04 Kapitel 3

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04 Kapitel 3

Peter

Donnerstag, 24. Mrz 2011 07:57:04

Kapitel III.

Wenn irgend etwas die Gesetzmäßigkeit in dem Wandel künstlerischer Formen erweist, so ist es die Spontaneität, mit der das Neue gleichzeitig hier und dort auftritt. Der Versuch, diese Erscheinung durch die in unserer Zeit besonders rasche Ausbreitung der anregenden Vorbilder wegzudisputieren, befriedigt nicht, da er es unerklärt läßt, weshalb denn diese Vorbilder auf einmal überall mit der gleichen Bereitwilligkeit aufgenommen werden. Es wird auf diese Weise das Phänomen nur in die Gleichzeitigkeit der empfänglichen Disposition zurückverlegt. Somit haben wir uns mit der Tatsache zu begnügen, daß innerhalb einer gleichgestimmten Kulturwelt der Wandel der Kunstformen, der nichts anderes ist als der sichtbare Wandel der Weltanschauung, sich nach millionenfacher Vorbereitung wie ein Wetterumschlag ankündigt, sobald seine Zeit gekommen ist. Vielleicht beruht die Genialität des Einzelnen wesentlich darauf, daß er das Kommende als ein innerliches und eigenes Bedürfnis vorausfühle. Eben in der unbewußten Dumpfheit des Gefühles wurzelt seine Kraft, wie denn der Schaffende – der reine Tor – von je mit Blindheit geschlagen war gegen alles, was seitab von der Welt seines eigenen Bestrebens liegt. Ein solcher Mensch war Paula Modersohn. Und sie war ein Weib, geboren, um zu lieben und zu empfangen, um mitzufühlen und mitzuleiden; damit ist die Stärke und die Grenze ihrer Begabung angedeutet.

Der erste Eindruck ihrer Persönlichkeit, der mir von der einzigen Begegnung mit ihr deutlich zurückgeblieben ist, war eine Mischung von Lebhaftigkeit und Einfachheit. Man konnte sich dieses junge Mädchen sehr wohl unter schlichten Menschen irgendwo in ländlicher Abgeschiedenheit denken, doch schwer im Getriebe der Gesellschaft. Man konnte es sich auch vorstellen, was ihre Aufzeichnungen, ihre Bilder und die Schilderungen ihrer Freunde erkennen lassen, daß sie ihre lachende Heiterkeit wie einen Mantel trug, unter dem sie einen tiefen Ernst verbarg. Einmal sagt sie es als junges Mädchen von sich und zeichnet es auf wie etwas ihr selber Merkwürdiges, daß ihre Gemütsanlage »mehr melancholisch als lustig« sei. Auf alle Fälle war sie ganz und gar nicht sentimental. Nun ist wohl gerade diese Verbindung von einem verhüllten, an Schwermut grenzenden Ernst mit Lebhaftigkeit des Empfindens die rechte Gemütsart für ein inniges Verhältnis zu Natur und Kunst. Es ist das Temperament der Schaffenden höherer Ordnung. De Coster sagt einmal in einem Briefe an Elisa: »Hast Du in den schönen Büchern jene feine Schwermut, jene sublime Traurigkeit wahrgenommen, die die geheimsten Fibern des Herzens ergreift? – Nun, in mir ist das Ideal dieser Schwermut, ich bin oft in diesem Zustande, und was immer dieses Hauches entbehrt, sei es in der Musik oder in der Literatur oder in der Malerei, achte ich für unwürdig, geschätzt, gelesen oder betrachtet zu werden.« –

Der Natur stand Paula Modersohn ganz anders gegenüber als ihre Worpsweder Freunde. D. h. jene standen ihr »gegenüber« – sie war eins mit ihr. Für ihren Meister Mackensen war das Naturobjekt etwas von außen Betrachtetes, ein Ding, das man anschaut, mit einem gefühlvollen Vorsatz zurechtrückt und abmalt. Sei es, daß er die Predigt im Freien oder die Mutter mit dem Säugling oder die trauernde Familie am Sarge des Kindes malte, immer wurde etwas wie ein Bühnenbild daraus, besseres Theater als in den faden Lustspielen eines Knaus, aber immer noch Theater, etwas, das mit Requisiten und Kostümen mund Komödianten gemacht wird. In Paula Modersohns Verhältnis zu ihren Stoffen war mehr Einfalt, aber auch mehr Ehrfurcht und Glaube. Wie sie den Wechsel der Jahreszeiten da draußen erlebte, wie der Rausch der im Frühling treibenden und blühenden Natur in sie einging, so lebte sie auch mit den Menschen.

Wenn unsere Künstler der jüngsten Vergangenheit gern den Bauern gemalt haben, so leitete sie nicht so sehr die Sentimentalität eines neuen sozialen Empfindens als vielmehr das Bewußtsein, hier noch am ehesten die Züge uralter menschlicher Einfalt und Größe zu finden. Die Glieder unserer Bauern bewegen sich in der Bestellung des Ackers, in der Ernte, in der Sorge um das Vieh, um Haus und Hof seit vielen Jahrhunderten im gleichen Rhythmus; vom Ahnen auf den Enkel vererben sich die gleichen Gedanken und Sorgen und bilden diese Mienen, an deren unbewegtem Ausdruck die flüchtigen Erregungen des Augenblicks minder teilhaben als an dem »Mienenspiel« der Zivilisierten. So war es gegeben, daß ein naturalistisch geschultes Künstlergeschlecht, das für jederlei Aufgabe zuerst einmal nach Modellen fragte, sich dem Bauern zuwandte, wenn es galt, dem Gefühl für Menschenwürde Ausdruck zu geben. Unter Tausenden hat kaum einer den Bauern gemalt wie Paula Modersohn. Es scheint in ihrer Darstellung ihr eigenes Wesen ausgelöscht und völlig eingegangen zu sein in die Seelen dieser Kinder, dieser derben Menschen und Greise. Aus solcher mystischen Verschmelzung zweier Seelen – der schaffenden und der angeschauten – sind diese Bilder entstanden, die einem ganzen Volksstamme ein Denkmal setzen, denn ein jedes von ihnen zeigt uns einen Typus und steht für viele.

Es ist etwas Stillebenhaftes in diesen wie in allen ihren Bildern; auch ist es bezeichnend, daß sie zwischen anderen Aufgaben mit Vorliebe immer wieder zum Stilleben zurückgekehrt ist, einem Stoffgebiet, dem fast die Hälfte ihrer besten und reifsten Arbeiten angehört. Wenn aber demgegenüber einmal ein Künstler geringschätzig bemerkte, ihre Kunst sei allzusehr auf das Stilleben eingestellt, so beruht ein solches Urteil doch auf Mißverstehen.

Das Stilleben, wie es für gewöhnlich vorkommt, ist ein beliebtes Exerzitium für Künstler gelassenen Temperamentes, deren Geschmack und malerische Kultur nicht durch Phantasie beflügelt – und bedroht wird. Ihnen gewährt die Anordnung und Darstellung beliebiger Gegenstände in schönen Gruppen von Farben und Formen ein schwelgerisches Vergnügen, ähnlich dem Behagen, mit dem eine schöne Frau ihren Putz oder die Einrichtung ihrer Wohnung zusammenstellt. So verstanden ist die Malerei der »nature morte«, wie die Franzosen bezeichnenderweise sagen, allerdings eine der feinsten, aber doch nicht der höchsten Aufgaben, Nun gibt es aber noch eine andere Art von Stilleben, mit der uns erst das neunzehnte Jahrhundert vertraut gemacht hat. In früheren Zeiten wurde es dergestalt selten und nur nebenbei wohl einmal von einem der ganz Großen aufgegriffen. Dies Stilleben ist die Erholung des schöpferisch begabten Genies, das es müde ist, immer neue Gestalten seiner Einbildungskraft zu beschwören. Hier verweilt solch ein Meister einmal bei den nächsten Dingen seiner Umgebung, unterhält sich mit ihnen und läßt die Schönheit ihrer Materie zu sich sprechen. Aber während er sich so mit ihnen beschäftigt, um sie auf seine Leinwand zu bannen, schleicht sich unvermerkt doch alles, was sein Gemüt bewegt, in die unlebendigen Dinge hinein; sie beseelen sich und werden zu Trägern seiner Phantasie und seiner Leidenschaft. So sind die Stilleben, die Rembrandt gemalt hat, oder in neuerer Zeit Menzel, Courbet, Liebermann, Corinth und Nolde. – Die deutsche Sprache offenbart hierfür ein feines Gefühl, indem sie ein stilles Leben diese Dinge nennt, die für den Franzosen, auch im Bilde, nature morte bleiben. – Ähnlich ist die Bedeutung des Stillebens bei Cézanne. Äußerlich betrachtet sieht eines seiner Bilder geruhsamer aus als die eben erwähnte Art, altmeisterlicher, fast wie ein Stück eines edlen Teppichgewebes, etwas, das zwischen alter Kunst nicht auffällt. Das Stoffliche ist hier mehr angedeutet als individuell charakterisiert. Wohl lebt auch hier die Materie und erscheint als vergeistigt, aber in dem Sinne eines alles durchströmenden Fluidums. Als Sinnbilder des Stofflichen, als etwas Jenseitiges, stehen nun die farbigen Schatten alltäglicher Geräte vor uns: ein Tischtuch, Gläser und Geschirr und die Bestandteile eines einfachen Imbisses. Zugleich aber wohnt diesen Gemälden etwas eigentümlich Gefestigtes bei, als wären sie aus Farben und aus Hell und Dunkel erbaut, die vorausgenommenen Bestandteile eines künftigen architektonischen Ganzen. Von solcher Art sind auch die Stilleben der Paula Modersohn, nicht Nachahmungen, sondern die geistesverwandten Erzeugnisse einer jüngeren Kraft von anderer Rasse. Allerdings ermangeln sie der ausgeglichenen Meisterschaft des älteren Führers; sie lassen es merken, daß ihre Vorzüge allmählich errungen sind auf einem Wege, der anderswo begonnen hatte. Aber auch sie sind von ernster Größe und erfüllt von jenem geheimnisvollen Leben, das alle tote Körperlichkeit durchrieselt. Und auch sie dürfen als Bausteine eines Stiles der Zukunft gelten, in denen sich ein neuer Farbensinn und ein neues dekoratives Bestreben seine ersten Aufgaben setzt – gleichsam, um sich zu orientieren. In diesem Sinn bildet freilich das Stilleben für Paula Modersohn die Basis der weiteren malerischen Betätigung; nur wolle man darum nicht ihre Bilder mit jenen geschmackvollen Exerzitien verwechseln, welche man herkömmlicherweise als Stilleben bezeichnet.

Paula Modersohn war sich dieser Richtung ihrer Begabung wohl bewußt; ja sie ahnte sich selber schon, als sie noch unter Mackensens Leitung unsicher ihren Weg suchte. Damals schrieb sie einmal: »In mir fühle ich es wie ein leises Gewebe, ein Vibrieren, ein Flügelschlagen, ein zitterndes Ausruhen, ein Atemanhalten: Wenn ich einst malen kann, werde ich das malen.« – So spricht nicht ein Mann, der sich seines Talentes wie eines Rüstzeuges bedient, um zu kämpfen und zu erobern. So spricht ein Weib, das auf die Stimme seines Inneren lauscht, das seinen Genius in Demut erwartet, um ihm zu gehorchen.

Von einer solchen Natur könnte man sagen, daß sie ihre Werke nicht so sehr vermöge eines Entschlusses schaffe, als daß sie vielmehr sie hervorwachsen lasse wie Pflanzen aus dem gesegneten Mutterschoß der Erde. Niemals sehen wir Paula Modersohn sich voreilig bemühen um die Früchte einer künftigen Kunst. Die Irrtümer ihrer älteren Zeitgenossen, deren wir vorhin gedachten, blieben ihr erspart. Sie ging ernst ihres Weges weiter, der ein Weg der Läuterung und der Vertiefung war. Auf äußere Erfolge hatte sie verzichten gelernt, da sie beizeiten die Bitternis der Enttäuschung und des Unverstandenseins geschmeckt hatte. So arbeitete sie für sich, nur dem eigenen Gewissen und wenigen Freunden verpflichtet. Schritt für Schritt ging ihr Weg von der Aufgabe des Stillebens weiter zu höheren Problemen einer monumentalen Malerei. Was sie sich vornahm, war ihrer Kraft vollkommen angemessen; keine umfangreichen Kompositionen bewegter Gestalten, kein Ausdruck menschlicher Leidenschaften, sondern vereinzelte oder ganz wenige Figuren, die still beisammen sind, dem Zeitlichen und Zufälligen entrückt. In Paris fand sie die Stimmung und äußere Anregung zu solchen Arbeiten. Ein italienisches Weib von mächtigen Körperformen, das einen Säugling nährte, und ein halbwüchsiges südliches Mädchen sind ihre bevorzugten Modelle der letzten Jahre. Sie gaben ihr die Motive für einige, meist unvollendete Bilder, die ihr Reifstes enthalten. – Hier erscheint sie als wundersam befreit und fügt mit traumwandlerischer Sicherheit einfache Dinge – ein paar Zimmerpflanzen, die Goldfrüchte der Orangen und Zitronen, bunte Fische in einem Glase, mit der Nacktheit menschlicher Körper zusammen zu Bildern von geheimnisvoller Schönheit. In diese Bilder legte sie ihre ganze Liebe, ihre stille Kraft und ihre Sehnsucht; doch ehe sie die letzte Hand an sie legen konnte, wurde sie abberufen.