05 Eine Verschwörung

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Eine Verschwörung

 

 

 

Die Schüler der Münchner Akademie hatten im Februar 1881 in Kils Kolosseum in der Müllerstraße – zu jener Zeit das größte Lokal in der Stadt – eine große maskierte Kneipe arrangiert, die eine »Kneipreise um die Welt« sein sollte.

 

Monatelang vorher hatte man nur für dieses Fest gearbeitet und noch den letzten Tag wurde an Ort und Stelle gehämmert, gesägt, genäht und geleimt.

 

Nun am Abend war alles fertig. Auf der Bühne ragte ein mächtiger Auswandererdampfer empor, sein Bugspriet mit der Takelage reichte weit in den Saal hinein und berührte fast die obere Galerie. Dieses Wunderwerk hatte sich die Lindenschmidtschule geleistet. Unter der Galerie, in den Kolonaden waren Fischerkneipen, polnische Schnapsbuden, auch ein sächsisches Bliemchenkaffee, dessen Schild die Aufschrift »Zum Knietscher-Wilhelm« zeigte. Weiter herein im Saale erhob sich eine spanische Burgruine mit angelehnter Taverna. Hier trieben Don Quichotte und Sancho Pansa ihr Wesen; und später stiegen sie auf ihre Tiere, um in dem wogenden Gedränge auf Abenteuer zu ziehen. In einem Winkel am Ausgange unter Eisbergen und Gletschern hatten sich Schüler der Widmannschen Bildhauerschule als Eskimos eingerichtet, von Kopf bis zu den Füßen in Werganzüge gehüllt. Auf der Galerie hatte die Diezschule eine veritable bayrische Landkegelbahn, wo lebende Ferkel und Gänse als Prämien ausgespielt werden sollten. Überall, wohin das Auge traf, fand man immer neue Sachen: ein Klosterbräustübl, eine amerikanische Blockhütte, chinesische Opiumhöhlen und andre geographische Kneipräume mehr.

 

Sämtliche Festteilnehmer wurden auf einer Eisenbahn von der Garderobe aus durch einen finstern Tunnel bis zum Eingang des hellstrahlenden Festraumes gefahren, wofür sie den ersten Obulus entrichten mußten und nun konnten sie sich hinwenden, in welche Gegend ihr Herz sie zog.

 

Als das Amüsement fast auf der Höhe war, brach das Unglück herein: bei den Eskimos entstand Feuer. Die jungen Leute gingen nacheinander in Flammen auf, als sie sich gegenseitig helfen wollten.

 

Was alles in kürzester Zeit geschehen war, wußten die Wenigsten. Ich selbst war auf der Galerie in der Kegelbahn gewesen und sah zu meinem Schrecken unten im Saal eine Feuersäule herumschwirren. Die Musik, die auf der Galerie postiert war, packte ihre Instrumente und wollte ihre Plätze verlassen, aber eine energische Stimme von unten schrie: »Musik spielen! Musik, Musik!« Da faßten die Musikanten sich ein Herz und spielten unter den gröbsten Fehlern das beliebte

 

»Ach, ich hab' sie ja nur

Auf die Schulter geküßt!«

 

aus dem »Bettelstudenten«.

 

Als ich die Treppe gleich darauf zum untern Saal hinunterging, lagen noch verklimmende Funken auf den Stufen. Wie ich später hörte, hatte sich ein Verunglückter in die Retirade geflüchtet und dort in der Nässe herumgewälzt. Dieser Geistesgegenwart verdankte er seine Rettung.

 

Es war ein Glück für alle Anwesenden, daß diese Katastrophe so schnell vorübergegangen war, die Panik und das Unglück wären sonst nicht auszudenken gewesen; deshalb ließ man auch noch das Fest einige Zeit weitergehen. Die Nachrichten, die aus dem Krankenhause während dieser Zeit einliefen, waren nicht die besten: einer der jungen Künstler war bereits gestorben, die andern neun hatten mehr oder weniger schwere lebensgefährliche Brandwunden. Wie schnell das Unglück vor sich gegangen war und wie wenig bekannt es unter den Gästen wurde, zeigte das Benehmen des einen Eskimos, der während der Katastrophe bei dem Knietscher-Wilhelm einen Bliemchenkaffee getrunken hatte und bei seiner Rückkehr sein ganzes Lokal demoliert und ausgestorben vorfand; kopfschüttelnd sammelte er das herumliegende Geld in einen Maßkrug und erfuhr erst das ganze Unglück, als man ihm plötzlich die Wergkleider vom Leibe riß. –

 

Die nächsten Tage gingen mit Erkundigungen nach den Verunglückten hin und schon wurden einige Verstorbene begraben. Neben dem allgemeinen natürlichen Mitgefühl des Publikums, wurden doch auch Stimmen laut, die das ganze Unglück eine Strafe Gottes über eine Gesellschaft Ungläubiger nannten. Namentlich die klerikalen Zeitungen konnten davon nicht genug kriegen, allen voran das bayrische »Vaterland« von Dr. Sigl.

 

Zwei Sachsen und ich saßen beim Mittag im Affenkasten des Augustiner-Bräu und sprachen immer von neuem über die unglückliche Katastrophe, als uns ein uraltes Modell, der auch Zeitungsverkäufer war, das bayrische »Vaterland« unter die Nase hielt.

 

»Kaafens Vaterland«, sagte er. Die fünf Pfennige wurden dafür geopfert, auch nahm das Faktotum die Reste unserer Mahlzeit fort, um sie in einem Winkel zu verzehren. Plötzlich sprang Moritz auf mit dem Fluch »Herrgott Strambach!«

 

»Gestern abend verschied wieder ein angebrannter Eskimo, wie wir hören aus Preußen – wieder ein Saupreuß weniger auf der Welt –« so las er in sächsischem Dialekt vor. Gleichmäßig entrüstet schmiedeten wir die verschiedensten Pläne; endlich kamen wir überein, im Atelier des Moritz weiter zu konferieren. Dieses Atelier hatte er mit dem Mecklenburger Bang zusammen, beide waren Schüler von Gabriel Max.

 

Der Mecklenburger sah die ganze Affäre ruhiger an. Das einfachste wäre wohl, ihn ordentlich zu verprügeln, und er selbst würde diese Aufgabe sehr gern übernehmen, aber – fuhr er fort – »ich bin nämlich furchtbar stark und wenn ich einmal in Wut bin, kann ich den Kerl so verhauen, daß er auf der Stelle tot hinfällt«; und das, meinte er, möchte er doch lieber nicht riskieren. Ermunternd war dieser Schluß seiner Rede für uns drei gar nicht, zumal es schien, als wenn für ihn die Sache damit erledigt wäre. Also auf ins Café Probst!

 

Das Café Probst war nur durch eine Kirche, die in die Straßenfront der Nauhausergasse eingebaut war, von der Akademie getrennt. Am Nachmittage, bis zum Schluß des Cafés um 7 Uhr abends, war die Anzahl der Künstler in ihm eine weit größere, als in der Akademie, zumal auch die selbständigen Maler hier regelmäßig herkamen. Da saßen an all den kleinen runden Marmortischen, die oft mit Zeichnungen bekritzelt waren, lauter Maler und Bildhauer. Sie spielten Tarock, Skat oder törtelten; an den Billards war den Spielenden eine schöne Pose mit dem Queue in der Hand und die Hüfte elegant an den Billardrand gestützt oft wichtiger als das Spiel selbst. Dazwischen tummelte sich der alte Probst, begrüßte diesen und jenen, einigen Bevorzugten schüttelte er Schmalzlertabak auf den Daumenballen und wenn es ihm gar zu heiß wurde, nahm er seine weiße Perrücke ab und trocknete sich den schwitzigen Schädel.

 

An einem Tisch, gleichsam als Tribunal, ließen wir uns nieder; der andre Sachse mit Namen Frank war das natürliche Oberhaupt unsres Triumvirats, da er ein angestauntes Akademiegenie war. Ein großes Blatt Papier nebst Tinte und Feder wurde von der Zenzl auf den Tisch drapiert, der betreffende Zeitungsartikel wurde zum Lesen herumgereicht und Mißvergnügte geworben. Am Anfang füllten sich sehr leicht die Spalten und schließlich wurden die, die sich gleichgültig verhielten, oft mit Gewalt aus den entferntesten Winkeln an den Tisch zum Unterschreiben hervorgezerrt.

 

»Sie wollen den Sigl durchhauen«, jubelten die Kellnerinnen und klatschten in die Hände.

 

Vorerst wurde man einig, sich um 7 Uhr abends in dem Separatzimmer einer andern bekannten Gastwirtschaft einzufinden und dort allen Ernstes über den schwierigen Fall zu debattieren. Zum größten Stillschweigen über das ganze wurde jeder verpflichtet.

 

Zuerst wurden bei dieser neuen Zusammenkunft – um vor Spionen sicher zu sein – die Namen der Unterzeichneten verlesen; aber es hatten sich nicht nur keine Fremden hineingeschmuggelt, sondern vielmehr fehlte bereits ein nicht geringer Teil der im Café Probst Unterschriebenen. Alle Nationen waren vertreten: Ungarn, Polen, Amerikaner, Skandinavier, Griechen und alle Stämme Deutschlands. Endlich kam man überein, daß Dr. Sigl im Café Bavaria, wo er stets um 3 Uhr zu finden war, verprügelt werden sollte, und zwar von einem aus unserer Gesellschaft, der durch das Los hervorgehen sollte. Ein Teil handkräftiger Genossen müßte dabei das Lokal selbst in Schach halten und der übrige Teil auf der Straße Wache halten. Unter feierlichem Stillschweigen wurden soviel Zettel wie Anwesende waren, zusammengekniffen und im Hut vermengt; auf den einen Zettel war ein Totenkopf mit Kreuz als Kennzeichen für den Erwählten gemalt.

 

Mit gehaltener Würde griff jeder in den Hut und faltete seinen Zettel auf. Einen kleinen Ungar, Mannheimer, hatte das Los getroffen. Der führte eine Art Kriegstanz auf, den Zettel hoch in der Luft schwingend. Aber mißmutig wurde er von allen betrachtet.

 

»Er sei zu klein«, äußerte sich die Gesellschaft und die Majorität verlangte eine neue Wahl. Bei dieser hatte ich das Los gezogen. Jetzt durchbrauste ein Jubel das Lokal, man umarmte mich, man küßte mich, man tauschte mit mir das süße »Du«, so daß ich lange Zeit gar nicht zur Besinnung kam, überall blickte man mich freundlich an, trotzdem ich doch auch solche sah, die noch gestern hochmütig an mir vorbeigegangen waren.

 

»Das ist der richtige Mann,« riefen sie, »der wird es dem verfluchten Kerl schon besorgen.«

 

Allmählich kam mir in diesem Trubel und Jubel doch die Besinnung zurück. So stolz ich auch war, dieser gefeierte Mittelpunkt zu sein, so stieg mir doch allmählich der Wunsch auf, ebenso untüchtig zu dieser Heldentat befunden zu werden, wie mein Vorgänger Mannheimer oder auch die für die Tat übernatürliche Kraft im Körper zu haben, wie sie jener Mecklenburger Bang von sich als unbrauchbar zu diesem Zwecke gerühmt hatte. Aber was half das: ich mußte die Würde im Antlitz zeigen, die mir bei dieser großen Ehre gebührte.

 

Die andern belangloseren Angelegenheiten wurden schnell erledigt. Das Attentat sollte übermorgen 3 Uhr stattfinden und morgen Abend sollten wir nochmals in diesem Lokal zusammenkommen. Jetzt herrschte allgemeine Fidelitas, einige Hochachtungsschlucke wurden mir zugetrunken, auch drängten sich viele an meinen Tisch, um mich, der ich erst einige Monate in der Akademie war, anzustaunen. Allmählich wurde der Kreis aber immer kleiner; die meisten hatten sich stillschweigend entfernt. Ich mit einigen Getreuen suchte noch das Café Orient an der protestantischen Kirche auf, wo wir gewiß waren, Bekannte zu finden. Richtig saßen auch noch da ältere selbständige Maler, die eben ihren Skat beendet hatten und nun die Beträge vom Gewinn und Verlust auf der Tafel verrechneten.

 

Sie schmunzelten mich verschmitzt an. Nun, sagte einer von ihnen, Sie werden den Sigl durchhauen? Ich warf mich in die Brust, war aber doch einigermaßen erstaunt, daß sie das Resultat unsrer geheimen Versammlung bereits wußten.

 

Ein andrer mit langer Nase berlinerte und fragte mich, ob ich auch wüßte, »dat det Jesetz erlaubt in der Notwehr uff seinen Jegner zu schießen« und, sprach er weiter, »Sigl trägt stets einen Revolver in der Tasche, seitdem die Studenten ihn bei der Eröffnung des Krieges gegen Frankreich an einem Laternenpfahl uffgehängt hatten«.

 

Mir schnürte sich die Kehle zusammen und meine Begleiter wurden noch betretener.

 

Nach kurzer Zeit waren wir nach den verschiedensten Richtungen auseinandergegangen, ohne uns viel mit dem Abschiednehmen aufzuhalten.

 

Die nächste Morgensonne sah noch friedlich in mein möbliertes Zimmer hinein. Wie aber wird der darauf folgende Tag verlaufen? Am besten gar nicht daran denken. Jetzt hieß es schnell in die Malschule zu kommen, da Loeffz ein neues Modell stellte und die dabei Anwesenden die besten Plätze vorwegnahmen.

 

In dem großen Atelier hatten sich schon viele eingefunden und standen oder saßen wartend an den Wänden herum. Da stieß jemand an eine kreidig aussehende Tonne, in der die weiße Leimfarbe für die Dekorationen der maskierten Kneipe seinerzeit angerührt gewesen war. Sie trundelte wie ein Betrunkener auf den Nachbar, der ihr mit dem Fuß – um nicht weiß zu werden – einen Stoß versetzte, daß sie auf die andere Seite hinsteuerte, hier bekam sie wieder einen Stoß und so wurde die Tonne bald im Zickzack, bald im Kreise von einem zum andern befördert. Dieses ergötzliche Spiel dauerte, bis plötzlich Professor Loeffz in der Türe erschien, worauf wir alle starr auf unsern Plätzen verharrten und nur die Tonne mitten im Raume hin- und hertorkelte, um dann unter einigen Zuckungen umzufallen und liegen zu bleiben.

 

Der Lehrer zog etwas die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts und ließ Modelle zur Auswahl hereinrufen; mir schien es, als wenn er mich ganz besonders angeschaut hatte.

 

Seine Lieblingsmodelle waren menschliche Ruinen, Greise, alte Weiber und bleichsüchtige Mädchen; an ihnen konnte am besten die feine graue Farbe wie van Dyck und Velasquez sie geliebt hatten, studiert werden. Die Auswahl des Modells, sowie seine Aufstellung nahm lange Zeit in Anspruch. Beim Fortgehen rückte Loeffz noch den Vorhang um einige Millimeter am Fenster beiseite, um eine noch interessantere Beleuchtung zu erzielen, die Plätze wurden eingenommen und die erste halbe Stunde verging unter emsigem Schaffen. Dann gab ein Wort das andre. Die die Proskription unterschrieben hatten, taten geheimnisvoll, die Nichtverschwornen höhnten. Ja, mein steter Feind – ein Böhme – sagte mir direkt, daß ich mich nur hineingemischt hätte, weil ich noch in München neu wäre und auf diese Weise Gesellschaft zum Verkehr und zum Trunk gewonnen hätte. Innerlich konnte ich es nicht ganz ableugnen, aber in Anbetracht meiner Würde gab ich ihm einige heftige Gegenantworten. Man stritt sich durcheinander und zu meiner Überraschung mußte ich auch bemerken, daß viele Verschworne mich aushöhnten; ja noch mehr: zwei von ihnen, die mir gestern Brüderschaft angeboten hatten, waren heute wieder in den »Sie« Ton verfallen. Koklund, der als junger Bursch den Krieg mitgemacht hatte und deshalb in großem Respekt stand, nannte mich »Rindviech dummes« und »G'scherter Lackel«. Es wäre ganz falsch, wie wir es machen wollten. Er würde es uns zeigen, er müßte Ostern zurück nach Freiburg in seine Heimatstadt, aber wenn wir vor Ostern noch hörten, daß Sigl elende Haue besehen hätte, so sollten wir an ihn denken.

 

»Sie sind nur neidisch, daß Sie die Aufgabe nicht selbst bekommen haben«, wagte ich ihm zu entgegnen. Aber da kam ich schön an. Im Bewußtsein, mit diesem Stärksten einer Meinung zu sein, hackte die ganze Klasse auf mich ein. In meiner Not wandte ich mich an meinen Nachbar, der auch nur kurze Zeit in der Klasse war und mit dem ich zufälligerweise immer Staffelei an Staffelei gearbeitet hatte. Er war ein Herr »von« aus der Rheinprovinz, der trotz seines Adels ganz menschlich mit mir verkehrt hatte. Der reckte sich hoch empor und sagte: »Mein Herr, Sie benehmen sich nicht, wie sich ein anständiger Mensch zu benehmen hat.« Da sah ich, daß es mir fast ebenso ging wie vorher der hin- und hergestoßenen Tonne und mit knirschender Wut, ohnmächtig in meinem Zorn, eilte ich aus dem Atelier. Wäre nur der Abend da, wo wir Gleichgesinnten zusammenbestellt waren, wie wollte ich da Rache an allen nehmen und meine tollsten Angreifer aus der Malschule als Verräter an den Pranger stellen. Und doch sagte mir eine andre Stimme, eindringlicher als die vorhergehende: »Ach wenn ich nur von dem ganzen Krempel weit weg wäre und die ganze Geschichte mich nichts anginge.« Mannheimer hatte übrigens in der Malschule gefehlt, sollte er gar krank geworden sein über den Arger, daß man ihm dieses Racheamt wieder abgenommen hatte?

 

Endlich war der Abend da; aber die sich wieder in dem Separatraum einfanden, waren kaum ein Viertel der gestrigen Anzahl. Aus meiner Klasse war außer Mannheimer niemand da, so konnte ich auch nicht meine Anklage erheben. Mannheimer hielt wieder seine Brandreden und bedeckte uns mit Vorwürfen, daß wir ihn nicht hätten die Angelegenheit ausfechten lassen. Moritz stand auf und verlangte Silentium. Er faltete einen Brief auseinander und las: »Ich freue mich, daß es auch noch in dieser Zeit Jünglinge gibt, deren Herz mannhaft in der Brust schlägt, ich selbst kann meines hohen Alters wegen nicht selbst in Ihrer heiligen Rache mitmachen, aber empfangen Sie hiermit meinen Segen und meine Sympathien. Ihr Herwegh.« Das war der Ehrengreis des Künstler-Sängervereins, dem wir bei seinem neunzigsten Geburtstag ein Ständchen gebracht hatten.

 

Moritz fuhr fort: »Wenn wir solche Bewunderer haben, wie diesen ehrwürdigen Silbergreis, so können Zweifel von allen Seiten unser Rechtsgefühl nicht erschüttern.« Merkwürdigerweise fühlten sich die andern nicht so entzückt über dieses Beifallsschreiben; vielmehr lag ihnen daran, diese Zusammenkunft soviel wie möglich zu kürzen.

 

Der Streitplan wurde wegen der kleinen Schar, die aber jetzt aus der Kerntruppe bestand, da sie so viele Male durchgesiebt war, etwas modifiziert: Jetzt sollten mich alle morgen in das Lokal begleiten, um meine Tat zu schützen. Vorher um 12 Uhr sollte im Franziskaner vis-à-vis der Post an der Dienerstraße ein Frühschoppen genommen werden. Die Zeit flog nur so dahin. An diesem denkwürdigen Morgen kleidete ich mich sorgfältiger als sonst an, auch vergaß ich nicht einige starke Unterkleider anzuziehen. Aus der Blecheinlage eines alten Malkastens hatte ich eine Art Harnisch fabriziert, den ich ebenfalls unter dem oberen Anzug über der Magengegend angebracht hatte. Zur festgesetzten Stunde traf ich vor dem Franziskaner meine beiden Sachsen Moritz und Frank, die schon lange auf und ab promeniert waren. Sie sahen sehr mißvergnügt drein. Beide riefen in einem Atem: »Heute wird nichts draus.«

 

Ich konnte nur mühsam meine Freude verbergen, aber in Anbetracht der moralischen Pflicht zwang ich mir eine bedauernde Miene auf.

 

»Wieso denn nicht? Sind denn die andern nicht im Franziskaner drin? Kein Mensch wäre da und die Künstlergenossenschaft hätte uns brieflich gebeten, um 21/2 Uhr in ihr Lokal zu kommen, wo ein Abgesandter wegen sehr wichtiger Sachen mit uns verhandeln wollte.«

 

»Denken Sie sich,« fuhr Moritz wieder fort, »gerade eine halbe Stunde vor unserer Angelegenheit.« Innerlich dankte ich dem Walten des Schicksals, denn mein Vertrag war für mich mit dem heutigen Tage gelöst, nachher könnten sie sich einen andern suchen oder es selbst tun. Äußerlich zwang ich mich zu einigen bedauernden Phrasen und machte mich dann eilend fort.

 

Um 21/2 Uhr trafen wir pünktlich in dem Geschäftszimmer der Münchner Künstlergenossenschaft zusammen, auch Mannheimer hatte sich als Vierter wieder eingefunden.

 

Der Delegierte der Genossenschaft führte uns zu Herzen, daß es in der Stadt keinen guten Eindruck machen müßte, wenn wir jetzt, wo noch heute der letzte der Verunglückten gestorben wäre, und noch Begräbnisse stattfänden, einen derartigen Racheakt unternehmen wollten.

 

Ich fand seine Rede vollständig vernünftig, Frank als [126] angehender Professor verhielt sich neutral, Mannheimer aber nannte es eine memmenhafte Ausflucht und Moritz verlas wieder den Brief von dem Silbergreis Herwegh.

 

Der Delegierte hörte das Schreiben achtungsvoll an: »Freili,« sagte er dann, »freili ist die Sach an und für sich herrlich und heilig, aber schaugns: net jetzt, später, wann alles gar is, dann können's halt machn was Sie mögn.«

 

Schließlich mußten wir ihm die Hand darauf geben, nichts in nächster Zeit zu unternehmen. Nur Mannheimer ließ draußen seiner Entrüstung wieder freien Lauf: »Recht geschieht euch dummen Kerls, hättet ihr mich tun lassen, wären keine solche Beratungen nötig gewesen und Siegl hätte seine Keile weg.«

 

In der heutigen Nummer des bayrischen »Vaterland« stand aber:

 

»Wie uns zu Ohren gekommen ist, wollten einige Bettelpreußen Herrn Dr. Sigl überfallen und mißhandeln; dazu gehören aber zwei: Einer der es tut und der, der es sich tun läßt.«

 

Über ein Jahrzehnt später saßen Strathmann, das »Brühwärschtchen« und ich in dem Kutscherzimmer unsres Weinrestaurants und schleppten ziemlich stumpfsinnig ein Kunstgespräch durch alle Stationen hindurch. Die meisten Gäste waren, da es schon weit nach Mitternacht war, fortgegangen, auch im reichen Saal hörten wir nur noch einige Seßhafte weitere Bestellungen machen und schwache Unterhaltungen mit den beiden Kellnerinnen führen.

 

Da wollte Strathmann, wie so oft, noch einige Stimmung in den angebrochnen Abend bringen, und zog all seine Register auf. Er deklamierte und sang durcheinander seine sämtlichen Verse von der »englischen Miß« an bis zum Fusellied und zum Schluß gab er ein ganz neues zum besten:

 

Wenn uns einst im Leben

 

Sorgen umschweben,

 

Denke ich mit Wonne

 

An Italiens Sonne.

 

Denn dort ist's, wie bekannt,

 

Wo meine Wiege stand

 

Mein Hei-Hei-Heimatland.

 

Brühwärschtchen ahmte den Klang des Tamburins nach und in der schwachen Helle des einen Gaslichtes konnte man sich halbwegs in Italien hineinversetzt fühlen.

 

Ich schob ihm einen Teller zu und forderte ihn auf, im reichen Saal einsammeln zu gehen. Wir hörten den Klang des Metalls beim Fallen auf den Teller und zurückkommend nahm er aus der Nickelmasse ein Markstück heraus und sagte triumphierend: »Das hat Sigl gegeben.« Dann trug er den ganzen Erlös an das Büfett und bekam dafür noch eine ganz ansehnliche Marke Rheinwein.

 

In mir tauchte die ganze Erinnerung jener ersten Akademiejahre wieder auf und da die beiden andern erst später nach München gekommen waren, erzählte ich ihnen die ganze Geschichte. »Er muß doch ein ganz gemeiner Kerl und ein elender infamer Preußenhasser sein«, schloß ich meinen Vortrag.

 

Wenn Strathmann eine Meinung als falsch bekämpfen wollte, so sagte er zuerst ganz stereotyp: »Unsinn«. So auch jetzt, wobei er das »s« lispelnd auseinanderdehnte; hierauf folgte dann erst seine Erklärung:

 

»Ich bin mit Dr. Sigl sehr befreundet; im Gegenteil, seine Redakteure sind zwei krummnasige echte Berliner und seine Mätresse ist ebenfalls eine Berlinerin.«

 

»Na denn Prost!« sagte ich und wir stießen mit dem vom Erlös der Lieder gestifteten Wein an.