03 Kapitel 2

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03 Kapitel 2

Peter

Donnerstag, 24. Mrz 2011 07:56:36

Kapitel II.

Die populäre Meinung neigt dazu, die Größe eines Künstlers in seinem Fürsichsein zu suchen und seine Originalität als Verschiedenheit von allen anderen aufzufassen. Doch verhält es sich vielmehr so, daß die Bedeutung des Einzelnen überall nur darauf beruht, daß sich in ihm das Schicksal der Allgemeinheit verkörpert, ob er es nun als ihr Führer selber lenke oder nur in seinem eigenen Leben sinnbildlich darstelle. Seine Originalität ist dann nichts anderes als der Ausdruck der subjektiven Freiheit, mit der er bewirkt, was die Gesamtheit, der er angehört, nach Schicksals Schluß bewirken soll. Nur diese symbolische Bedeutung seines Lebens rechtfertigt das allgemeine Interesse an ihm.

Nun ist Paula Modersohns Bedeutung insofern eigentümlich, weil sie sich der Rolle, die sie spielte, kaum bewußt war. In ihrer eigenen Vorstellung eine abseits stehende Arbeiterin und Zuschauerin, demütig ihrem Genius dienend, spiegelte sie das Bestreben der deutschen Kunst an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung.

Die Lage, die sie bei ihrem Auftreten vorfand, läßt sich folgendermaßen charakterisieren. Das Jahrhundert einer individualistisch differenzierten Kunst, das seinen bezeichnenden Ausdruck in der Pflege der Staffeleimalerei gefunden hatte, ging seinem Ende entgegen. Die schöne Episode höchst kultivierter Malerei, die im Anschluß an klassische Vorbilder in München um Leibl erblüht war, gehörte der jüngsten Vergangenheit an. Als ihr letzter Vertreter war Trübner am Werke; Leibl selbst starb wenige Wochen vor dem Ende des Jahrhunderts. – Der Impressionismus, der in Liebermann einen Repräsentanten ersten Ranges gefunden hatte, beherrschte wohl noch die Situation, d. h. ihm gehörten die Sympathien der Kenner, der Sammler und der führenden Schriftsteller. Allein ihm fehlte der Nachwuchs; denn über Liebermann, Corinth und Slevogt hinaus sah man auf derselben Linie nicht die Möglichkeit eines Fortschrittes. Sie waren ein Abschluß, kein Beginn, und ihre Gefolgschaft bestand aus Nachempfindern. Auch verbreitete sich das dunkle Bewußtsein, daß diese vollendete Leichtigkeit des malerischen Ausdrucks wohl international verständlich sei und insofern Weltgeltung mit Recht beanspruchen möge, daß sie aber nicht geeignet sei, die Fülle deutschen Wesens vollgültig zu repräsentieren. Eben da, wo einzelne hervorragende Impressionisten, wie Corinth, in solcher Absicht die Grenzen ihrer Kunst zu erweitern versucht hatten, waren sie gescheitert.

Inzwischen hatte man in einer mittleren Sphäre auf anderem Wege, am Impressionismus vorbei den Eingang in das Reich der Zukunft erstrebt. Die Versuche, die hier gemeint sind, fallen in das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts und gingen vornehmlich von Landschaftern aus, die vorübergehend laute Erfolge ernteten, ohne ihrem Range nach zu den Führern zu zählen. Die schicksalhafte Notwendigkeit ihres Vorgehens ergibt sich daraus, daß sie unabhängig voneinander mit ähnlichen Mitteln die gleichen Ziele verfolgten. Da ihre Mittel unzulänglich waren, versagten sie, doch beweist dieses noch nicht einmal gegen sie, da gewisse Irrtümer unvermeidlich sind, weil sie sich aus der Entwicklung ergeben. Man kann sie nur dadurch widerlegen, daß man ihnen Gelegenheit gibt, sich tot zu laufen. Alle diese Künstler gingen vom akademischen Naturalismus aus, appellierten durch die Verherrlichung einer bestimmten Gegend an den Lokalpatriotismus eines deutschen Stammes und erstrebten die dekorative Wirkung einer stilgerechten Malerei durch ein äußerliches Zurechtrücken ihrer Darstellung, das sie Stilisieren nannten.

Als erster unter ihnen sei Leistikow genannt, weil er das Bestreben seiner Gesinnungsverwandten in doktrinärer Reinheit darstellt. In der schlicht korrekten Landschafterei eines Gude geschult, empfand er nach einiger Zeit erfolgreicher Betätigung diese Art des Ausdrucks als überlebt. Die Zeichen der Zeit deuteten auf das Kommen eines neuen Stils, der wie jeder Stil von einem neuen Geist der Gemeinschaft getragen sein müsse. Das Interesse an der Architektur regte sich; dem gänzlich entseelten Kunstgewerbe strömten neue Kräfte aus der Malerschaft zu, alte Techniken wurden wieder hervorgeholt und neue Muster entworfen, die man – naturalistisch geschult, wie man war – mit Vorliebe der Pflanzenwelt entnahm. Man hatte es an den Japanern gesehen, wie man durch eine formelhafte Wiedergabe der Naturobjekte auf bequeme Art dekorative Wirkungen erzielen möge. Das alles sah und wußte Leistikow und ergab sich nun dem Verlangen der Zeit, zeichnete allerlei Kunstgewerbliches und wandte in seinen Gemälden eine Art von Subtraktionsverfahren an, indem er unter Weglassung mancher Halbschatten und gebrochener Töne ein deutlich umrissenes, farbenstarkes und flächenhaftes Abbild der Natur erzielte. Damit, daß er seine Motive der Berliner Umgegend entnahm, gedachte er wohl ein übriges zu tun und zu beweisen, daß überall und von jeglicher Natur aus der Anschluß an den Stil der Zukunft gefunden werden könne, daß aber ein jeder getrost bei sich zu Hause beginnen möge.

Um dieselbe Zeit versuchte die badische Künstlergruppe, die sich unter dem Namen des Karlsruher Künstlerbundes zusammengetan hatte, Ähnliches für die Lithographie. Sie lieferte in Mengen wohlfeile Farbendrucke für den Wandschmuck von » Schule und Haus«, wobei als bemerkenswert die soziale Nebenabsicht festgehalten zu werden verdient. In Dachau stilisierte Dill, angeregt durch schottische Vorbilder, die oberbayerische Moorlandschaft in mattfarbigen Temperabildern. Zu solchen Künstlern gesellten sich nun die Worpsweder. Sie saßen dem Webstuhl der Zeit ferner als Leistikow und waren ihres Vorhabens demnach minder bewußt; im Vergleich zu Dill nahmen sie sich als unkultiviert aus. Auf den ersten Blick scheinen ihre Bilder nichts anderes als die späten Erzeugnisse eines naiven Naturalismus zu sein, der sich vornehmlich durch den Hinweis auf heimatliche Besonderheiten seiner Naturmotive empfehlen möchte. Doch spürt man bald auch hier die Tendenz zum Dekorativen. Dafür bedarf es nicht der Erinnerung an Vogelers und anderer Worpsweder kunstgewerbliche Arbeiten. Es ist – oder war – ihnen allen gemeinsam das Bestreben, auf ihre Art monumental zu wirken, sei es auch nur durch die Dimensionen ihrer Leinwände oder durch eine laute Farbigkeit. Man hat für gewöhnlich diese Worpsweder Farbenpracht auf die dortige Natur zurückgeführt, doch die Natur allein pflegt dem Künstler noch nicht die Zunge zu lösen, sie ist weniger artis magistra als gemeinhin behauptet wird; vielmehr ist überall und so auch hier der Mensch dem Menschen verpflichtet. Hinter dem Worpsweder Kolorismus steht Böcklin – Böcklin, einer der Ahnherren der neuesten Malerei, der in die Ferne befruchtend und in die Nähe verwüstend gewirkt hat.

Recht hatten alle diese Künstler in dem mehr oder minder deutlichen Bewußtsein, daß mit dem Jahrhundert eine alte Kunst zu Ende gehe, und daß die neue Zeit – eine Zeit des erhöhten Gemeinsamkeitsgefühles – ihre eigene neue Kunst mit sich heraufführen werde, endlich wieder das allumfassende Formgesetz eines Stils! Doch irrte man sich, indem man glaubte, in eiligen Versuchen seine Früchte vorwegnehmen zu können. Schon der Begriff des »Stilisierens«, der das Umformen eines Gegebenen bedeutet, etwas wie das Eingießen eines Rohmaterials in die Hohlform eines Ideals, enthüllt den Irrtum. Denn für das stilgerechte Gebilde gibt es kein Substrat in der Natur. Hier wird nicht umgeformt, sondern geformt. Auch wird ein Stil nicht gemacht, sondern er wächst, und zwar erwächst er allmählich als die nationale oder internationale Konvention gleichen Formgefühls. Er ist die Sache Aller und wird von dem Einzelnen unbewußt angewendet, der den Zwang der Konvention, unter dem er steht, so wenig spürt wie den Druck der Atmosphären beim Atmen. So entsteht das stilgerechte Gebilde im Einzelfalle als etwas Selbstverständliches, subjektiv genommen in aller Freiheit und wird durch nichts so sehr verhindert wie durch Absichtlichkeit.

In diesem Lichte betrachtet, war man um 1900 in der deutschen Malerei all ihrer theoretischen Weisheit zum Trotz vom Stil der Zukunft weiter entfernt als in Paris, wo die Entwicklung naiver ablief. Der Impressionismus war hier von der Malerei eines Cézanne und Gauguin abgelöst worden, die, unter sich verschiedenen Ranges, doch darin übereinstimmten, daß bei ihnen der subjektivische Ausdruck zurücktrat hinter der Gesetzmäßigkeit einer mit Linien und Farben bauenden Kompositionskunst. Gleichzeitig entstanden als Nachfolge und Gegensatz zu Rodins Impressionismus die ersten Werke einer neuen Plastik von hoher Gebundenheit. Nur die Architektur schien zurückzubleiben – vielleicht weil ihr Gedeihen vom guten Willen ihrer Besteller abhing, einer beschränkten rückständigen Bourgeoisie, die sich eine Regierung nach ihrem Bilde geschaffen hatte. Aus dieser Welt drangen nun verheißungsvolle Äußerungen zu Paula Modersohn, wohl zunächst in Gestalt von irgendwelchen Abbildungen, dann in einigen Skulpturen Hoetgers, die sie auf der Ausstellung der Bremer Kunsthalle kennenlernte. Solche Botschaft fiel in die Seele unserer Künstlerin wie Samenkörner in ein aufgelockertes Erdreich.