14 Dürer

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14. Dürer

In Süddeutschland blieb Nürnberg der Mittelpunkt des Schaffens, und wie vor hundert Jahren Wackenroder und Tieck werden auch wir noch seltsam ergriffen, wenn wir die alte Pegnitzstadt betreten. Die alten Kirchen, die holperigen Gassen, die ernsten Patrizierhäuser bevölkern sich noch immer in der Phantasie mit malerischen Gestalten in Barett und Schaube aus jener großen Zeit, da Nürnberg »die lebendig wimmelnde Schule der vaterländischen Kunst war«, da ein »überfließender Kunstgeist« in seinen Mauern waltete, da Meister Hans Sachs und Adam Kraft und Peter Vischer und Albrecht Dürer und Willibald Pirkheimer lebten.

Freilich liegt in dieser Begeisterung noch jetzt viel Romantik. Wie kleinlich und spießbürgerlich erscheint Deutschland gegenüber dem großen Schwung, der durch die Republiken Italiens ging. Maximilian, der letzte Ritter, giebt wohl allerhand Aufträge, aber bei der Finanzklemme, die bei ihm chronisch war, kann er die Künstler nicht zahlen. Der Kardinal Albrecht von Mainz denkt im Stil der italienischen Mäcene, aber die Wirren der Reformation hindern ihn in seinen Plänen. Und was die Fugger, die Imhoff, die Holzschuher entstehen lassen, wie gering und ärmlich erscheint es, wenn man an die Medici, die Tornabuoni und Pazzi denkt. Die deutsche Kunst wäre nach wie vor zünftiges Handwerk geblieben, hätte sich begnügen müssen, durch Altarbilder Religionsunterricht zu erteilen, wenn nicht die Künstler selbst nach Mitteln gesucht hätten, sich auf den Fittigen des Genius über Zeit und Welt zu erheben.

Dürer namentlich hat das, was er wurde, nicht seinem Vaterlande, nur sich selbst zu danken. Nur in den Werken, die keine Aufträge waren, ist er frei und groß. Nicht in seinen Bildern, sondern in seinen Holzschnitten und Kupferstichen, in denen er als Dichter außerhalb des Publikums steht, liegt seine eigentliche Klassicität. Indem er den specifischen Wert der Griffelkunst erkannte, sie technisch fähig machte, vom ganzen Reich der Phantastik Besitz zu nehmen, löste er dem Zeitalter, löste er sich selbst die Zunge. Hier ist er »inwendig voller Figur«, hier enthüllt er den »versammelten heimlichen Schatz seines Herzens«. Was Cornelius und Ludwig Richter, was Schwind und Boecklin in unseren Tagen schufen – die Keime zu allem liegen in den Werken Dürers, des tiefsinnigsten und gewaltigsten Malerpoeten, den die Geschichte der Kunst verzeichnet.

Schon daß er seine Laufbahn mit der Apokalypse begann, mit dem Aufgreifen wirr phantastischer, künstlerisch kaum zu gestaltender Ideen, ist bezeichnend für die Richtung seines Geistes. Das Widernatürlichste schließt sich unter seinen Händen zu organischen Gebilden zusammen. Wie ein unheimlicher Traum, wie eine gespenstische Farce zieht die gnostische Vision am Blick vorüber. Und noch während er an der Apokalypse arbeitet, gewinnt das Marienleben in seinem Geist Gestalt. Der dämonische Künstler der Offenbarungswelt verwandelt sich in einen kindlich feinfühligen, gemütvollen Märchendichter, der in freundlichen Idyllen, zusammengewebt aus deutschem Landleben, deutschen Häusern und deutschem Hausrat, das Leben der Gottesmutter schlicht wie ein Frauenleben aus dem alten Nürnberg erzählt. Als Dichter der Messiade ist er besonders berühmt. Noch bevor Luther an die Bibelübersetzung dachte, verdeutschte Dürer seinem Volke das Evangelium, machte die romanisch-asiatische Gestaltenwelt des Christentums den Deutschen heimisch und vertraut.

Und während er in der volkstümlichen Technik des Holzschnittes schlichte, dem Volke naheliegende biblische Themen behandelt, ist er in den Kupferstichen Aristokrat und Humanist. Man denkt an Schwind, wenn er von der heiligen Genovefa, dem heiligen Hubertus und all jenen verwitterten Einsiedlern erzählt, die inmitten der deutschen Waldnatur neben Rehen und Eichhörnchen dahinleben. Man denkt an Boecklin, wenn er den Raub der Amymone oder die Entführung auf dem Einhorn zeichnet, jene antiken, vom Zauberhauch des Märchens umwitterten Blätter, in denen der klare Geist des Hellenentums sich so seltsam mit nordischer Hamletstimmung eint. Die Nemesis, der Ritter mit dem Tod und Teufel, der Hieronymus und die Melancholie sind die weltbekannten Beispiele für Dürers tiefsinnige, faustisch ringende Kunst. Wie tiefe Falten das Antlitz dieses brütenden Weibes durchfurchen, ist Dürers Kunst eine tiefernste, führt ein in das Ringen eines mächtigen Geistes, in eine rätselvoll unergründliche Welt, in der die hämmernden Gedanken eines Genius arbeiten.

Man meint, er sei nur Grübler, eine verschlossene, unnahbare Faustnatur gewesen. Da liest man seine Briefe, die derselbe derbe hanebügene Humor wie Luthers Tischreden durchweht. Man sieht die Randzeichnungen, mit denen er das Gebetbuch Maximilians zierte, und bemerkt, daß dieser ernste Mann auch schalkhaft lachen konnte, daß dieser Philosoph ein feuchtfröhlicher sinnlicher Mensch war. Das ist das Merkwürdige an Dürers Natur. Man ist gewohnt, ihn als Dichter zu feiern. Doch dieser Poet, der scheinbar ganz in seiner Ideenwelt aufging, war zugleich ein Beobachter, dessen Auge weit der Welt sich öffnete. Nur das Münchner Selbstporträt zeigt den Denker, den Visionär und Grübler, der mit seiner Kunst vier Jahrhunderten tiefsinnige Rätsel aufgab. In den anderen, die er vorher malte, ist er der kecke sinnenfreudige Mensch, der, wie Rembrandt, an einem hübschen Wamms, einem koketten Barett, einer vornehmen Schaube seine kindliche Freude hat. Und dieses mixtum compositum der verschiedensten Eigenschaften ist er als Künstler. Derselbe Mann, der so grüblerisch und abstrakt sein konnte, hat auch für alles, was die Welt angeht, Sinn, lebt nicht nur im au-dèla, sondern schafft auch Werke, durch die er der Vorläufer der intimen Kunst des nächsten Jahrhunderts wird. Seine schlichten Zeichnungen aus dem Volksleben sichern ihm neben Quentin Massys die erste Stelle unter den Bahnbrechern des Sittenbildes. Seine Tierstudien fanden erst 120 Jahre später in Rembrandts »geschlachtetem Ochsen« auf dem Gebiete der Malerei ihr Gegenstück. Seine Pflanzen- und Blumenstudien sind Blätter von jenem unbefangenen Realismus, der alle zeitlichen Grenzen überspringt. Stiefmütterchen und Akelei, Rispengras und Ackerwinde, Wegerich, Märzveilchen und Löwenzahn zeichnet er mit so verblüffender Grazie, daß diese Aquarelle wie dem 16. Jahrhundert auch der Gegenwart, so gut wie Dürer auch einem Japaner gehören könnten. Ebenso schweigt bei seinen landschaftlichen Zeichnungen jede chronologische Schätzung. Sie könnten dem Kreise der Modernsten, dem Kreise der Impressionisten entstammen. Wenn in irgend etwas, ist er als Landschafter seiner Zeit vorausgeeilt, das abschließend, was der Meister des Amsterdamer Kabinetts erstrebte, und das vorbereitend, was Elsheimer, was erst die Gegenwart wieder erreichte.

Doch Dürer beschränkte sich nicht darauf, die Natur mit offenem Auge zu betrachten. Er wollte auch das Gesetzmäßige ihres Wesens ergründen. Neben dem Dichter steht nicht nur der Realist, neben dem Realisten steht weiter der Forscher, der Mann der Gelehrsamkeit und der Theoreme. Bisher waren die Künstler des Nordens rein empirisch vorgegangen. Sie überließen sich ihrem Auge und waren korrekt, wenn ihr Auge richtig sah; fehlerhaft, wenn ihr Auge sie täuschte. Dürer als erster – im Sinne der Italiener – schritt von der Empirie zur Erkenntnis fort. Durch die gelehrten Werke, die er am Abend seines Lebens verfaßte, schuf er der deutschen Kunst die wissenschaftliche Basis, die der italienischen Alberti und Leonardo gegeben hatten.

Wie für Leonardo war also für Dürer die Malerei nur eine Ausdrucksform, deren er sich zeitweilig bediente, wenn gerade keine anderen Gedanken seinen Geist erfüllten. Und auch, die Palette in der Hand, bleibt er Grübler. Läßt man als Maler nur diejenigen gelten, die aus dem Zusammenklang farbiger Massen die Anregung für koloristische Accorde schöpfen, so dürfte Dürer kaum als Maler gerechnet werden. Die Freude an der Sinnlichkeit der Farbe fehlt ihm gänzlich. Bunt und hart, mehr geschrieben als gemalt, haben seine Bilder koloristisch dem Auge wenig zu sagen. Wie ihm als Graphiker die Kunst nur eine Sprachform bedeutet, in der er seine Gedanken niederlegt, so beschäftigen ihn, auch wenn er mit dem Pinsel arbeitet, weit mehr geistige oder formale, als specifisch malerische Probleme.

Das psychologische Problem reizte ihn bei den vielen Bildnissen, die sich von seiner Gesellenzeit bis in seine letzten Lebensjahre hinziehen. Sieht man von den Fürstenporträts, dem Friedrichs des Weisen und des Kaisers Maximilian, von den Bildnissen einiger Nürnberger Ratsherren und Augsburger Kaufleute ab, so handelt es sich selten um Aufträge. Er malt nur Menschen, die seinem Geist oder seinem Herzen nahestehen, die psychologisch ihm ein Studienobjekt zu sein scheinen. Wie Rembrandt übt er sich an seinem eigenen Kopf, malt seinen Vater, den alten biederen Goldschmied, und das mager-hohläugige Gesicht seines Bruders, des Schneiders Hans, malt Michel Wohlgemuth, seinen alten Lehrer, und schafft im Holzschuher den Typus einer ganzen Generation: den Typus jenes knorrigen, kampflustigen Geschlechtes, dessen König Luther war und das die Reformation gemacht hat. Rein malerisch betrachtet, sind seine Bildnisse Erzeugnisse derselben Kleinmalerei, die in den Niederlanden zu Jan van Eycks Tagen herrschte. Jede Runzel und jedes Härchen, jedes Fältchen und jede Ader wird mit urkundenmäßiger Treue fixiert. Während in Holbeins Zeichnungen die leichten Federstriche wie Pinselzüge hingesetzt sind, malt Dürer, als mache er Federzüge mit dem Pinsel. Während Holbein in großen, sicheren Zügen das Lebensvolle der Erscheinung packt, kommt Dürer nicht über mühsames Kläubeln hinaus, sucht durch Addieren kleiner Einzelziffern die Summe von Charakter festzustellen, die in einem Kopfe liegt. Aber was ihm an Leichtigkeit der Mache fehlt, ersetzt er durch psychische Größe. In seinem eigenen Kopf war mehr als in dem des forschen, brutalen Holbein enthalten. Darum Wirten Holbeins Bildnisse bei aller Geschicklichkeit der Mache doch wie Photographien neben den geistglühenden Charakterköpfen Dürers. Dort der kalte Analytiker, der das Aeußere des Menschen mit der unfehlbaren Sicherheit der Camera obscura spiegelt. Hier der Grübler und Denker, der denen, die ihm zu Bildnissen sitzen, etwas von seiner eigenen Faustnatur leiht.

Teils psychologische, teils formale Probleme haben ihn bei seinen religiösen Bildern beherrscht, und daß er überhaupt von solchen Problemen ausging, hebt ihn schon aus seiner Umgebung heraus. Alle, die vor ihm in Deutschland thätig waren, fühlten sich als Handwerker, erledigten Bestellungen so gut es ging, schlecht und recht, ohne höheren Ehrgeiz. Dürer als erster hebt die Kunst über den Handwerksbetrieb empor und fühlt sich als Künstler, schafft nicht, weil man ihm Aufträge giebt, sondern weil eine Kraft in ihm nach Ausdruck drängt, steckt mit ganzer Seele in seinen Werken, hat das Gefühl für die Ewigkeit zu arbeiten. Italien hatte ihm gezeigt, daß doch ein Unterschied zwischen Handwerk und Kunst bestehe.

Als er seine Thätigkeit begann, beherrschte der steifleinene Michel Wohlgemuth das Nürnberger Kunstleben. Dürer weilt in Wohlgemuths Werkstatt, doch nur wie der Königssohn des Märchens, der sich in die Köhlerhütte verirrte. Sobald er die Lehrzeit hinter sich hat, löst er die Bande, die ihn mit der Wohlgemuthschule verknüpfen, wählt sich Meister, die geistig ihm näher stehen. Schongauer war, wie die kleine Madonna des Kölner Museums zeigt, sein erster Mentor. Dann entschwindet er eine Zeitlang unseren Blicken. Denn das Meißener Altarwerk und die Flora des Städelschen Museums ihm zuweisen, hieße doch behaupten, daß er in seiner Jugend sowohl das Gewand Jan Scorels wie das des Bartolommeo da Venezia mit ganz verblüffender Sicherheit getragen. Auf festem Boden steht man erst bei den nächsten durch Mantegna angeregten Werken.

Als er 1494 nach Venedig gekommen war, hatten ihm Mantegnas Stiche, deren er zwei kopiert hat, den Blick in eine neue Welt eröffnet. Diesem großen Meister hat er in seinen ersten Altarwerken gehuldigt. Fast als Imitator in dem kleinen Dresdener Altar, selbständiger in den Darstellungen der Beweinung Christi, die schon stofflich mit dem Ideenkreis der Paduaner zusammenhängen. Sowohl in dem Nürnberger wie in dem Münchener Werk herrscht kein loses Nebeneinander wie in Wohlgemuths Bildern, sondern straffer Aufbau. Auch der zähe, metallische Ton, das schmerzerstarrte Wesen Marias und das Pathos der alten zahnlückigen Frau, die mit wildem Jammerschrei die Arme erhebt, zeigen in dem Münchener Werte deutlich, wie sehr Mantegnas Stil und Gestaltenwelt Dürers Gedanken beherrschten.

Als er aus dem Schöpfer der Apokalypse der Sänger des Marienlebens ward, traten diese Paduaner Elemente zurück. Auf den Pathetiker folgt der Idylliker. In eine winkelreiche Ruine mit allerlei lauschigen Ein- und Ausblicken ist sowohl in der Münchener Geburt des Christkindes wie in der Florentiner Anbetung der Könige die heilige Familie gesetzt. Maria mit ihrem hellblonden unter weißem Kopftuch hervorquellenden Haar ist die jugendliche hübsche Nürnbergerin des Marienlebens. Statt pathetisch und herb ist er still und mild: der Uebergang von Mantegna zu Bellini.

Seine Entwicklung ist die gleiche, die Venedigs Kunst um die Wende des 16. Jahrhunderts durchmachte. Als Dürer 1494 in Venedig weilte, waren die hauptsächlichsten Bilder, die er in den Kirchen sah, Erzeugnisse der von Mantegna befruchteten Schule von Murano, auch Giovanni Bellini bewegte sich noch in den Bahnen seines Schwagers. Als er 1506 nach Venedig zurückkam, hatte Bellini seinen weichen, harmonisch schwungvollen Stil gefunden. Vor seinen Altarwerken strömte die Menge zusammen. Dieser Geschmackswandlung folgte auch Dürer. »Das Ding, das mir vor elf Jahren so wohl hat gefallen, gefällt mir jetzt gar nicht mehr.« Damit bekundete er, daß auch für ihn die Muranesen ein überwundener Standpunkt waren, daß nicht mehr Alwise Vivarini, sondern Bellini ihm als größter Künstler Venedigs galt.

Das Rosenkranzfest ist das hauptsächlichste Zeugnis seiner Bewunderung für Bellini. Wie er selbst unter dem venetianischen Himmel auftaute, hat seine Kunst das Steife, Gebundene verloren. Ein weicher lyrischer Ton, eine melodische Rhythmik der Linien, selbst in der Farbe etwas Liebliches, Mildes verrät, daß er, während er am Bilde malte, nicht auf die krausen Spitzgiebel nordischer Häuser, sondern auf den ruhigen Wasserspiegel der Lagunen blickte. Auch die Madonna mit dem Zeisig, ganz deutsch und dürerisch, wäre kein fremder Klang inmitten der vollen runden Töne, die Bellini und Cima erklingen ließen. Selbst das Nackte tritt in seinen Studienkreis ein. Der miniaturhaft seine Dresdener Crucifixus zeigt, daß die Art Antonellos ihn sympathisch berührte.

Sonst machte Verrocchio auf ihn Eindruck. Denn manche Kupferstiche, wie der Ritter mit dem Tod und Teufel, das kleine Pferd und der Georg, sind offenbar unter dem Eindruck des Colleonidenkmals konzipiert, das seit kurzem die Lagunenstadt schmückte. Nach einer anderen Seite anregend wirkte Leonardo, mit dem er in Bologna zusammentraf. Dürers Christus unter den Schriftgelehrten geht inhaltlich auf das Bild zurück, das unter Leonardos Namen in der Londoner Nationalgalerie hängt, gehört mit Tizians Zinsgroschen in die Reihe jener Werke, die im Anschluß an Leonardo das Problem des Charakterkopfes behandeln und die Hände als psychologischen Kommentar heranziehen. Wie das Porträt einer jungen Frau im Berliner Museum und ein in Kohle gezeichneter Frauenkopf des Louvre von Leonardos zartem Lächeln umspielt sind, ist aus den »verruckten Angesichten«, die er gerne zeichnete, ersichtlich, daß auch die Karikaturen Leonardos seinem grüblerischen Sinn gefielen.

Dürers Weiterentwicklung nach seiner Heimkehr 1507 ist schwankend. Zuweilen tritt wieder der eckige spätgotische Geschmack hervor. Doch wo das Thema es erlaubt, strebt er nach Schwung der Bewegung, nach Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Bildwirkung, denkt nicht daran, zu Gunsten fremden Empfindens das eigene zu verleugnen, aber ist sich doch bewußt, daß Realismus nicht Ungeheuerlichkeit und abnorme Häßlichkeit zu sein brauche.

Daß er unmittelbar nach seiner Rückkehr die beiden lebensgroßen Akte von Adam und Eva malte, ist überaus bezeichnend. Beide sind urdeutsch, doch hätte er sie nicht gemalt, wäre nicht der Aufenthalt in Italien vorausgegangen. Italienisch ist die Freude am Nackten, italienisch die Rhythmik, die er in beiden Gestalten erstrebt. Steif und eckig stehen auf dem Genter Altarwerk die Figuren da. Man fühlt, daß Jan van Eyck nie andere als nordische Menschen, Menschen ohne gymnastische Anmut sah. Im Gegensatz zu dieser vierschrötigen Plumpheit herrscht bei Dürer Freiheit und Schwung der Linien. Wie er anstrebt, im Sinne Verrocchios den Figuren körperliche Rundung zu geben, nachdem bisher die deutsche Kunst rein planimetrisch Konturen gezeichnet und mit Farbe ausgefüllt, sucht er in der Bewegung wirksame Kontraste zu schaffen. Nicht weniger beschäftigt ihn als Schüler Leonardos die psychologische Analyse. Adam öffnet begehrlich sehnsüchtig die Lippen, ein leises Lächeln – Flauberts »Oh si tu voulais!« – umspielt Evas Mund.

Im nächsten Werk, der für Friedrich den Weisen gemalten »Marter der Zehntausend«, fällt er in den Realismus zurück, der vor ihm die deutsche Kunst beherrschte, nähert sich dagegen in dem Hellerschen Altar wieder um ein Stück dem Ziel, das seit seiner italienischen Reise ihm vorschwebte. Einfach und fein berechnet bauen die Gruppen der Apostel sich auf. An die Stelle des Zeitkostüms ist eine einfache, ideale Gewandung getreten, und die Draperiestudien, die er dazu machte, könnten mit ähnlichen Leonardos verwechselt werden. Freilich teilt er mit Leonardo auch die Eigenschaft, daß das formale Element noch nicht einseitig hervortritt. Wie er die Fußsohlen und Hände der Figuren mit der hingebenden Genauigkeit der Primitiven zeichnet, bleibt er Psycholog in der Art, wie er die Bildnisköpfe zu Charaktertypen zuspitzt.

In dem Wiener Dreifaltigkeitsbild von 1511 ist der volle Gegensatz zum Wohlgemuthstil erreicht. Wo man bei Wohlgemuth die knittrigen Falten der Holzplastik sieht, giebt Dürer einfach große, schwungvoll geordnete Gewandung. Er selbst sogar trägt auf dem Bildnis, das er im Hintergrund anbringt, nicht mehr das Zeitkostüm, sondern einen langen, einfachen Mantel. Wo bei Wohlgemuth ein wirres Sammelsurium ist, herrscht bei Dürer feierliche Eurhythmie der Linien. Während die älteren Deutschen solchen Bildern die Form des Flügelaltars gaben, hat Dürer im Sinne der Quattrocentisten das ganze in einem einzigen oben rund zulaufenden Rahmen vereinigt.

Mehrere andere Werke, die in den nächsten Jahren entstanden – Madonnen oder Akte wie die Münchener Lucrezia – enthalten nichts Neues. Interessant ist nur, wie noch jetzt die Erinnerung an die Mosaiken der Markuskirche in ihm fortlebt. Nicht nur in dem Münchener Selbstbildnis, in dem Karls des Großen und dem wuchtigen Holzschnitt mit dem Dulderhaupt Jesu, auch in mehreren Madonnen hat er auf das byzantinische Herkommen der Frontalstellung zurückgegriffen, um eine feierlich monumentale Wirkung zu erzielen.

Am Schlusse seines Lebens erst konnte er in einem großen Werk das Resultat all seiner Bestrebungen zusammenfassen. Die niederländische Reise 1520/21 gab ihm eine neue Anregung zu großartiger Vereinfachung seiner Kunst. Er sah die Bilder des Quentin Massys mit ihren wuchtigen lebensgroßen Gestalten, sah das Genter Altarwerk. »Das ist eine überköstliche verständige Malerei, und insbesondere Maria und Gottvater sind sehr gut.« Diese Stelle seines Tagebuches deutet an, welchen Weg er seitdem verfolgte. Wie zur gleichen Zeit die jungen Künstler Italiens nicht mehr Gozzoli und Pisanello studierten, sondern in der Brancaccikapelle vor den Werken Masaccios zusammenströmten, bewundert Dürer nicht mehr die Kleinmalerei Jans, sondern die mächtigen Gestalten Huberts van Eyck mit den feierlichen, groß drapierten Gewändern, und nähert sich so – da Hubert van Eyck als Ausläufer mittelalterlichen Monumentalstils parallel mit Masaccio geht – ganz dem nämlichen Ziel, das die Cinquecentisten Italiens an der Hand Masaccios erreichten. Mehrere Holzschnitte lassen verfolgen, wie das Problem in seinem Geiste reift. Einfache, einsame Gestalten, kolossal gedacht und hingestellt, treten an die Stelle der traulichen Wesen, die vordem in gemütlichen Landschaften so schlicht bescheiden dahinlebten. Die gewaltigste Offenbarung ist das große Evangelistengemälde von 1526.

Die »Vier Temperamente«, heißt es in einer alten Ueberlieferung, wären in dem Bilde dargestellt. Und daß es so gedeutet wurde, zeigt, wie viel wirklich Temperament und Charakter in jedem einzelnen dieser Hünen steckt. Dürer verfolgt wie Leonardo ein doppeltes Ziel. Teils reizt ihn das Problem des Charakterkopfes. Die Heiligen, früher fromm und beschaulich, werden reflektierende, von Gedanken durchwühlte Menschen. Andererseits geht mit dem Psychologischen wie bei Leonardo das Formale Hand in Hand. Der ehernen Charakteristik der Köpfe entspricht der Lapidarstil der Körper. In dieser Verbindung von psychischer Wucht mit monumentaler Größe sind die Vier Apostel etwas Einziges in der Kunstgeschichte. Aehnliche Gestalten, wie sie in den Altarwerken Giovanni Bellinis, Cimas und Mantegnas vorkommen, haben noch nicht diese formale Einfachheit, diese majestätische statuarische Ruhe. Andere, wie sie später Fra Bartolommeo brachte, haben nicht mehr diese geistige Großheit. Der Mantel umschließt keine Denker mehr, sondern ist nach akademischem Rezept über hohle Gliederpuppen gehängt. Dürer allein wie Leonardo löste das Problem, tiefsten Gedankengehalt mit formaler Schönheit, mit der schönen Form die große Seele zu einen.