauhaus seit 1922 begonnenen Vorlesungen über die Grundelemente der Form, dem Kurs über die Farblehre und dem daran angegliederten Seminar.

 

 

 

 

Die Farbe muß wie jede andere Erscheinung von verschiedenen Standpunkten in verschiedenen Richtungen und mit den entsprechenden Methoden untersucht werden. Rein wissenschaftlich verteilen sich diese Richtungen in drei Gebiete: das der Physik und Chemie, der Physiologie und der Psychologie (Eine spezielle Frage von besonderer Wichtigkeit bilden die soziologischen Zusammenhänge, die aber außer dem Kreis der Farbfrage als solcher stehen und deshalb ein spezielles Studium verlangen.). Wenn diese Gebiete speziell in bezug auf den Menschen und vom Standpunkte des Menschen angewendet werden, so behandelt das erste Gebiet das Wesen der Farbe, das zweite – die Mittel der äußeren Aufnahme, das dritte – das Resultat der inneren Wirkung.

 

Es ist also klar, daß für den Künstler diese drei Gebiete gleich wichtig und unumgänglich sind. Er muß hier synthetisch vorgehen und die gegebenen Methoden seinen Zielen entsprechend brauchen. Aber außerdem kann der Künstler die Farbe theoretisch in zwei Richtungen untersuchen, wobei sein Standpunkt und seine Eigenschaften die erwähnten drei Gebiete ergänzen und bereichern müssen.

 

Diese zwei Richtungen sind:

 

1. Das Untersuchen der Farbe – Wesen der Farbe, ihre Eigenschaften, Kräfte und Wirkungen – ohne Bezug auf praktische Anwendung, das heißt «zwecklose» Wissenschaft, und

 

2. das Untersuchen der Farbe in der von der praktischen Notwendigkeit diktierten Richtung – engerer Zweck – und planmäßiges Studium der Farbe, das aber große eigene Aufgaben stellt.

 

Die beiden Richtungen sind für den Künstler fest miteinander verbunden und die zweite ohne die erste nicht denkbar. Die Methode dieser Arbeiten muß analytisch und synthetisch sein. Die beiden Methoden sind miteinander fest verbunden und die zweite ohne die erste nicht denkbar. Diesen Methoden werden drei Hauptfragen gestellt, die mit drei weiteren Hauptfragen organisch verbunden sind und die zusammen die sämtlichen einzelnen Fragen der beiden Richtungen umfassen:

 

1. Die Untersuchung der Farbe als solcher – ihres Wesens und ihrer Eigenschaften:

 

a) isolierte Farbe

b) zusammengestellte Farbe

(absoluter und relativer Wert.)

 

Hier wird mit möglichst abstrakter Farbe angefangen (die Farbe in der Vorstellung) und über die in der Natur vorkommenden Farben – mit Spektralfarben anfangend – zu Farbe in Pigmentform über- gegangen.

 

2. Die zweckmäßige Zusammenstellung der Farben im einheitlichen Aufbau – Konstruktion der Farbe – und

 

3. das Unterordnen der Farbe – als eines einzelnen Elementes – und der zweckmäßigen Zusammenstellungen – als Konstruktion – dem künstlerischen Inhalt des Werkes – Komposition der Farbe.

 

Diesen drei Fragen entsprechen also drei Fragen, die aus der Formfrage im engeren Sinne entstehen – in Realität kann die Farbe ohne Form nicht existieren:

 

1. Organische Zusammenstellung der isolierten Farbe mit der ihr entsprechenden primären Form – malerische Elemente.

 

2. Zweckmäßiger Aufbau der Farbe und Form – Konstruktion der vollen Form, und

 

3. untergeordnetes Zusammenstellen der beiden Elemente im Sinne der Komposition des Werkes.

 

Da im Bauhaus die Farbe mit den Zielen verschiedener Werkstätten verbunden ist, so müssen aus der Lösung der Hauptfragen Lösungen einzelner spezieller Fragen herausgeleitet werden. Hier sind folgende Bedingungen zu berücksichtigen:

 

1. Die Forderungen der Flächen- und der Raumformen.

2. Eigenschaften des gegebenen Materials.

3. Praktische Bestimmung des gegebenen Gegenstandes und der konkreten Aufgabe.

 

Hier müssen gesetzmäßige Zusammenhänge gefunden werden. Die einzelnen Verwendungen der Farbe verlangen ein spezielles Studium: des organischen Bestandes der Farbe, ihrer Lebenskraft und ihrer Lebensdauer, der Möglichkeiten des Bindens durch Bindemittel – dem konkreten Fall entsprechend –, der damit natürlich verbundenen Technik, der Art des Auftrages der Farbe – dem gegebenen Zweck und dem Material entsprechend –, der Zusammenstellung des Farbenpigmentes mit anderen farbigen Materialien wie Stuck, Holz, Glas, Metall undsoweiter.

 

Diese Arbeiten müssen mit möglichst exakten Mitteln, speziell Ausmessungen geführt werden. Sie sind mit exakten Versuchen verbunden – experimentales Vorgehen –, die von möglichst einfachen Formen zu immer komplizierteren planmäßig übergehen. Auch diese Versuche müssen die analytische und die synthetische Methode verwenden: zweckmäßiges Zerlegen der gegebenen Formen und plan- und zweckmäßiger Aufbau.

 

Diese ganze kunstwissenschaftliche Arbeit geschieht durch:

 

1. Die leitenden Vorträge des Meisters.

2. Die Vorträge der Schüler, als Resultat ihrer selbständigen Lösung einer speziellen Aufgabe.

3. Die gemeinschaftliche Arbeit des Meisters und der Schüler am planmäßig verlegten Material – gemeinschaftliche Beobachtungen, Schlüsse, Aufstellen der einzelnen Aufgaben, Prüfung der Lösungen und Entwicklung des weiteren Arbeitsvorganges (Seminar).

 

Ein besonderer Wert wird auf die architektonischen Forderungen gelegt: Das Innere, das Äußere der Architektur, die also in dieser Richtung als synthetische Basis aufgefaßt werden muß.