05 Das Aufbauen des Aktes

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Das Aufbauen des Aktes.

 

 

Das sogenannte Aufbauen des Aktes, je nach der Stellung des Modells, beruht auf drei Prinzipien:

 

1. der Auffassung,

 

2. dem Konstruktiven,

 

3. dem Architektonischen.

 

Das Aufbauen des Aktes (Abb.)

 

Die Auffassung ist das Abstrakte, das Seelische, sie drückt sich in der Erkenntnis der Bewegung und der Handlung aus. Sie ist ein Hauptzeichen von Begabung und dokumentiert sich bereits in den ersten Entwicklungsstadien, die ein Mensch auf der Künstlerlaufbahn beginnt.

 

Das Konstruktive zeigt die Existenzmöglichkeit des Aktes, indem es über den Organismus des ganzen Körpers Klarheit verschafft. Das Architektonische bringt den Rhythmus und den Fluß der Linie, sowie das Proportionale der Figur.

 

Das Konstruktive und das Architektonische kann durch fortwährendes Studium, weil diese Punkte Erziehungssache sind, immer mehr vervollkommnet werden.

 

Das Aufbauen des Aktes (Abb.)

 

Das Konstruktive beruht allein in dem Skelett.

 

Gehen wir daraufhin eine ganze Figur durch und fassen wir nochmals in wenigen Worten den Kopf auf die Konstruktion hin [54] zusammen: die Bildung des oberen Gesichtsteils wird durch das Stirnbein, den beiden Schläfenbeinen, den Scheitelbeinen, und wie das Nasenbein hervorspringt, gebildet. Ebenso helfen Stirnbein, Schläfenbeine, die Wände des Nasenbeins, sowie der obere Teil der Jochbeine, da sie die Augen höhlen machen, die Augenpartien charakteristisch formen. Die ganzen Jochbeine, die Kiefer zeigen je nach ihrer Ausladung die Charakteristik der unteren Gesichtshälfte – ob breit oder schmal – an.

 

Ebenso wie im Kopf der Knochenbau deutlich zutage tritt, so trifft dieses auch im übrigen Körper zu.

 

Das Aufbauen des Aktes (Abb.)

 

Die Muskeln und die Fettschicht darüber verhüllen nicht das Skelett, sondern lassen es, trotzdem einige Teile von ihnen bedeckt sind, vollständig in ihrer Masseneinteilung sichtbar werden. Ganz frei von Muskeln sind alle Gelenke. An den Gelenken sind nur die Bänder und die bei dicken Menschen und Kindern so charakteristischen Fettpolster. Aber immer spielen an den Gelenken die Formen der Knochen, die hier meistens die bei Scharnieren so eigentümlichen verdickten Rundungen führen, die hauptsächlichste Rolle. Auch an andern Teilen des Körpers treten die Knochenteile zum Vorschein und bringen dadurch die ganze Form des Skelettes vor die Augen.

 

In der Vorderansicht: die Halsgrube mit dem obern Teil [55] des Brustbeins, die Schlüsselbeine mit ihren oberen und unteren Schlüsselbeingruben; das Ende des Brustbeins und mit dem Gange der Rippen wird dadurch der ganze Brustkasten konstruktiv angezeigt.

 

Das Aufbauen des Aktes (Abb.)

 

Am unteren Teil des Torsos zeigt das Becken die Beckenränder und bildet mit dem Trochanter major der Oberschenkel die Linien der Hüften.

 

Analog ist die Kugel der Oberarme und der Trochanter major der Oberschenkel. Hände und Füße sind ganz aus dem Skelett gebildet.

 

Die Rückenansicht zeigt ebenso deutlich die Form des Hinterhauptes sowie die verkürzten Seitenteile des Gesichtes. Im Torso vor allen Dingen in der Wirbelsäule den hervorspringenden siebenten Halswirbel. Ebenso wie vorher die vordere Ansicht, so jetzt die hintere Ansicht des Brustkorbes mit den Schulterblät tern. Die ganze Wirbelsäule und das dreieckige Kreuzbein als hinteres Schlußstück des Beckens.

 

Das Architektonische birgt als Ausdruck viele Begriffe: Geometrie, Symmetrie, Harmonie. Die Symmetrie spielt eine hervorragende Rolle, außerdem ist hier auch das Kastensystem, wie ich es in der Verkürzung vorgeführt habe, ein wichtiges Hilfsmittel. Für die Symmetrie ist die Mittellinie (a b) über den ganzen Akt von größter Wichtigkeit. Diese teilt den Menschen von dem Scheitelpunkt über Nase, Nasenrinne, Mitte des Mundes, Kinn, Halsgrube, Brustbein, Bauchnabel, Zusammenstoßen der Oberschenkel mit mons pubis in zwei gleiche Teile. Je nach der Stellung ist der eine Teil verkürzter wie der andere, bis durch die Profilstellung überhaupt nur die eine Hälfte sichtbar wird. Hier sind infolgedessen auch wieder die vorher schon anempfohlenen horizontalen und vertikalen Hilfslinien wieder von neuem hervorzuheben, um festzustellen, wie die einzelnen Punkte zu einander liegen.

 

Die Mittellinie des Rückens führt längs der Wirbelsäule und teilt auch hier zwei gleiche Hälften über dem Spalt der Gesäßmuskeln auseinander.

 

Ferner sind unter »Architektonisch« die Proportions-Verhältnisse des Körpers zu verstehen. Ob der Torso lang, Arme und Beine kurz sind oder umgekehrt. Wie die einzelnen Teile untereinander und zu einander stehen: Oberarm zu Unterarm; Oberschenkel zu Unterschenkel; Hände, Füße. Das Größenverhältnis des Halses und des Kopfes. Die einzelnen Teile im Kopf zu einander. Wir kommen immer wieder auf die Details zurück, die ich in den früheren Kapiteln angeführt habe.

 

Dadurch, daß die Proportionen im menschlichen Körper so verschiedenartig sich darstellen, fällt schon ganz von selbst das Schematische, wie es früher geübt wurde, in sich zusammen. Es gibt eben keine feststehende Proportionstafel, und wie es diese nicht gibt, existieren auch keine Schönheits-Gesetze des Körpers. Jeder Künstler kann nach seiner Individualität neue Formen bilden, ohne daß diese für andere Schaffende maßgebend werden könnten.

 

Endlich wäre noch das Kultivieren des Flächigen hervorzuheben, was ich durch die Hilfskonstruktion der Kasten klarlegen wollte: Es wird stets fehlerhaft sein, den Körper durch ein Kugelsystem (die Franzosen nennen das: »Billardkugel«) modellieren zu wollen. Das, was man »rund modellieren« nennt, bedeutet, daß ein Körper ringsum von Luft umgeben und greifbar erscheinen soll. Wie man [57] im großen und ganzen jedes Glied in Seitenflächen, Ober- und Unterfläche auseinander halten kann, so ist dieses Flächige auch in den Details weiterzuführen, da gewissermaßen die großen Partien wieder in sich kleinere Form flächen aufweisen.

 

Es ist notwendig: die Detailflächen so darzustellen, daß sie die großen Flächen nicht zerreißen, sondern nur bereichern.

 

Eine letzte Vollendung: den Rhythmus und den Fluß der Linien ermöglichen die Formen der Muskel. Wenn ich auch gerade nicht die exakte Muskellehre für absolut notwendig erachte, so wird sich dennoch eine gewisse Kenntnis und eine praktische Vervollkommnung bei jedem Lernenden einstellen durch fortwährendes Studium, in welchem man sich über die Ursachen jeder Linienschwingung Rechenschaft zu geben sucht.

 

Wenn wir nun das Fazit dieser ganzen Entwicklungslehre ziehen, so können wir eine Aktzeichnung als gut bezeichnen, wenn die obengenannten drei Bedingungen in ihr erfüllt sind, und zwar vom ersten Entwurf an bis zum definitiven Ende der Ausführung, die aber weder als kalligraphische, durch bestechende Art der Zeichnungsmanier noch im Sinne einer photographischen Durchführung gemeint ist.

 

Das Konstruktive und das Architektonische geben die Richtigkeit, die jeweilige Stärke der Auffassung aber den künstlerischen Wert einer derartigen Arbeit.