Wassily Kandinsky - Über die Formfrage 1912

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Über die Formfrage

 

«Über die Formfrage» erschien 1912 in der Publikation Der Blaue Reiter im Verlag R. Piper & Co. München, herausgegeben von Kandinsky und Franz Marc. Es handelt sich dabei um einen der umfangreichsten Beiträge dieser vielzitierten Publikation und um eine, sowohl nach Stil und Inhalt, an Über das Geistige in der Kunst (im Dezember 1911 ebenfalls bei Piper erschienen) angelehnte und deren Gedanken weiterführende Abhandlung.

 

 

 

 

Zur bestimmten Zeit werden die Notwendigkeiten reif. Das heißt der schaffende Geist (welchen man als den abstrakten Geist bezeichnen kann) findet einen Zugang zur Seele, später zu den Seelen und verursacht eine Sehnsucht, einen innerlichen Drang.

 

Wenn die zum Reifen einer präzisen Form notwendigen Bedingungen erfüllt sind, so bekommt die Sehnsucht, der innere Drang, die Kraft, im menschlichen Geist einen neuen Wert zu schaffen, welcher bewußt oder unbewußt im Menschen zu leben anfängt. Bewußt oder unbewußt, sucht der Mensch von diesem Augenblick an dem in geistiger Form in ihm lebenden neuen Wert eine materielle Form zu finden.

 

Das ist das Suchen des geistigen Wertes nach Materialisation. Die Materie ist hier eine Vorratskammer, aus welcher der Geist das ihm in diesem Falle Nötige wählt, wie es der Koch tut.

 

Das ist das Positive, das Schaffende. Das ist das Gute. Der weiße befruchtende Strahl.

Dieser weiße Strahl führt zur Evolution, zur Erhöhung. So ist hinter der Materie, in der Materie der schaffende Geist verborgen. Das Verhüllen des Geistes in der Materie ist oft so dicht, daß es im allgemeinen wenig Menschen gibt, die den Geist hindurchsehen können. So sehen gerade heute viele den Geist in der Religion, in der Kunst nicht. Es gibt ganze Epochen, die den Geist ableugnen, da die Augen der Menschen im allgemeinen zu solchen Zeiten den Geist nicht sehen können. So war es im 19. Jahrhundert und so ist es im großen und ganzen noch heute.

 

Die Menschen werden verblendet.

 

Eine schwarze Hand legt sich auf ihre Augen. Die schwarze Hand gehört dem Hassenden. Der Hassende versucht durch alle Mittel die Evolution, die Erhöhung zu bremsen.

 

Das ist das Negative, das Zerstörende. Das ist das Böse. Die schwarze todbringende Hand.

Die Evolution, die Bewegung nach vor- und aufwärts, ist nur dann möglich, wenn die Bahn frei ist, das heißt wenn keine Schranken im Wege stehen. Das ist die äußere Bedingung.

 

Die Kraft, die auf der freien Bahn den menschlichen Geist nach vor- und aufwärts bewegt, ist der abstrakte Geist. Er muß natürlich herausklingen und gehört werden können. Der Ruf muß möglich sein. Das ist die innere Bedingung.

 

Diese beiden Bedingungen zu vernichten, ist das Mittel der schwarzen Hand gegen die Evolution.

Die Werkzeuge dazu sind: die Angst vor der freien Bahn, vor der Freiheit (Banausentum) und die Taubheit gegen den Geist (stumpfer Materialismus).

 

Deshalb wird jeder neue Wert von den Menschen feindlich betrachtet. Man sucht ihn zu bekämpfen durch Spott und Verleumdung. Der den Wert bringende Mensch wird als lächerlich und unehrlich dargestellt. Es wird über den neuen Wert gelacht und geschimpft. Das ist der Schreck des Lebens.

 

Die Freude des Lebens ist der unaufhaltsame, ständige Sieg des neuen Wertes.

Dieser Sieg geht langsam vor sich. Der neue Wert erobert ganz allmählich die Menschen. Und wenn er in vielen Augen unzweifelhaft wird, so wird aus diesem Wert, der heute unumgänglich nötig war, eine Mauer gebildet, die gegen Morgen gerichtet ist.

 

Das Verwandeln des neuen Wertes (der Frucht der Freiheit) in eine versteinerte Form (Mauer gegen Freiheit) ist das Werk der schwarzen Hand.

 

Die ganze Evolution, das heißt das innere Entwickeln und die äußere Kultur, ist also ein Verschieben der Schranken.

 

Die Schranken werden ständig aus neuen Werten geschaffen, die die alten Schranken umgestoßen haben.

 

So sieht man, daß im Grunde nicht der neue Wert das wichtigste ist, sondern der Geist, welcher sich in diesem Werte offenbart hat. Und weiter die für die Offenbarungen notwendige Freiheit.

So sieht man, daß das Absolute nicht in der Form (Materialismus) zu suchen ist.

 

Die Form ist immer zeitlich, das heißt relativ, da sie nichts mehr ist, als das heute notwendige Mittel, in welchem die heutige Offenbarung sich kundgibt, klingt.

 

Der Klang ist also die Seele der Form, die nur durch den Klang lebendig werden kann und von innen nach außen wirkt.

 

Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhaltes.

 

Deshalb sollte man sich aus der Form keine Gottheit machen. Und man sollte nicht länger um die Form kämpfen, als sie zum Ausdrucks- mittel des inneren Klanges dienen kann. Deshalb sollte man nicht in einer Form das Heil suchen.

 

Diese Behauptung muß richtig verstanden werden. Für jeden Künstler (das heißt produktiven Künstler und nicht «Nachempfinder») ist sein Ausdrucksmittel (= Form) das beste, da es am besten das verkörpert, was er zu verkünden verpflichtet ist. Daraus wird aber oft fälschlich die Folge gezogen, daß dieses Ausdrucksmittel auch für die andern Künstler das beste ist oder sein sollte.

 

Da die Form nur ein Ausdruck des Inhaltes ist und der Inhalt bei verschiedenen Künstlern verschieden ist, so ist es klar, daß es zu derselben Zeit viel verschiedene Formen geben kann, die gleich gut sind. Die Notwendigkeit schafft die Form. In großen Tiefen lebende Fische haben keine Augen. Der Elefant hat einen Rüssel. Das Chamäleon verändert seine Farbe undsoweiter.

So spiegelt sich in der Form der Geist des einzelnen Künstlers. Die Form trägt den Stempel der Persönlichkeit.

 

Die Persönlichkeit kann aber natürlich nicht als etwas außer Zeit und Raum Stehendes aufgefaßt werden. Sondern sie unterliegt in gewissem Maße der Zeit (Epoche), dem Raum (Volk).

 

Ebenso wie jeder einzelne Künstler sein Wort zu verkünden hat, so auch jedes Volk, und also auch das Volk, zu welchem dieser Künstler gehört. Dieser Zusammenhang spiegelt sich in der Form und wird durch das Nationale im Werke bezeichnet.

 

Und endlich hat auch jede Zeit eine ihr speziell gegebene Aufgabe, die durch sie mögliche Offenbarung. Die Abspiegelung dieses Zeitlichen wird als Stil im Werke erkannt.

 

Alle diese drei Elemente des Stempels auf einem Werke sind unvermeidlich. Es ist nicht nur überflüssig, für ihr Vorhandensein zu sorgen, sondern auch schädlich, da das Gewaltsame auch hier nichts als eine Vortäuschung, einen zeitlichen Betrug erzielen kann.

 

Und andererseits wird es von selbst klar, daß es überflüssig und schädlich ist, nur eins der drei Elemente besonders geltend machen zu wollen. So wie heute viele sich um das Nationale und andere wieder um den Stil bemühen, so hat man vor kurzem besonders dem Kultus der Persönlichkeit (des Individuellen) gehuldigt.

 

Wie im Anfang gesagt wurde, bemächtigt sich der abstrakte Geist erst eines einzelnen menschlichen Geistes, später beherrscht er eine immer größer werdende Anzahl der Menschen. In diesem Augenblick unterliegen einzelne Künstler dem Zeitgeist, welcher sie zu einzelnen Formen zwingt, die einander verwandt sind und dadurch auch eine äußerliche Ähnlichkeit besitzen.

 

Diesen Moment nennt man eine Bewegung. Sie ist vollkommen berechtigt und (ebenso wie die einzelne Form für einen Künstler) einer Gruppe von Künstlern unentbehrlich.

 

Und so wie kein Heil in einer Form eines einzelnen Künstlers zu suchen ist, so auch nicht in dieser Gruppenform. Für jede Gruppe ist ihre Form die beste, da sie am besten das verkörpert, was sie zu ver- künden verpflichtet ist. Man sollte aber nicht daraus schließen, daß diese Form für alle die beste ist oder sein sollte. Auch hier soll volle Freiheit herrschen und man soll jede Form gelten lassen, man soll jede Form für richtig (= künstlerisch) halten, die ein äußerer Ausdruck des inneren Inhaltes ist. Wenn man sich anders verhält, so dient man nicht mehr dem freien Geiste (weißer Strahl), sondern der versteinerten Schranke (schwarze Hand).

 

Also auch hier kommt man zu demselben Resultat, welches oben festgestellt wurde: nicht die Form (Materie) im allgemeinen ist das wichtigste, sondern der Inhalt (Geist).

 

Also die Form kann angenehm, unangenehm wirken, schön, unschön, harmonisch, disharmonisch. geschickt, ungeschickt, fein, grob und so weiter erscheinen, und doch muß sie weder wegen den für positiv gehaltenen Eigenschaften noch als negativ empfundenen Qualitäten angenommen oder verworfen werden. Alle diese Begriffe sind vollkommen relativ, was man in der unendlichen Wechselreihe der schon dagewesenen Formen auf den ersten Blick beobachtet.

 

Und ebenso relativ ist also die Form selbst. So ist die Form auch zu schätzen und aufzufassen. Man muß sich so zu einem Werk stellen, daß auf die Seele die Form wirkt. Und durch die Form der Inhalt (Geist, innerer Klang). Sonst erhebt man das Relative zum Absoluten.

 

Im praktischen Leben wird man kaum einen Menschen finden, welcher, wenn er nach Berlin fahren will, den Zug in Regensburg verläßt. Im geistigen Leben ist das Aus steigen in Regensburg eine ziemlich gewöhnliche Sache. Manchmal will sogar der Lokomotivführer nicht weiter fahren und die sämtlichen Reisenden steigen in Regensburg aus. Wie viele, die Gott suchten, blieben schließlich bei einer geschnitzten Figur stehen! Wie viele, die Kunst suchten, blieben an einer Form hängen, die ein Künstler für seine Zwecke gebraucht hat, sei es Giotto, Raphael, Dürer oder van Gogh!

 

Und also als letzter Schluß muß festgestellt werden: nicht das ist das wichtigste, ob die Form persönlich, national, stilvoll ist, ob sie der Hauptbewegung der Zeitgenossen entspricht oder nicht, ob sie mit vielen oder wenigen anderen Formen verwandt ist oder nicht, ob sie ganz einzeln dasteht oder nicht, sondern das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist oder nicht (Das heißt, man darf nicht aus einer Form eine Uniform machen, Kunstwerke sind keine Soldaten. Eine und dieselbe Form kann also wieder auch bei demselben Künstler einmal die beste, ein anderes Mal die schlechteste sein. Im ersten Fall ist sie auf dem Boden der inneren Notwendigkeit gewachsen, im zweiten – auf dem Boden der äußeren Notwendigkeit: aus dem Ehrgeiz und der Habsucht.). Das Vorhandensein der Formen in der Zeit und im Raum ist ebenso aus der inneren Notwendigkeit der Zeit und des Raumes zu erklären. Deshalb wird es im letzten Grunde möglich werden, die Merkmale der Zeit und des Volkes herauszuschälen und schematisch darzustellen. Und je größer die Epoche ist, das heißt je größer (quantitativ) die Bestrebungen zum Geistigen sind, desto reicher in der Zahl werden die Formen einerseits, und desto größere Gesamtströmungen (Gruppenbewegungen) sind zu beobachten, was von selbst klar ist.

 

Diese Merkmale einer großen geistigen Epoche (die prophezeit wurde und heute in einem der ersten Anfangsstadien sich kund gibt) sehen wir in der gegenwärtigen Kunst. Und zwar:

 

1. eine große Freiheit, die manchem grenzenlos erscheint und die

2. den Geist hörbar macht, welchen

3. wir mit einer ganz besonders starken Kraft sich in den Dingen offenbaren sehen, welcher

4. alle geistigen Gebiete sich allmählich zum Werkzeug nehmen wird und schon nimmt, woraus

5. er auch auf jedem geistigen Gebiete, also auch in der plastischen Kunst (speziell in der Malerei) viele einzelnstehende und Gruppen umfassende Ausdrucksmittel (Formen) schafft und

6. welchem heute die ganze Vorratskammer zur Verfügung steht, das heißt es wird jede Materie, von der «härtesten» bis zu der nur zweidimensional lebenden (abstrakten), als Formelement angewendet,

 

ad 1. Was die Freiheit anlangt, so drückt sie sich aus im Streben zur Befreiung von den schon ihr Ziel verkörpert habenden Formen, das heißt, von den alten Formen, im Streben zum Schaffen der neuen und unendlich mannigfaltigen Formen.

 

ad 2. Das unwillkürliche Suchen nach den äußersten Grenzen der Ausdrucksmittel der heutigen Epoche (Ausdrucksmittel der Persönlichkeit, des Volkes, der Zeit) ist andererseits ein Unterordnen der scheinbar zügellosen Freiheit, welches vom Zeitgeiste bestimmt wird, und eine Präzisierung der Richtung, in welcher das Suchen geschehen muß. Der unter einem Glas in allen Richtungen laufende kleine Käfer glaubt eine unbeschränkte Freiheit vor sich zu sehen. Er stößt aber in einer gewissen Entfernung auf das Glas: sehen kann er weiter, aber gehen nicht. Und die Bewegung des Glases nach vorwärts gibt ihm die Möglichkeit, weiteren Raum zu durchlaufen Und seine Hauptbewegung wird von der lenkenden Hand bestimmt. – So wird auch unsere sich vollkommen frei schätzende Epoche auf bestimmte Grenzen stoßen, die aber «morgen» verschoben werden.

 

ad 3. Diese scheinbar zügellose Freiheit und das Eingreifen des Geistes entspringt aus der Tatsache, daß wir in jedem Ding den Geist, den inneren Klang zu fühlen beginnen. Und gleichzeitig wird diese beginnende Fähigkeit zu einer reiferen Frucht der scheinbar zügellosen Freiheit und des eingreifenden Geistes,

 

ad. 4. Hier können wir nicht die bezeichneten Wirkungen auf allen anderen geistigen Gebieten zu präzisieren versuchen. Doch soll es jedem von selbst klar werden, daß das Mitwirken der Freiheit und des Geistes früher oder später sich überall abspiegeln wird (Etwas näher habe ich diese Frage in meiner Schrift Über das Geistige in der Kunst erörtert.).

 

ad. 5. In der bildenden Kunst (ganz besonders in der Malerei) begegnen wir heute einem auffallenden Reichtum der Formen, die teils als Formen der einzeln stehenden großen Persönlichkeiten erscheinen, teils ganze Gruppen von Künstlern in einem großen und vollkommen präzis dahinwallenden Strom mitreißen.

 

Und die große Verschiedenheit dieser Formen läßt doch leicht das gemeinsame Streben erkennen. Und gerade in der Massenbewegung läßt sich heute der alles umfassende Formgeist erkennen. Und so genügt es, wenn man sagt: Alles ist erlaubt. Das heute Erlaubte kann doch nicht überschritten werden. Das heute Verbotene bleibt unerschütterlich stehen.

 

Und man sollte sich keine Grenzen stellen, da sie ohnehin gestellt sind. Das gilt nicht nur für den Absender (Künstler) sondern auch für den Empfänger (Beschauer). Er kann und muß dem Künstler folgen, und keine Angst sollte er haben, daß er auf Irrwege geleitet wird. Der Mensch kann sogar physisch sich nicht schnurgerade bewegen (die Feld- und Wiesenpfade!) und noch weniger geistig. Und gerade unter den geistigen Wegen ist oft der schnurgerade der lange, da er falsch ist, und der als falsch erscheinende ist oft der richtigste.

 

Das zum lauten Sprechen gebrachte «Gefühl» wird früher oder später den Künstler und ebenso den Beschauer richtig leiten. Das ängstliche Sichhalten an einer Form führt schließlich unvermeidlich in eine Sackgasse. Das offene Gefühl – zur Freiheit. Das erste ist das Folgen der Materie. Das zweite – dem Geiste: der Geist schafft eine Form und geht zu weiteren über.

 

ad. 6. Das auf einen Punkt (sei es Form oder Inhalt) gerichtete Auge kann unmöglich eine große Fläche übersehen. Das auf der Oberfläche herumstreifende unaufmerksame Auge übersieht diese große Fläche oder einen Teil derselben, bleibt aber an den äußeren Verschiedenheiten hängen und verliert sich in Widersprüchen. Der Grund dieser Widersprüche liegt in der Verschiedenheit der Mittel, die der heutige Geist aus der Vorratskammer der Materie scheinbar planlos herausreißt. «Anarchie» nennen viele den gegenwärtigen Zustand der Malerei. Dasselbe Wort wird schon hier und da auch bei der Bezeichnung des gegenwärtigen Zustandes in der Musik gebraucht. Darunter versteht man fälschlich ein planloses Umwerfen und Unordnung. Die Anarchie ist Planmäßigkeit und Ordnung, welche nicht durch eine äußere und schließlich versagende Gewalt hergestellt werden, sondern durch das Gefühl des Guten geschaffen werden. Also auch hier werden Grenzen gestellt, die aber als innere bezeichnet werden müssen und die äußeren ersetzen müssen. Und auch diese Grenzen werden immer erweitert, wodurch die immer zunehmende Freiheit entsteht, die ihrerseits freie Bahn schafft für die weiteren Offenbarungen. Die gegenwärtige Kunst, die in diesem Sinne richtig als anarchistisch zu bezeichnen ist, spiegelt nicht nur den schon eroberten geistigen Standpunkt ab, sondern sie verkörpert als eine materialisierende Kraft das zur Offenbarung gereifte Geistige.

 

Die vom Geiste aus der Vorratskammer der Materie herausgerissenen Verkörperungsformen lassen sich leicht zwischen zwei Pole ordnen. Diese zwei Pole sind:

 

1. die große Abstraktion,

2. die große Realistik.

 

Diese zwei Pole eröffnen zwei Wege, die schließlich zu einem Ziel führen.

 

Zwischen diesen zwei Polen liegen viele Kombinationen der verschiedenen Zusammenklänge des Abstrakten mit dem Realen.

 

Diese beiden Elemente waren in der Kunst immer vorhanden, wobei sie als das «Reinkünstlerische» und das «Gegenständliche» zu bezeichnen waren. Das erste drückte sich im zweiten aus, wobei das zweite dem ersten diente. Es war ein verschiedenartiges Balancieren, welches scheinbar im absoluten Gleichgewicht den Höhepunkt des Idealen zu erreichen suchte.

Und es scheint, daß man heute in diesem Ideal kein Ziel mehr findet, daß der die Schalen der Waage haltende Hebel verschwunden ist und daß beide Schalen als selbständige, voneinander unabhängige Einheiten ihre Existenzen getrennt zu führen beabsichtigen. Und auch in diesem Zerbrechen der idealen Waage sieht man «Anarchistisches». Dem angenehmen Ergänzen des Abstrakten durch das Gegenständliche und umgekehrt hat die Kunst scheinbar ein Ende bereitet. Einerseits wird dem Abstrakten die divertierende Stütze im Gegen- ständlichen genommen und der Beschauer fühlt sich in der Luft schweben. Man sagt: die Kunst verliert den Boden.

Andererseits wird dem Gegenständlichen die divertierende Idealisierung im Abstrakten (das «künstlerische» Element) genommen und der Beschauer fühlt sich an den Boden genagelt. Man sagt: die Kunst verliert das Ideal. Diese Vorwürfe wachsen aus dem mangelhaft entwickelten Gefühl. Die Gewohnheit, der Form die Hauptaufmerksamkeit zu schenken und die daraus fließende Art des Beschauers, das heißt das Hängen an der gewohnten Form des Gleichgewichtes, sind die verblendenden Kräfte, die dem freien Gefühl keine freie Bahn lassen.

Die erwähnte, erst keimende große Realistik ist ein Streben, aus dem Bilde das äußerliche Künstlerische zu vertreiben und den Inhalt des Werkes durch einfache («unkünstlerische») Wiedergabe des einfachen harten Gegenstandes zu verkörpern.

 

Die in dieser Art aufgefaßte und im Bilde fixierte äußere Hülse des Gegenstandes und das gleichzeitige Streichen der gewohnten aufdringlichen Schönheit entblößen am sichersten den inneren Klang des Dinges. Gerade durch diese Hülse bei diesem Reduzieren des «Künstlerischen» auf das Minimum klingt die Seele des Gegenstandes am stärksten heraus, da die äußere wohlschmeckende Schön- heit nicht mehr ablenken kann (Den Inhalt des gewohnten Schönen hat der Geist schon absorbiert und findet keine neue Nahrung darin. Die Form dieses gewohnten Schönen gibt dem faulen körperlichen Auge die gewohnten Genüsse. Die Wirkung des Werkes bleibt im Bereiche des Körperlichen stecken. Das geistige Erlebnis wird unmöglich. So bildet oft dieses Schöne eine Kraft, die nicht zum Geist, sondern vom Geist führt.).

 

Und das ist nur darum möglich, weil wir immer weiter kommen, auf dem Wege, die ganze Welt so, wie sie ist, also in keiner verschönenden Interpretation hören zu können.

 

Das zum Minimum gebrachte «Künstlerische» muß hier als das am stärksten wirkende Abstrakte erkannt werden (Die quantitative Verminderung des Abstrakten ist also der qualitativen Vergrößerung des Abstrakten gleich. Hier berührten wir eins der wesentlichsten Gesetze: das äußere Vergrößern eines Ausdrucks- mittels führt unter Umständen zum Vermindern der inneren Kraft desselben. Hier ist 2 + 1 weniger als 2 - 1. Dieses Gesetz offenbart sich natürlich auch in der kleinsten Ausdrucksform: ein Farbenfleck verliert oft an der Intensität und muß an der Wirkung verlieren – durch äußere Vergrößerung und durch die äußere Steigerung der Stärke. Eine besonders gute Farbenbewegung entsteht oft durch das Hemmen derselben; ein schmerzlicher Klang kann durch direkte Süße der Farbe erzielt werden undsoweiter. Das alles sind Äußerungen des Gesetzes des Gegensatzes in seinen weiteren Folgen. Kurz gesagt: Aus der Kombination des Gefühls und der Wissenschaft entsteht die wahre Form. Hier muß ich wieder an den Koch erinnern! Die gute körperliche Speise entsteht auch aus der Kombination eines guten Rezeptes (wo alles genau in Pfund und Gramm bezeichnet ist) und aus dem lenkenden Gefühl. Ein großes Merkmal unserer Zeit ist das Aufgehen des Wissens: die Kunstwissenschaft nimmt allmählich den ihr gebührenden Platz ein. Das ist der kommende

«Generalbaß», welchem natürlich eine unendliche Wechsel- und Entwicklungsbahn bevorsteht!).

Der große Gegensatz zu dieser Realistik ist die große Abstraktion, die aus dem Bestreben, das Gegenständliche (Reale) scheinbar ganz auszuschalten, besteht und den Inhalt des Werkes in «unmateriellen» Formen zu verkörpern sucht. Das in dieser Art aufgefaßte und im Bild fixierte abstrakte Leben der auf das Minimale reduzierten gegenständlichen Formen und also das auffallende Vorwiegen der abstrakten Einheiten entblößt am sichersten den inneren Klang des Bildes. Und ebenso, wie in der Realistik durch das Streichen des Abstrakten der innere Klang verstärkt wird, so wird auch in der Abstraktion dieser Klang durch das Streichen des Realen verstärkt. Dort war es die gewohnte äußere wohlschmeckende Schönheit, die den Dämpfer bildete. Hier ist es der gewohnte äußere unterstützende Gegenstand.

 

Zum «Verständnis» dieser Art Bilder ist auch dieselbe Befreiung wie in der Realistik nötig, das heißt auch hier muß es möglich werden, die ganze Welt, so wie sie ist, ohne gegenständliche Interpretation hören zu können. Und hier sind diese abstrahierten oder abstrakten Formen (Linien, Flächen, Flecken undsoweiter) nicht selbst als solche wichtig, sondern nur ihr innerer Klang, ihr Leben. So wie in der Realistik nicht der Gegenstand selbst, oder seine äußere Hülse, sondern sein innerer Klang, Leben wichtig sind.

 

Das zum Minimum gebrachte «Gegenständliche» muß in der Abstraktion als das am stärksten wirkende Reale erkannt werden (Also am anderen Pol treffen wir dasselbe wie eben erwähnte Gesetz, wonach die quantitative Verminderung der qualitativen Vergrößerung gleich ist.)

 

So sehen wir schließlich: wenn in der großen Realistik das Reale auffallend groß erscheint und das Abstrakte auffallend klein und in der großen Abstraktion dieses Verhältnis umgekehrt zu sein scheint, so sind im letzten Grunde (= Ziele) diese zwei Pole einander gleich. Zwischen diesen zwei Antipoden kann das Zeichen des Gleichnisses gestellt werden:

 

Realistik = Abstraktion

Abstraktion = Realistik.

 

Die größte Verschiedenheit im Äußeren wird zur größten Gleichheit im Inneren.

 

Einige Beispiele werden uns aus dem Gebiet der Reflexion in das Gebiet des Greifbaren versetzen. Wenn der Leser irgendeinen Buchstaben dieser Zeilen mit ungewohnten Augen anschaut, das heißt nicht als ein gewohntes Zeichen eines Teiles eines Wortes, sondern erst als Ding, so sieht er in diesem Buchstaben außer der praktisch-zweckmäßig vom Menschen geschaffenen abstrakten Form, die eine ständige Bezeichnung eines bestimmten Lautes ist, noch eine körperliche Form, die ganz selbständig einen bestimmten äußeren und inneren Eindruck macht, das heißt unabhängig von der eben erwähnten abstrakten Form. In diesem Sinne besteht der Buchstabe:

 

1. aus der Hauptform = Gesamterscheinung, die, sehr grob bezeichnet, «lustig», «traurig», «strebend», «sinkend», «trotzig», «protzig» undsoweiter erscheint;

2. besteht der Buchstabe aus einzelnen, so oder anders gebogenen Linien, die auch jedesmal einen bestimmten inneren Eindruck machen, das heißt ebenso «lustig», «traurig» undsoweiter sind.

 

Wenn der Leser diese zwei Elemente des Buchstabens gefühlt hat, so entsteht in ihm sofort das Gefühl, welches dieser Buchstabe als Wesen mit innerem Leben verursacht.

 

Man soll hier nicht mit der Erwiderung kommen, daß dieser Buchstabe auf einen Menschen so, auf den anderen anders wirkt. Das ist nebensächlich und verständlich. Im allgemeinen gesagt, wirkt jedes Wesen auf verschiedene Menschen so oder anders. Wir sehen nur, daß der Buchstabe aus zwei Elementen besteht, die doch schließlich einen Klang ausdrücken. Die einzelnen Linien des zweiten Elementes können «lustig» sein und doch kann der ganze Eindruck (Element I) «traurig» wirken undsoweiter. Die einzelnen Bewegungen des zweiten Elementes sind organische Teile des ersten. Ebensolche Konstruktionen und ebensolche Unterordnungen der einzelnen Elemente einem Klang beobachten wir in jedem Lied, jedem Klavierstück, in jeder Symphonie. Und ganz dieselben Vorgänge bilden eine Zeichnung, eine Skizze, ein Bild. Hier offenbaren sich die Ge- setze der Konstruktion. Für uns ist augenblicklich nur eins wichtig: der Buchstabe wirkt. Und, wie gesagt, ist diese Wirkung doppelt:

 

1. Der Buchstabe wirkt als ein zweckmäßiges Zeichen;

2. er wirkt erst als Form und später als innerer Klang dieser Form selbständig und vollkommen unabhängig.

 

Es ist uns wichtig, daß diese zwei Wirkungen in keinem gegenseitigen Zusammenhange sind, und während die erste Wirkung eine äußere ist, hat die zweite einen inneren Sinn.

 

Der Schluß, den wir daraus ziehen, ist der, daß die äußere Wirkung eine andere sein kann, als die innere, die durch den inneren Klang verursacht wird, was eins der mächtigsten und tiefsten Ausdrucksmittel in jeder Komposition ist (Hier kann ich solche großen Probleme nur im Vorübergehen streifen. Der Leser braucht sich nur weiter in diese Fragen vertiefen und das Gewaltige, Geheimnisvolle, unüberwindlich Verlockende zum Beispiel dieser letzten Schlußfolge wird sich von selbst einstellen.).

 

Nehmen wir noch ein Beispiel. Wir sehen in diesem selben Buch einen Gedankenstrich. Dieser Gedankenstrich, wenn er an der richtigen Stelle angebracht ist – so wie ich es hier mache –, ist eine Linie mit einer praktisch-zweckmäßigen Bedeutung. Wollen wir diese kleine Linie verlängern und sie doch an einer richtigen Stelle lassen: der Sinn der Linie bleibt, ebenso wie ihre Bedeutung, die aber durch das Ungewohnte dieser Verlängerung eine undefinierbare Färbung gibt, wobei der Leser sich fragt, warum die Linie so lang ist und ob diese Länge nicht einen praktisch-zweckmäßigen Zweck hat. Stellen wir dieselbe Linie an einer falschen Stelle (so wie – ich es hier mache). Das richtig Praktisch-Zweckmäßige ist verloren und nicht mehr zu finden, der Beiklang der Frage ist hoch gewachsen. Es bleibt der Gedanke an einen Druckfehler, das heißt an das entstellte Praktisch-Zweckmäßige. Hier klingt das letztere negativ. Bringen wir dieselbe Linie auf einer leeren Seite an, zum Beispiel lang und geschweift. Dieser Fall ist dem letzten sehr ähnlich, nur denkt man (solange die Hoffnung einer Erklärung vorhanden ist)an das richtig Praktisch-Zweck- mäßige. Und später (wenn keine Erklärung zu finden ist) an das Negative. Solange aber diese oder jene Linie im Buch bleibt, ist das Praktisch- Zweckmäßige nicht definitiv zum Ausschalten zu bringen.

 

Bringen wir also eine ähnliche Linie in ein Milieu, welches das Praktisch-Zweckmäßige vollkommen zu vermeiden vermag. Zum Beispiel auf eine Leinwand. Solange der Beschauer (es ist kein Leser mehr) die Linie auf der Leinwand als ein Mittel zur Abgrenzung eines Gegenstandes ansieht, unterliegt er auch hier dem Eindruck des Praktisch-Zweckmäßigen. In dem Augenblick aber, in welchem er sich sagt, daß der praktische Gegenstand auf dem Bilde meistens nur eine zufällige und nicht eine rein malerische Rolle spielte, und daß die Linie manchmal eine ausschließlich rein malerische Bedeutung hatte (Van Gogh hat mit besonderer Kraft die Linie als solche gebraucht, ohne damit das Gegenständliche irgendwie markieren zu wollen.), in diesem Augenblick ist die Seele des Beschauers reif, den reinen inneren Klang dieser Linie zu empfinden.

 

Ist denn dadurch der Gegenstand, das Ding aus dem Bilde vertrieben? Nein. Die Linie ist, wie wir oben gesehen haben, ein Ding, welches ebenso einen praktisch-zweckmäßigen Sinn hat, wie ein Stuhl, ein Brunnen, ein Messer, ein Buch undsoweiter. Und dieses Ding wird in dem letzten Beispiel als ein reines malerisches Mittel gebraucht ohne die andern Seiten, die es sonst besitzen kann – also in seinem reinen inneren Klang.

 

Wenn also im Bild eine Linie von dem Ziel, ein Ding zu bezeichnen, befreit wird und selbst als ein Ding fungiert, wird ihr innerer Klang durch keine Nebenrollen abgeschwächt und bekommt ihre volle innere Kraft.

 

So kommen wir zur Folge, daß die reine Abstraktion sich auch der Dinge bedient, die ihr materielles Dasein führen, geradeso, wie die reine Realistik. Die größte Verneinung des Gegenständlichen und ihre größte Behauptung bekommen wieder das Zeichen des Gleich- nisses. Und dieses Zeichen wird wieder durch das gleiche Ziel in beiden Fällen berechtigt: durch das Verkörpern desselben inneren Klanges.

 

Hier sehen wir, daß es also im Prinzip gar keine Bedeutung hat, ob eine reale oder abstrakte Form vom Künstler gebraucht wird.

 

Da beide Formen innerlich gleich sind. Die Wahl muß dem Künstler überlassen werden, welcher selbst am besten wissen muß, durch welches Mittel er am klarsten den Inhalt seiner Kunst materialisieren kann. Abstrakt gesagt: Es gibt keine Frage der Form im Prinzip.

 

Und tatsächlich: wenn es eine prinzipielle Frage der Form gäbe, so würde auch eine Antwort möglich sein. Und jeder, der diese Antwort kennt, würde Kunstwerke schaffen können. Das heißt, zur selben Zeit würde die Kunst nicht mehr existieren. Praktisch gesagt: Die Frage der Form verändert sich in die Frage: welche Form soll ich in diesem Falle anwenden, um zum notwendigen Ausdruck meines inneren Erlebnisses zu gelangen? Die Antwort ist in diesem Falle immer wissenschaftlich präzis, absolut und für andere Fälle relativ. Das heißt eine Form, die die beste in einem Falle ist, kann in einem anderen Falle die schlechteste sein: alles hängt hier von der inneren Notwendigkeit ab, die allein eine Form richtig machen kann. Und nur dann kann eine Form eine Bedeutung für mehrere haben, wenn die innere Notwendigkeit unter dem Druck der Zeit und des Raumes einzelne Formen wählt, die miteinander verwandt sind. Dieses ändert aber an der relativen Bedeutung der Form gar nichts, da die auch in diesem Falle richtige Form in vielen anderen Fällen falsch sein kann.

 

Die sämtlichen Regeln, die schon in der früheren Kunst entdeckt wurden und die später entdeckt werden und auf welche die Kunsthistoriker einen übertrieben großen Wert legen, sind keine allgemeinen Regeln: sie führen nicht zur Kunst. Wenn ich die Regeln des Tischlers kenne, so werde ich immer einen Tisch machen können. Der aber, welcher die vermutlichen Regeln des Malers kennt, darf nicht sicher sein, daß er ein Kunstwerk schaffen kann.

 

Diese vermutlichen Regeln, die bald in der Malerei zu einem «Generalbaß» führen werden, sind nichts als Erkenntnis der inneren Wirkung der einzelnen Mittel und ihrer Kombinierung. Es wird aber nie Regeln geben, durch welche eine gerade in einem bestimmten Falle notwendige Anwendung der Formwirkung und Kombinierung der einzelnen Mittel zu erreichen sein wird.

Das praktische Resultat: Man darf nie einem Theoretiker (Kunsthistoriker, Kritiker undsoweiter) glauben, wenn er behauptet, daß er irgendeinen objektiven Fehler im Werke entdeckt hat.

Und: das Einzige, was der Theoretiker mit Recht behaupten kann, ist das, daß er bis jetzt diese oder jene Anwendung des Mittels noch nicht gekannt hat. Und: die Theoretiker, die, von der Analyse der schon dagewesenen Formen ausgehend, ein Werk tadeln oder loben, sind die schädlichsten Irreführer, die zwischen dem Werk und dem naiven Beschauer eine Mauer bilden.

Von diesem Standpunkt aus (welcher leider meistens der einzig mögliche ist) ist die Kunstkritik der schlimmste Feind der Kunst.

 

Der ideale Kunstkritiker wäre also nicht der Kritiker, welcher die «Fehler» (Zum Beispiel «anatomische Fehler», «Verzeichnungen» und dergleichen oder später Verstöße gegen den kommenden «Generalbaß».), «Verirrungen», «Unkenntnisse», «Entlehnungen» und so weiter zu entdecken suchen würde, sondern der, welcher zu fühlen suchen würde, wie diese oder jene Form innerlich wirkt und dann sein Gesamterlebnis dem Publikum ausdrucksvoll mitteilen würde.

Hier würde natürlich der Kritiker eine Dichterseele brauchen, da der Dichter objektiv fühlen muß, um subjektiv sein Gefühl zu verkörpern. Das heißt der Kritiker würde eine schöpferische Kraft besitzen müssen. In Wirklichkeit sind aber die Kritiker sehr oft mißlungene Künstler, die am Mangel eigener schöpferischer Kraft scheitern und deshalb sich berufen fühlen, die fremde schöpferische Kraft zu lenken.

 

Die Formfrage ist für die Künstler oft schädlich auch darum, weil unbegabte Menschen (das heißt Menschen, die keinen inneren Trieb zur Kunst haben), sich der fremden Formen bedienend, Werke vortäuschen und dadurch eine Verwirrung verursachen.

 

Hier muß ich präzis sein. Eine fremde Form zu gebrauchen heißt in der Kritik, im Publikum und oft bei den Künstlern ein Verbrechen, ein Betrug. Das ist aber in Wirklichkeit nur dann der Fall, wenn der «Künstler» diese fremden Formen ohne innere Notwendigkeit braucht und dadurch ein lebloses, totes Scheinwerk schafft. Wenn aber der Künstler zum Ausdruck seiner inneren Regungen und Erlebnisse sich einer oder der andern «fremden» Form, der inneren Wahrheit entsprechend, bedient, so übt er sein Recht aus, sich jeder ihm innerlich nötigen Form zu bedienen – sei es ein Gebrauchsgegenstand, ein Himmelskörper oder eine durch einen andern Künstler schon künstlerisch materialisierte Form.

 

Diese ganze Frage der «Nachahmung» (Wie phantastisch die Kritik auf diesem Gebiete ist, weiß jeder Künstler. Die Kritik weiß, daß die tollsten Behauptungen gerade hier vollkommen straflos angewendet werden können. Zum Beispiel vor kurzem wurde die Negerin von Eugen Kahler, eine gute naturalistische Atelierstudie, mit …… Gauguin verglichen. Die einzige Veranlassung zu diesem Vergleich konnte nur die braune Haut des Modells sein (siehe Münchner Neueste Nachrichten, 12. Oktober 1911) undsoweiter.

 

) hat auch lange nicht die Bedeutung, die ihr wieder durch die Kritik beigemessen wird (Und dank der herrschenden Überschätzung dieser Frage wird der Künstler unbestraft diskreditiert.). Das Lebende bleibt. Das Tote verschwindet.

 

Und wirklich: je weiter wir unsern Blick zur Vergangenheit wenden desto weniger finden wir Vortäuschungen, Scheinwerke. Sie sind geheimnisvoll verschwunden. Nur die echten künstlerischen Wesen bleiben, das heißt die, die in dem Körper (Form) eine Seele (Inhalt) besitzen.

 

Wenn der Leser weiter jeden beliebigen Gegenstand auf seinem Tisch anschaut (sei es nur ein Zigarrenstummel), so wird er sofort dieselben zwei Wirkungen bemerken. Es sei wo und wann es will (in der Straße, Kirche, im Himmel, Wasser, im Stall oder Wald), überall werden die zwei Wirkungen sich herausstellen und überall wird der innere Klang vom äußeren Sinn unabhängig sein.

 

Die Welt klingt. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen. So ist die tote Materie lebender Geist.

 

Wenn wir aus der selbständigen Wirkung des inneren Klanges die uns hier nötige Folge ziehen, so sehen wir, daß dieser innere Klang an Stärke gewinnt, wenn der ihn unterdrückende äußere praktisch- zweckmäßige Sinn entfernt wird. Hier liegt die eine Erklärung der ausgesprochenen Wirkung einer Kinderzeichnung auf den unparteiischen, untraditionellen Beschauer. Das Praktisch-Zweckmäßige ist dem Kind fremd, da es jedes Ding mit ungewohnten Augen an- schaut und noch die ungetrübte Fähigkeit besitzt, das Ding als solches aufzunehmen. Das Praktisch-Zweckmäßige wird erst später durch viele, oft traurige Erfahrungen langsam kennengelernt. So entblößt sich in jeder Kinderzeichnung ohne Ausnahme der innere Klang des Gegenstandes von selbst. Die Erwachsenen, besonders die Lehrer bemühen sich, dem Kinde das Praktisch-Zweckmäßige aufzudrängen und kritisieren dem Kinde seine Zeichnung gerade von diesem flachen Standpunkt aus: «dein Mensch kann nicht gehen, weil er nur ein Bein hat», «auf deinem Stuhl kann man nicht sitzen, da er schief ist» undsoweiter (Wie es so oft der Fall ist: man belehrt die, die belehren sollten. Und später wundert man sich, daß aus den begabten Kindern nichts wird.). Das Kind lacht sich selbst aus. Es sollte aber weinen. Nun hat das begabte Kind außer der Fähigkeit, das Äußere zu streichen, noch die Macht, das gebliebene Innere in eine Form zu kleiden, in welcher dieses gebliebene Innere am stärksten zum Vorschein kommt und also wirkt (wie man auch zu sagen pflegt «spricht»!).

 

Jede Form ist vielseitig. Man entdeckt an ihr immer und immer andere glückliche Eigenschaften. Hier will ich aber nur eine augenblicklich uns wichtige Seite der guten Kinderzeichnung betonen: die kompositionelle. Hier springt uns ins Auge die unbewußte, wie von selbst gewachsene Anwendung der beiden oben erwähnten Teile des Buchstabens, das heißt 1. die Gesamterscheinung, die sehr oft präzis ist und hier und da bis ins Schematische steigt, und 2. die einzelnen, die große Form bildenden Formen, von denen jede ein eigenes Leben führt. (So zum Beispiel die «Araber» von Lydia Wieber.) Es ist eine unbewußte, enorme Kraft im Kinde, die sich hier äußert und die das Kinderwerk dem Werke des Erwachsenen gleich hoch (und oft viel höher!) stellt (1  Auch diese verblüffende Eigenschaft der kompositionellen Form besitzt die «Volkskunst». (Siehe zum Beispiel das Pest-Votivbild aus der Kirche in Murnau.)).

 

Für jedes Glühen gibt es ein Abkühlen. Für jede frühe Knospe – der drohende Frost. Für jedes junge Talent – eine Akademie. Es sind keine tragischen Worte, sondern eine traurige Tatsache. Die Akademie ist das sicherste Mittel, der beschriebenen Kindeskraft den Garaus zu machen. Sogar das sehr große, starke Talent wird in dieser Beziehung von der Akademie mehr oder weniger gebremst. Die schwächeren Begabungen gehen zu Hunderten zugrunde. Ein akademisch gebildeter, mittelmäßig begabter Mensch zeichnet sich dadurch aus, daß er das Praktisch-Zweckmäßige erlernt hat und daß er das Hören des inneren Klanges verloren hat. So ein Mensch liefert eine «korrekte» Zeichnung, die tot ist.

 

Wenn ein Mensch, welcher keine künstlerische Bildung erworben hat und also von den objektiven künstlerischen Kenntnissen frei ist, irgend etwas malt, so entsteht nie ein leerer Schein. Hier sehen wir ein Beispiel des Wirkens der inneren Kraft, die nur von den allgemeinen Kenntnissen des Praktisch-Zweckmäßigen beeinflußt wird.

 

Da aber die Anwendung auch dieses Allgemeinen hier nur beschränkt geschehen kann, so wird das Äußere auch hier (nur weniger als bei dem Kinde, aber doch ausgiebig) gestrichen und der innere Klang gewinnt an Kraft: es entsteht keine tote Sache, sondern eine lebende. Christus sagte: Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.

 

Der Künstler, der sein ganzes Leben in vielem dem Kinde gleicht, kann oft leichter als ein anderer zu dem inneren Klang der Dinge gelangen. Es ist in dieser Beziehung ganz besonders interessant zu sehen, wie der Komponist Arnold Schönberg die malerischen Mittel einfach und sicher anwendet. Ihn interessiert in der Regel nur dieser innere Klang. Alle Ausschmückungen und Feinschmeckereien läßt er ohne Beachtung und die «ärmste» Form wird in seinen Händen die reichste. (Siehe sein Selbstporträt.)

 

Hier liegt die Wurzel der neuen großen Realistik. Die vollkommen und ausschließlich einfach gegebene äußere Hülse des Dinges ist schon eine Absonderung des Dinges vom Praktisch-Zweckmäßigen und das Herausklingen des Inneren. Henri Rousseau, der als Vater dieser Realistik zu bezeichnen ist, hat mit einer einfachen und über- zeugenden Geste den Weg gezeigt.

 

Henri Rousseau hat den neuen Möglichkeiten der Einfachheit den Weg eröffnet. Dieser Wert seiner vielseitigen Begabung ist uns augenblicklich der wichtigste.

 

Die Gegenstände oder der Gegenstand (das heißt er und die ihn bildenden Teile) müssen in irgendeinem Zusammenhang stehen. Dieser Zusammenhang kann auffallend harmonisch sein oder auffallend disharmonisch. Es kann hier eine schematisierte Rhythmik angewendet werden, oder eine versteckte.

 

Der unaufhaltsame Drang von heute, das rein Kompositionelle zu offenbaren, die künftigen Gesetze unserer großen Epoche zu entschleiern ist die Kraft, die die Künstler auf verschiedenen Wegen zu einem Ziele zu streben zwingt.

 

Es ist natürlich, daß der Mensch sich in einem solchen Falle an das Regelmäßigste und zugleich Abstrakteste wendet. So sehen wir, daß durch verschiedene Kunstperioden das Dreieck als Konstruktionsbasis gebraucht wurde. Dieses Dreieck wurde oft als ein gleichseitiges angewendet, und so kam auch die Zahl zu ihrer Bedeutung, das heißt das ganz abstrakte Element des Dreiecks. In dem heutigen Suchen nach abstrakten Verhältnissen spielt die Zahl eine besonders große Rolle. Jede Zahlformel ist wie ein eisiger Berggipfel kühl und als höchste Regelmäßigkeit wie ein Marmorblock fest. Sie ist kalt und fest, wie jede Notwendigkeit. Das Suchen, in einer Formel das Kompositionelle auszudrücken, ist der Grund des Entstehens des sogenannten Kubismus. Diese «mathematische» Konstruktion ist eine Form, die manchmal bis zum letzten Grade der Vernichtung des materiellen Zusammenhanges der Teile des Dinges führen muß und in konsequenter Anwendung führt. (Zum Beispiel Picasso.)

 

Das letzte Ziel auch auf diesem Wege ist, ein Bild zu schaffen, das durch eigene, schematisch konstruierte Organe zum Leben gebracht wird, zum Wesen wird. Wenn diesem Wege im allgemeinen etwas vorgeworfen werden kann, so ist es nicht anders, als daß hier eine zu begrenzte Anwendung der Zahl ist. Es kann alles als eine mathematische Formel oder einfach als eine Zahl dargestellt werden. Es gibt aber verschiedene Zahlen: 1 und 0,3333 ‥‥ sind gleich berechtigte, gleich lebende innerlich klingende Wesen. Warum soll man sich mit 1 begnügen? Warum soll man 0,333 ‥‥ ausschließen? Damit verbunden stellt sich die Frage: warum soll man durch ausschließliche Anwendung von Dreiecken und ähnlichen geometrischen Formen und Körpern den künstlerischen Ausdruck schmälern? Es soll aber wiederholt werden, daß die kompositionellen Bestrebungen der «Kubisten» in einem direkten Zusammenhang stehen zu der Notwendigkeit, rein malerische Wesen zu schaffen, die einerseits im Gegenständlichen und durch das Gegenständliche reden und durch verschiedene Kombinationen mit dem mehr oder weniger klingenden Gegenstand andererseits schließlich zur reinen Abstraktion übergehen. Zwischen der rein abstrakten und der rein realen Komposition liegen die Kombinationsmöglichkeiten der abstrakten und realen Elemente in einem Bilde. Diese Kombinationsmöglichkeiten sind groß und mannigfaltig. In allen Fällen kann das Leben des Werkes stark pulsieren und sich also zur Formfrage frei verhalten.

 

Die Kombinationen des Abstrakten mit dem Gegenständlichen, die Wahl zwischen den unendlichen abstrakten Formen oder im gegenständlichen Material, das heißt die Wahl der einzelnen Mittel auf beiden Gebieten, ist und bleibt dem inneren Wunsch des Künstlers überlassen. Die heute verpönte oder verachtete Form, die scheinbar ganz abseits vom großen Strom liegt, wartet nur auf ihren Meister. Diese Form ist nicht tot, sie ist bloß in eine Art Lethargie versunken. Wenn der Inhalt, der Geist, welcher sich nur durch diese scheintote Form offenbaren kann, reif wird, wenn die Stunde seiner Materialisation geschlagen hat, so tritt er in diese Form und wird durch sie sprechen.

 

Und speziell der Laie sollte nicht mit der Frage an das Werk gehen: «was hat der Künstler nicht gemacht?» oder anders gesagt: «wo erlaubt sich der Künstler, meine Wünsche zu vernachlässigen?», sondern sollte sich fragen: «was hat der Künstler gemacht?» oder: «welchen seinen inneren Wunsch hat hier der Künstler zum Ausdruck gebracht?». Ich glaube auch, daß die Zeit noch kommen wird, wo auch die Kritik ihre Aufgabe nicht im Suchen des Negativen, Fehlerhaften, sondern im Suchen und Vermitteln des Positiven, Richtigen finden wird. Eine der «wichtigen» Sorgen der heutigen Kritik der abstrakten Kunst gegenüber ist die Sorge, wie soll man denn in dieser Kunst das Falsche vom Richtigen unterscheiden, das heißt größtenteils, wie soll man hier das Negative entdecken? Das Ver- halten beim Kunstwerk gegenüber sollte ein anderes sein, als das Verhalten zu einem Pferd, welches man kaufen will: bei dem Pferd deckt eine wichtige negative Eigenschaft alle die positiven und macht es wertlos; beim Werk ist das Verhältnis umgekehrt: eine wichtige positive Eigenschaft deckt alle die negativen und macht es wertvoll.

 

Wenn dieser einfache Gedanke einmal berücksichtigt wird, so werden von selbst die prinzipiell-absoluten Formfragen fallen, die Formfrage wird ihren relativen Wert erhalten, und unter anderem wird endlich dem Künstler selbst die Wahl der Form überlassen, welche ihm und in diesem Werk notwendig ist.

 

Später kann der Leser mit dem Künstler zu objektiven Betrachtungen, zur wissenschaftlichen Analyse übergehen. Hier findet er dann, daß sämtliche möglichen Beispiele einem inneren Rufe gehorchen – Komposition, daß sie alle auf einer inneren Basis stehen – Konstruktion. Der innere Inhalt des Werkes kann entweder einem oder dem anderen von zwei Vorgängen gehören, die heute (ob nur heute? oder heute nur besonders sichtbar?) alle Nebenbewegungen in sich auflösen. Diese zwei Vorgänge sind:

 

1. Das Zersetzen des seelenlos-materiellen Lebens des 19. Jahrhunderts, das heißt das Fallen der für einzig feste gehaltenen Stützen des Materiellen, das Zerfallen und Sichauflösen der einzelnen Teile.

2. Das Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts, welches wir miterleben und welches sich schon jetzt in starken, ausdrucksvollen und bestimmten Formen manifestiert und verkörpert.

 

Diese zwei Vorgänge sind die zwei Seiten der «heutigen Bewegung». Die schon erzielten Erscheinungen zu qualifizieren oder auch nur das Endziel dieser Bewegung festzustellen, wäre eine Anmaßung, die durch verlorene Freiheit sofort grausam bestraft würde.

 

Wie schon oft gesagt, nicht zur Beschränkung sollen wir streben, sondern zur Befreiung. Nichts soll man verwerfen ohne angestrengte Versuche, Lebendes zu entdecken.

 

Es ist besser, den Tod für das Leben zu halten, als das Leben für den Tod. Wenn auch nur ein einziges Mal. Und nur auf einer freigewordenen Stelle kann wieder etwas wachsen. Der Freie sucht sich durch alles zu bereichern und von jedem Wesen das Leben auf sich wirken zu lassen – wenn es auch nur ein abgebranntes Zündholz ist.

 

Nur durch Freiheit kann das Kommende empfangen werden.

 

Und man bleibt nicht abseits stehen, wie der dürre Baum, unter dem Christus das schon bereitliegende Schwert sah.