18 Vom Geschmack

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XVIII. Vom Geschmack.

Begriffliches.

Es ist mit dem Begriffe des Geschmackes wie mit allen unseren Allgemeinbegriffen; man kann sie nicht fest einschnüren, oder sie weichen nach allen Seiten über das Schnürband hinaus; in der Regel aber bleibt doch ein gemeinsamer Kern. Und so bleibt für den Begriff des Geschmackes der gemeinsame Kern, daß er eine Einrichtung der Seele auf unmittelbares Gefallen oder Mißfallen an dem und jenem ist, was nicht erst der Überlegung bedarf, um ausgelöst zu werden. Man sieht einen Gegenstand und ohne zu wissen und zu fragen warum, gefällt oder mißfällt er uns; das ist Geschmackssache. Und fragt doch jemand nach dem Warum, und weiß man nicht warum, so hält man es auch genug, zu sagen, es sei eben Geschmackssache.

Der Geschmack ist solchergestalt eine subjektive Ergänzung zu den objektiven Bedingungen des Gefallens und Mißfallens. Das Ding muß seine Eigenschaften haben, um gefallen oder mißfallen zu können; aber wenn der Mensch nicht die dazu passende Einrichtung hat, gefällt oder mißfällt es doch nicht; bei anderer Einrichtung kann dem Einen gefallen, was dem Andern mißfällt, und so sprechen wir von einem verschiedenen Geschmack, je nachdem Verschiedenen Verschiedenes gefällt oder mißfällt.

In sofern sich die Ästhetik mit Gegenständen und Verhältnissen unmittelbaren Gefallens und Mißfallens beschäftigt, und schön oder unschön im weitesten Sinne überhaupt heißt, was die Eigenschaft hat unmittelbar zu gefallen oder zu mißfallen, ist auch Geschmackslehre gleichbedeutend mit Ästhetik, ist der Geschmack ein Vermögen, von den Dingen so oder so angesprochen zu werden, und Sache des Geschmackes, etwas schön oder nicht schön zu finden. In sofern aber in einem engeren Sinne der Begriff des Ästhetischen und Schönen auf Gegenstände und Verhältnisse höheren Gefallens und Mißfallens beschränkt wird, pflegt man auch den Begriff des Geschmackes in einem entsprechend engeren Sinne auf solche zu beziehen, und z. B. das Gefallen oder Mißfallen an etwas Wohl- oder Übelschmeckendem, trotz dem, daß der Ausdruck Geschmack daher entlehnt ist, nicht als Sache des Geschmackes im engeren Sinne zu rechnen, nennt also einen Gutschmecker deshalb noch nicht einen Mann von gutem Geschmack. Doch lassen sich manche, auf den Geschmack im engeren und höheren Sinne bezügliche, Verhältnisse nur um so handgreiflicher am niederen erläutern.

In sehr weiter Fassung wird der Begriff des Geschmackes wie der des Schönen oder Unschönen nicht bloß auf Gefallen und Mißfallen an Verhältnissen der Außenwelt, sondern auch der Innenwelt bezogen, und sagt man also wohl: es ist nicht nach meinem Geschmacke, mich viel mit Sorgen zu plagen, erst lange zu überlegen u. s. w.; in engerem Sinne aber bezieht man doch Geschmack eben wie auch schön und unschön nur auf Gefallen und Mißfallen an Dingen und Verhältnissen, die von der Außenwelt her ihren Eindruck auf uns machen.

Insofern man Verstandes- und Gefühlsurteile danach unterscheidet, daß man sich bei ersteren der Gründe des Urteiles bewußt ist, bei letzteren nicht, gehören die Urteile nach dem Geschmacke, ob etwas schön oder unschön sei, eben so wie die nach dem Gewissen, ob etwas recht oder unrecht sei, zu den Gefühlsurteilen. Gründe zum Urteile muß es freilich überall geben; aber sie können in einer inneren Einrichtung liegen, deren Wirkung, aber nicht deren Entstehung und Wirkungsweise man sich bewußt wird. Nun kann eine öftere verstandesmäßige Überlegung der Ansprüche, welche die Dinge haben zu gefallen oder zu mißfallen, selbst etwas zu der Einrichtung beitragen, vermöge deren sie uns nachher auch ohne Überlegung gefallen und mißfallen; doch ist das nur eins der Bildungsmittel des Geschmackes, von welchen wir weiterhin zu sprechen haben werden. Wie er aber auch entstanden und gebildet sei, ist er anders gut gebildet, so ist er darum so außerordentlich schätzbar, daß er das Resultat von tausend guten Gründen, die der Verstand finden läßt, auch ohne Suchen nach diesen Gründen unmittelbar gibt.

Insofern der Geschmack uns unmittelbar sagt, was schön und unschön, das Gewissen, was recht und unrecht ist, hat der Geschmack eine ähnliche Bedeutung für die Ästhetik, als das Gewissen für die Moral. Ob sie überall das objektiv Rechte sagen, ist bei beiden noch die Frage, um die es sich aber hier zunächst, wo wir nur erst mit begrifflichen Bestimmungen zu tun haben, nicht handelt.

Bisher sprachen wir nur vom Geschmack in subjektiver Beziehung; man wendet aber den Begriff des Geschmacks auch auf Gegenstände zur Bezeichnung der Weise, wie sie den subjektiven Geschmack ansprechen, an, so wenn man von, einem bestimmten Geschmacke spricht, der in Bausachen, Möbeln, Kleidern herrscht.

Über Unterscheidungen, die man im Begriffe des Geschmackes machen kann, ist Folgendes zu sagen.

Die wichtigste Unterscheidung, welche zu machen, ist die zwischen einem guten und schlechten oder richtigen und unrichtigen Geschmack, je nachdem dem Menschen gefällt und mißfällt, was ihm beziehentlich gefallen und mißfallen soll oder das Gegenteil. Sofort erhebt sich die Frage nach dem Gesichtspunkte dieses Sollens. Hierauf werden wir unten kommen; zunächst kann man sich an dem geläufigen Begriffe des Sollens genügen lassen.

Weiter kann man einen feineren und gröberen, höheren und niedrigeren, einseitigeren und vielseitigeren Geschmack und verschiedene Richtungen des Geschmackes unterscheiden, je nachdem der Mensch befähigter ist, von feineren oder gröberen, höheren oder niedrigeren, wenigeren oder mehreren, so oder so beschaffenen Bestimmungen und Verhältnissen der Dinge ästhetisch affiziert zu werden.

Man kann nicht schlechthin sagen, daß ein feinerer und höherer Geschmack zugleich notwendig ein richtigerer oder besserer sei; denn so oft auch die Bedingungen davon zusammentreffen, ist es doch nicht unbedingt der Fall. So hat der Überbildete oft einen feineren und höheren, doch darum noch nicht einen richtigeren oder besseren Geschmack, worauf weiterhin zurückzukommen. Um so weniger ist ein vielseitiger Geschmack notwendig ein guter, da er vielmehr nach allen Seiten schlecht sein kann; indes ein zu grober, zu niedriger, zu einseitiger Geschmack freilich auch nicht gut ist.

Auch zwischen Feinheit und Höhe des Geschmackes findet keine notwendige Bedingtheit statt. Es ist an sich nur Sache eines feinen aber nicht hohen Geschmackes, wenn jemand sich der feinen Ausführung eines Bildes, der feinen Modulationen eines Tonstückes so wie der Beziehungen zwischen dem Feinen, die man selbst fein nennt, erfreut; aber dabei kann es recht wohl sein, daß die Empfänglichkeit über das Einzelne der feinen Beziehungen nicht hinausreicht, bis zu den höchsten und letzten Beziehungen, welche durch das Ganze gehen und das Ganze verknüpfen, nicht aufsteigt, daher trotz der Feinheit der Empfindung zu keiner großen Höhe gelangt; indes umgekehrt in der Empfänglichkeit für die Beziehungen großer Massen, wie solche z. B. in Kunstwerken sog. hohen Stils zur Geltung kommen, zu großer Höhe aufgestiegen, dafür aber an Feinheit der Empfindung im Einzelnen eingebüßt werden kann. Die Kunst kommt dieser Unterscheidung dadurch entgegen, daß Kunstwerke von feiner Ausführung im Allgemeinen nicht zugleich Werke hohen Stils und umgekehrt sind; und kann man auch nicht sagen, daß eine Vereinigung des Feinen und Hohen überhaupt unmöglich sei, so findet sie sich doch weder im Subjekt noch Objekt oft zusammen, und hat der Versuch ihrer Vereinigung sein Aber. Das gäbe Anlaß, ins Weite abzuschweifen; aber wir wollten zunächst nur vom Begriffe des Geschmackes sprechen.

Während Geschmack allgemein gesprochen gut oder schlecht, fein oder grob sein kann, legt man doch jemand Geschmack schlechthin vielmehr in erstem als letztem Sinne bei, meint also, wenn man von jemand sagt, er habe Geschmack, daß er einen verhältnismäßig richtigen und feinen habe, braucht also in diesem engeren Sinne Geschmack gleichgeltend mit Geschmack wie er sein soll.

Die Bedeutung der Beiwörter geschmackvoll, geschmacklos hängt mit dieser engem Bedeutung von Geschmack zusammen; dabei aber hat der Sprachgebrauch seine Launen. Man spricht von geschmacklosen Menschen als solchen, denen ein guter Geschmack fehlt, warum nicht auch von geschmackvollen als solchen, die ihn besitzen. Wir haben dafür überhaupt kein treffendes Beiwort; denn taktvoll bezieht sich mehr auf Benehmen als Empfinden.

Das Natur- und Kunstschöne ist vorzugsweise Gegenstand des höheren und feineren Geschmackes; doch wird Niemand eine Landschaft oder ein historisches Gemälde nach Hauptbeziehungen geschmackvoll oder geschmacklos nennen; wogegen Kleider, Möbeln, Dekorationen, ganze Toiletten oder Zimmereinrichtungen freigebigst mit jenen Beiwörtern bedacht werden. Auch die Aufstellung eines Gemäldes oder einer Statue, die man selbst wohl schön, aber nicht geschmackvoll nennen möchte, in einer passenden oder unpassenden Umgebung kann als geschmackvoll oder geschmacklos gelten; indes immer wahr bleibt, daß die Beurteilung des Gemäldes, der Statue als schön oder unschön nach dem unmittelbaren Eindrucke, den sie im Ganzen zu machen vermögen, Sache des Geschmackes bleibt. Die adjektivische Bedeutung in Bezug auf die Objekte des Gefallens und Mißfallens folgt also der substantivischen in Bezug auf die Subjekte nicht bis zu den Gegenständen höheren Gefallens hinauf.

Hätte sich die Sprache systematisch ausgebildet, so würden die Beiwörter überall besser mit dem Hauptworte stimmen; aber unsere Begriffe haben sich nicht so ausgebildet, und so konnte es auch nicht die Sprache.

Unter abgeschmackt versteht man den höchsten oder einen ganz offenkundigen Grad des Geschmacklosen, etwas, was von einem richtigen Geschmack ganz abfällt.

Streit des Geschmackes.

Es ist eine alte Rede, daß sich über den Geschmack nicht streiten läßt; indes streitet man doch darüber, ja über nichts mehr als über den Geschmack; es muß sich also doch darüber streiten lassen. Und nicht bloß Einzelne streiten darüber, auch Nationen und Zeiten, oder wenn sie nicht darüber streiten, weil sie zu entlegen von einander sind, streiten doch die Richtungen ihres Geschmackes unter einander, indem sie gewöhnlich eben so abweichend von einander, als die Nationen und Zeiten entlegen von einander sind. Aber auch die einander in Zeit und Raum, wissenschaftlichen und religiösen Ansichten nahe stehen, die besten Freunde sonst in allen Dingen, pflegen doch noch über den Geschmack zu streiten. Und die Ästhetiker und Kunstrichter, die den Streit zu entscheiden hätten, streiten am meisten darüber, indem sie auch über die Gesichtspunkte und Gründe der Entscheidung streiten.

Fassen wir nun vor Allem einige besonders auffällige Beispiele streitenden Geschmackes rein tatsächlich ins Auge, teils um eine Ansicht von der Größe der vorkommenden Geschmacksverschiedenheiten zu erwecken, teils Anknüpfungspunkte für spätere Erörterungen darin zu finden. Und zwar zuerst ein Beispiel aus dem Gebiete der Mode, einem Gebiete, welches zweifeln lassen könnte, daß der Geschmack sich überhaupt Regeln und Gesetzen fügt. Denn obwohl er sich selber in jeder neuen Mode eine neue Regel gibt, ist es doch nur, um der alten zu spotten und dem Spotte der späteren zu verfallen.

Wohl als das Geschmackloseste, was es gibt, erscheint uns jetzt eine Perücke und deren etwas spätere Vertreter, Puder, Zopf, Haarbeutel, die den Kopf selbst zu einer Art Perücke machten. Wie ganz anders aber stellte sich eine noch nicht zu lange vergangene Zeit dazu. Ich selbst habe noch alte Leute erzählen hören, welchen Eindruck der Armseligkeit, Unkultur, ja Rohheit ihnen früher ein Kopf ohne Frisur und Zopf gemacht habe. Ein Mensch ohne das sähe nach gar nichts aus. Hier in Leipzig war mein Schwiegervater, Ratsbaumeister Volkmann, der erste, der es wagte, bei einer feierlichen Gelegenheit, seiner Doktordisputation nämlich, ohne Zopf zu erscheinen, und sein, mit ihm befreundeter Opponent, der nachher berühmt gewordene Philolog, Gottfried Hermann, sekundierte ihm in diesem Wagnis, dem er sich schwerlich allein gewachsen gefühlt hätte. Auch hätte es ihn beinahe den Eintritt in den Rat gekostet; denn einen Vater der Stadt ohne Zopf denken, hieß fast sich den Lenker eines Schiffes ohne Steuer denken. Doch waren Frisur und Zopf im Grunde nur schwache Nachklänge und letzte Ausläufer der einst weit beherrschenden Perücke; durch diese und die zu ihr so zu sagen polare Schleppe aber wurden früher Eindrücke hervorgebracht, die uns fast bedauern lassen könnten dieser Stücke verlustig gegangen zu sein, von denen das eine die Würde des Menschen um eben so viel nach Oben erhöhte, als die andere nach Unten und rückwärts verlängerte. Wir sind damit um einen Quell erhabener Eindrücke ärmer geworden. In der Tat machte eine großartige Alongeperücke in vorigen Jahrhunderten fraglos einen erhabenem Eindruck als der kölnische Dom, der eben deshalb, weil die Perücke einen so großen machte, gar keinen machte, daher unvollendet blieb. Aber es ist auch kaum zu viel gesagt, daß sie früher einen größern machte, als der kölnische Dom jetzt macht. So erinnere ich mich gelesen zu haben, daß ein Kind, als sein Vater Besuch von einem Ratsherrn erhielt, der eine ungeheure Perücke trug, nachher mit scheuer Ehrerbietung fragte, das sei doch wohl der liebe Gott gewesen. Es konnte also das höchste Wesen nicht ohne die größte Perücke denken, und schloß nun umgekehrt von der größten Perücke auf das höchste Wesen. So hatte die Ehrfurcht vor der Perücke schon in den jüngsten Gemütern Wurzel gefaßt.

Auch war es mit diesen Dingen nicht etwa wie mit dem heutigen Frack, den man eben so allgemein theoretisch verwirft, als noch vor Kurzem faktisch in Gesellschaft trug, und selbst heute noch nicht ganz abzustreifen vermocht hat. Vielmehr galt der Geschmack an jenen Dingen für so maßgebend, daß ihn selbst Vertreter des Geschmacks vertraten. Lese man, was ein Künstler, der selbst eine Analyse der Schönheit geschrieben hat und solche jedenfalls nach dem Geschmacke seiner Zeit schrieb, Hogarth, darüber sagt [Fußnote].

"Die volle und lange Perücke hat, gleich der Mähne eines Löwen, etwas Edles in sich, und gibt dem Gesichte nicht nur ein ehrwürdiges sondern auch verständiges Ansehen . . . ." und: "Die Richterröcke haben ein furchtbar ehrwürdiges Ansehen, welches ihnen die Größe dessen, was an ihnen ist, gibt, und wenn die Schleppe gehalten wird, so geht eine ansehnliche wellenförmige Linie bis zu der Hand seines Schleppenträgers. Und wenn die Schleppe sachte niedergelegt wird, so fällt sie gemeiniglich in viele mannigfaltige Falten, welches wiederum das Auge beschäftiget und dessen Aufmerksamkeit auf sich ziehet."

Man sieht, Hogarth faßte Perücke und Schleppe aus einem wahrhaft idealen Gesichtspunkte auf. Auch trat die Perücke aus diesem Gesichtspunkte in die Kunst ein. Als der Frack noch in größerer Geltung war als jetzt, würde man sich doch selbst auf Familiengemälden; um so mehr in monumentaler Darstellung, gescheut haben, jemand im Frack darzustellen; man trug und trägt ihn noch so zu sagen in Widerspruch mit dem geltenden Geschmack. Hiergegen kann man behaupten, wie ich einer sachkundigen Darstellung entnehme, "daß es aus dem Zeitraum von den sechziger und siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts bis ziemlich tief in das folgende hinein in keinem öffentlichen und Familien-Gemälde und vor keinem Titelblatt eines Buches ein männliches Porträt gibt, das nicht eine Perücke trüge; der Mann müßte denn in der Schlafmütze dargestellt sein, was auch vorkommt;" denn auch die Schlafmütze spielte damals als kompendiöser Auszug aus der Perücke eine ganz andere Rolle als jetzt.

Nun denke man sich aber einmal, ein vornehmer Herr mit Perücke oder Frisur, breitschößigem Frack, blumiger Schößenweste, kurzen Scharlachhosen, großen Schnallenschuhen, und an seiner Seite eine Dame mit hohem Kopfaufsatze, Schönpflästerchen im Gesichte, Schnürkorset, Reifrock, hohen Absätzen, sei eines schönen Tages im alten Athen oder Rom auf dem Markte durch die Menge schreitend erschienen; was würde es da für einen Eindruck gemacht haben? Man meint vielleicht, es würde ein unauslöschliches Gelächter entstanden sein. Das würde auf unserem Markte entstanden sein. Ich glaube vielmehr, es würde ein allgemeines Grausen entstanden sein, indem man etwa gemeint hätte, die Erscheinung zweier gespenstigen Götzen aus einer widervernünftigen Welt zu sehen, wie sie keine menschliche Phantasie, kein menschlicher Verstand ersinnen könnte. Doch mußten sich ehedem in dem für den Geschmack maßgebenden Frankreich sogar die griechischen und römischen Könige, Helden und Senatoren gefallen lassen, in nur etwas gemilderten Trachten dieser Art auf dem Theater aufzutreten. So sehr verlangte sie der Geschmack, daß nicht einmal das damals allgemein geltende Prinzip der Nachahmung der Natur durch die Kunst dagegen aufkommen konnte, man vielmehr nur die notwendige Idealisierung der Natur durch die Kunst darin sah.

Nun sind unstreitig Kleidungsstücke, Modesachen überhaupt, nur niedere Gegenstände des Geschmackes. Aber zur Zeit, wo die Menschen Zopf und Perücke trugen, trugen so zu sagen alle, selbst die höchsten Gegenstände des Geschmackes, Zopf oder Perücke, woher eben die Ausdrücke Zopf- oder Perückengeschmack, Zopf oder Perückenzeit. Und zur Zeit, wo das griechische Gewand und die römische Toga getragen wurden, stimmte auch Alles zu diesen Gewändern.

Hier haben wir also zwei Zeiten und Völker, die sich so zu sagen in Nichts, was den Geschmack anlangt, verstanden. Wie sich denn überhaupt Geschmacksverschiedenheiten niemals isoliert geltend machen, und alle Beispiele, die hier anzuführen, eigentlich einen größeren Zusammenhang von solchen zu vertreten haben. Wenden wir uns damit von der Mode zur Kunst, doch begnügen uns mit kürzeren Hinweisen auf dies unendliche Feld.

Soll ich von Beispielen aus der bildenden Kunst sprechen. Denke man z. B. daran, wie der Geschmack an der Antike in dem frühen Mittelalter ganz verloren war, sich erst in der Zeit der sog. Renaissance erneute, nach manchen Schwankungen, inmitten deren Bernini mehr als die Alten galt, in Winckelmann so zu sagen eine neue Wiedergeburt feierte, wie die Canovasche Weichlichkeit und Prätension einen neuen Sieg über die Alten feierte, und der von Winckelmann vergötterte Apoll sich jetzt gefallen lassen muß, in zweiten Rang gestellt zu werden.

Unser musikalischer Geschmack ist weder der Geschmack anderer Nationen, noch unser jetziger musikalischer Geschmack der Geschmack vergangener Zeiten, die Zukunftsmusik aber schon mit schmetternden Fanfaren da, den Sieg über den heutigen zu verkünden. Mag hier bloß folgende Stelle aus einem historischen Aufsatze über Musik Platz finden, die mich selbst, der ich kein Musikverständiger bin, besonders interessiert hat [Fußnote].

"Daß im Harmonischen Vieles, was für unsere Vorfahren überraschende Gegensätze bildete, uns im Gegenteil wenig überrascht, vielmehr trivial dünkt, ist nicht auffallend. Aber daß dem Ohr eines Zeitalters Harmonien-Verbindungen völlig falsch und unsinnig klingen, die dem Ohr einer anderen Zeit schön und natürlich geklungen haben, dies ist doch eine rätselhafte Tatsache. Schon die grellen und unvorbereiteten Dissonanzen, die wir jetzt häufig für sehr wirkungsreich halten, haben vor 100 Jahren für ohrzerreißend gegolten. Mehr noch. Die schauerlichen Quartenfolgen des Guido von Arezzo aus dem 11ten Jahrhundert widerstreben unserm Ohr so sehr, daß die äußerste Selbstüberwindung geübter Sänger dazu gehört, um solche Harmonie-Verbindungen nur überhaupt aus der Kehle zu bringen. Und doch müssen sie dem mittelalterlichen Ohre schön und naturgemäß geklungen haben! Sogar Hunde, welche moderne Terzen- und Sextengänge ruhig anhören, fangen jämmerlich zu heulen an, wenn man ihnen die barbarischen Quartengänge der Guidonischen Diaphonien auf der Geige vorspielt! Diese historisch-konstatierte Umstimmung des musikalischen Ohres ist in der Tat unbegreiflich."

Hierzu zeigt der Verfasser, wie auch die Orchesterstimmung, das Tempo u. s. w. nach Ort und Zeit verändert worden sei.

Ohne mich weiter hierbei aufzuhalten, füge ich zu dem Beispiele aus der eigentlichen Musik ein solches aus der gefrorenen Musik, wie bekanntlich einer der Gebrüder Schlegel die Architektur nannte; ein Beispiel, was, wenn schon das vorige fast unglaublich erschien, noch unglaublicher erscheinen dürfte, indem sich unser architektonischer Geschmack darin geradezu auf den Kopf gestellt zeigt.

In unserer wie der antiken Baukunst gilt es als selbstverständlich, daß Säulen, Stützen nur Teile eines Gebäudes zu tragen, nicht aber, wie etwa die Beine den Leib eines Tieres, das ganze Gebäude sich aufzuladen haben, und als eben so selbstverständlich, daß sie sich vielmehr nach Oben als nach Unten verjüngen. In der Tat würde es uns als Sache eines völlig verkehrten Geschmackes erscheinen, ein Gebäude durch Säulen, Stützen ganz und gar über den Erdboden erhoben zu sehen, als scheute es sich das zu berühren, worauf es sich vielmehr ganz und gar zu gründen hat, und den dickern, mithin schwereren, Teil der Säulen, Stützen vielmehr nach Oben als nach Unten gekehrt zu sehen. Beide Absurditäten aber finden sich in der Baukunst Bencoolens auf der Insel Sumatra vereinigt, wie ich einer Reisebeschreibung entnehme. Hier nämlich ruht der Fußboden der Häuser nicht auf der Erde, sondern auf 8 Fuß hohen Stützen, so daß man unter dem Fußboden wie unter einer Decke weggehen kann, und diese Stützen sind sämtlich oben dicker als unten. Dabei gelten dieselben den Einwohnern nicht etwa bloß als Gegenstände des Nutzens, sondern wirklich des Geschmackes, wie daraus hervorgeht, daß sie dieselben sauber bearbeiten und ihren oberen Teil in ähnlicher Weise verzieren, als wir die Capitäler unserer Säulen verzieren. Ihr Auge und Schönheitssinn oder Geschmack hat sich auf diese Verhältnisse ihrer Bauwerke eben so eingerichtet, wie unser Geschmack auf die bei uns vorkommenden Verhältnisse; und wenn wir über ihre stelzfüßigen Häuser lachen, so werden ihnen dagegen unsere Häuser unstreitig vorkommen wie Geschöpfe, denen man die Beine abgeschnitten und die nun platt auf der Erde aufliegen.

Man fragt: wie erklärt sich eine solche Verirrung des Geschmackes? Sie wird sich nicht nur weiterhin (Pkt. 4,) erklären, sondern auch als keine Verirrung rechtfertigen lassen; und eben deshalb, weil sie so instruktiv ist, habe ich sie angeführt. Nun nur noch ein letztes Beispiel bezüglich der ästhetischen Auffassung der Natur.

Daß sich diese bei den Alten wesentlich anders stellte als bei uns, geht sehr einfach daraus hervor, daß sie bei ihrer übrigens so hoch entwickelten Kunst doch keine Landschaftsmalerei in demselben Sinne hatten als wir. Zwar wußte man lachende, blühende, wohl angebaute, an Abwechselung von Wald, Berg, Fluß reiche, Gegenden, insbesondere Strandgegenden von See und Meer, wohl zu schätzen, und baute sich vorzugsweise gern daran an, stellte sich aber noch in kein so sentimentales Verhältnis zur Natur, raffinierte noch nicht so in den Modulationen des ästhetischen Naturgenusses, machte noch keine Reisen in schöne Gegenden bloß um der Schönheit der Gegend willen. Der ästhetische Gesamteindruck der Landschaft stand, ohne rein sinnlich zu sein, dem sinnlichen unstreitig näher als bei uns, indes manche Einzelheiten der Natur, als namentlich Haine, Quellen, Flüsse, durch ihre mythologische Beziehung auch eine höhere ästhetische Bedeutung für die Alten gewonnen haben mochten als für uns.

Ganz besonders merkwürdig aber ist der Unterschied in der ästhetischen Auffassung erhabener und wild romantischer Gegenden zwischen dem Altertum und der Jetztzeit. Für solche Gegenden, darf man sagen, ging dem Altertum der Geschmack gänzlich ab; und wenn man jetzt scherzhaft von manchen Hunderassen sagt, sie seien um so schöner, je häßlicher sie sind, so würden die Alten ernsthaft von unseren Geschmack an derartigen Gegenden gesagt haben, sie dünken uns um so schöner, je häßlicher sie sind. Gegenden wie das Berner Oberland, das Chamounithal, die höheren Alpen überhaupt, gelten uns jetzt als Quell der erhabensten Reiseeindrücke, ziehen jährlich eine Unzahl Reisender an, und wohl nirgends hört man eine solche Verschwendung überschwenglicher Ausrufungen in allen Sprachidiomen als da, wobei der Berliner und Leipziger sich nur deshalb scheel ansehen, weil keiner den Dialekt des Andern erhaben genug für die Erhabenheit der Szene findet, und jeder die erhabene Einsamkeit allein genießen möchte. Das konnte man nun früher leicht haben, denn früher wurden solche Gegenden von allen Reisenden geflohen, die nicht genötigt waren, ihren Weg hindurch zu nehmen, und ließen selbst in der Erinnerung nur den Eindruck eines Schreckbildes zurück. Und merkwürdigerweise stimmte in dieser Hinsicht der Geschmack der alten Griechen und Römer mit dem Geschmack unserer Zopf- und Perückenzeit vollkommen zusammen, worüber es belehrend ist, die Ausführungen von Friedländer im zweiten Teile seiner Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms nachzulesen. Er führt Stellen aus älteren Reisebeschreibungen an, worin die Salzburger und Tiroler Alpen, die Schottischen Hochlande als aller Zier und Schönheit bare, mit den Märkischen Sandwüsten und der Lüneburger Heide unter dieselbe Kategorie und in demselben Satze zusammengestellt und den lieblichen lachenden Gegenden, an denen man sich allein zu erfreuen vermochte, gegenübergestellt waren. Ja wie wenig stilmäßig es noch im vorigen Jahrhundert war, sich um eine erhabene Alpennatur zu kümmern, beweist das Beispiel Klopstocks, des erhabenen Klopstock, der bei einem längern Aufenthalte in der Schweiz sie unbeachtet liegen ließ.

Unter denselben Gesichtspunkt traten bei den Alten Gegenden wie die Campagna um Rom, die jetzt so beliebte landschaftliche Motive liefert. Den Alten hätte sie in ihrem jetzigen Zustande außer dem Eindrucke einer landwirtschaftlichen auch den einer landschaftlichen Öde und Trostlosigkeit gemacht. Jetzt bedauern Künstler und Kunstfreunde schon im Voraus, daß nach der Besitzergreifung Roms durch die Piemontesen die Campagna der Kultivierung über kurz oder lang entgegengeht und damit jener landschaftlichen Reize verlustig gehen wird; die Alten würden in diesem Bedauern nur ein Zeichen unseres verwilderten Geschmackes haben erblicken können, und uns vorgeworfen haben, daß wir, so viel wir auch von ihnen gelernt, doch den Barbaren noch nicht ganz ausgezogen hätten und unsere rohe Natur sich noch in unserem rohen Naturgeschmack äußere.

Genug der Beispiele, die ich mit Fleiß aus allen Gebieten entnommen habe, wo sich überhaupt Geschmack geltend machen kann, dem Gebiete der Mode, der Kunst und Natur. Überall sehen wir die Verschiedenheiten des Geschmackes so weit gehend, daß es denen, die an dem einen Extrem stehen, schwer fallen muß, die Möglichkeit des anderen Extrems zu verstehen, ja fast daran zu glauben. Und welche Variationen des Geschmackes nun zwischen diesen Extremen. Es müßte von Interesse sein, wenn man Farben dazu hätte, diese unendliche Mannigfaltigkeit von Schattierungen des Geschmackes dem Auge auf einer Tafel im Zusammenhange darzustellen; nur möchte freilich dieses Gesamtgemälde des Geschmackes uns als das Geschmackloseste erscheinen, was es gibt.

Zu dieser großen Verschiedenartigkeit des Geschmackes kommt nun noch, um dies hier mit zu berühren, eine eben so große Unsicherheit des Geschmackes. Sehe man die Besucher eines Kunstmuseums oder einer Kunstausstellung an, finden sich nicht die meisten in großer Verlegenheit, ob ihnen dies und das gefallen soll oder nicht. Zwar in Bezug auf alle bekannte Meister und Bilder findet eine solche Unentschiedenheit nicht statt; jeder weiß, daß ihm Raphael, Michel Angelo, Tizian, Albrecht Dürer, die niederländischen Genrebilder gefallen müssen, von heutigen Malern über Alles Cornelius; weiß man aber erst, was gefallen soll, und dazu sind die Kenner da, es uns zu sagen, so fängt es auch alsbald an, uns wirklich zu gefallen, denn der meiste Geschmack ist wie der meiste Glaube ein eingepflanzter, oktroierter; wir kommen darauf unten. Und so sind die meisten Geschmacksurteile in Kunstsachen nur Nachurteile nach den Urteilen, oft Vorurteilen, weniger Kenner, von welchen größere oder kleinere Gesellschaftskreise beherrscht werden. Aber in Bezug auf Bilder von neuen oder unbekannten Meistern fehlt der Anhalt des Namens und leider hat man, wenn man ratlos vor dem neuen Bilde steht, nicht immer gerade einen Kenner vor sich oder hinter sich, dessen Urteil man belauschen könnte. Auch das Urteil der Kenner aber wird unsicher, wenn der Name unsicher wird. Wurde doch noch neuerlich an einem berühmten Bilde das Beispiel erlebt, daß, als sein Meister aus einem bekannten zu einem unbekannten wurde, der früher einstimmige Geschmack aller Kenner daran ganz in Verwirrung geriet, und manche von da an sich ganz von der Bewunderung des Bildes lossagten.

Woher nun, kann man fragen, diese große Verschiedenheit des Geschmackes einerseits und Unentschiedenheit anderseits, die sich in das Feld des Geschmackes teilen? Das Schöne soll doch eine absolute Geltung haben, warum macht es sie nicht geltend? es soll einen Zauber auf die Menschen üben; warum versagt so oft dieser Zauber? Und was entscheidet endlich den Streit des Geschmackes und hebt die Unsicherheit? Ist denn jeder Geschmack gleichwertig, und gibt es überhaupt keine maßgebenden Gesichtspunkte, einen besseren von einem schlech-teren zu unterscheiden? Das scheint man in der Tat damit sagen zu wollen, wenn man sagt: über den Geschmack läßt sich nicht streiten; man will damit sagen: der Streit läßt sich nicht entscheiden.

Was nun die Erklärung der Geschmackverschiedenheiten anlangt, so kann man sich dabei auf einen verschieden hohen Standpunkt stellen. Um den höchstmöglichen einzunehmen, kann man sagen: Die ganze Entwicklung des menschlichen Geistes steht unter dem Einflusse einer Idee, und zwar in höchster und letzter Instanz der göttlichen oder absoluten Idee, und alle Verschiedenheiten des Geschmacks sind bloß sich ergänzende und fordernde, einander ablösende und in einander aufhebende Momente, Glieder, Stufen, in welchen die höchste Geschmacksidee sich auswirkt, entfaltet, zur Erscheinung kommt, ohne sich in einer einzigen Erscheinungsweise erschöpfen zu können. Jede niedere Stufe aber hat sich in einer höheren, als deren Vorbedingung und Vorstufe sie anzusehen ist, aufzuheben, die Gesamtheit aller Stufen natürlich endlich in derjenigen, die sich in dem jeweiligen Vertreter der höchsten Idee als solche manifestiert hat. Da wir nun durch Schelling, Hegel und ihre Nachfolger von den Potenzen, Stufen, Selbstaufhebungen genau unterrichtet sind, welche die Idee durchzumachen hat, um sich zur höchsten zu erfüllen; so hat dieser Weg keine andere Schwierigkeit, als die Erfahrung in das dadurch vorgezeichnete Schema unterzubringen, und, wenn sie sich nicht unterbringen lassen will, das Schema aus philosophischer Machtvollkommenheit danach abzuändern. Damit ist dann aber auch eine absolute Einsicht in die Entstehung aller Geschmacksverschiedenheiten erzeugt. Wobei nur zu bedauern ist, daß diese Einsicht durch den etwas mystischen Charakter der absoluten Idee erschwert wird, daher immer nur das Eigentum einiger Philosophen bleiben wird, die der Idee und sich selbst eine gemeine Klarheit nicht zumuten.

Auf einen beträchtlich niedrigeren aber darum dem gemeinen Menschenverstande zugänglicheren Standpunkt stellt man sich, wenn man sagt: die Verschiedenheiten des Geschmackes hängen einerseits von der angeborenen Verschiedenheit der Menschennatur, anderseits der Verschiedenheit der Umstände, unter welchen die Menschen erwachsen, und der verschiedenen Weise, wie sie erzogen werden, ab, und hängen ihren allgemeinem Richtungen nach mit Verschiedenheiten der ganzen geistigen Kultur zusammen. Diese kann man dann in großen Zügen nach ihren durch ganze Völker und Zeiten greifenden Momenten pragmatisch verfolgen, und zeigen, wie sich die Entwickelung der einzelnen Geschmacksverschiedenheiten darein ein- und unterordnet. Immer noch eine hohe und schöne Aufgabe, hinsichtlich deren Ausführung auf die Kultur- und Kunstgeschichten zu verweisen ist.

Man kann nun aber endlich auch nach den letzten psychologischen Hebeln fragen, durch welche der Geschmack jedes Einzelnen seine Richtung empfängt, und welche bei den Geschmacksverschiedenheiten ganzer Zeilen und Völker nur in großem Maßstabe und Zusammenhange in Wirkung treten; und da man in den Kultur- und Kunstgeschichten sich nicht leicht bis zu ihrer Betrachtung herabläßt, so will ich, anstatt das zu wiederholen, was man da finden kann, weiterhin mit einigen Betrachtungen auf diese letzten Hebel eingehen.

Mit den subjektiven Ursachen der Geschmacksverschiedenheiten begegnet sich die objektive, daß die Gegenstände des Geschmackes im Allgemeinen der Auffassung verschiedene Seiten darbieten. Nun wird je nach Anlage, Lebensverhältnissen, Erziehung die Aufmerksamkeit des Einen mehr von dieser, des Andern von jener Seite angesprochen, und je nachdem es eine mehr wohlgefällige oder mißfällige ist, wird sein Gefallen oder Mißfallen am ganzen Gegenstande vorwiegend dadurch bestimmt. So achtet der Eine bei einem Bilde fast nur auf die Komposition, und das Bild gefällt ihm, wenn es hierin genügt, wie auch das Colorit beschaffen sei; bei einem Anderen wird umgekehrt das Gefallen hauptsächlich durch die Verhältnisse des Colorits bestimmt; der Eine achtet mehr auf die Beschaffenheit des Inhaltes, der Andere mehr auf die Form, in der er sich ausprägt, u. s. w. Kurz die Verschiedenheit des Geschmackes hängt zum Teil mit der Einseitigkeit desselben zusammen, sofern diese verschiedene Richtungen nehmen kann.

Was die Entscheidung zwischen dem streitenden Geschmack anlangt, so fragt sich vor Allem, wer soll Richter sein? Das Gefühl? Aber der Streit des Geschmackes ist eben ein Streit des Gefühls; kann also nicht durch das Gefühl entschieden werden. Der Verstand? Wohl, gelingt es ihm Kriterien anzugeben, nach denen etwas schön ist, so wird es einfach sein, den Geschmack zu rechtfertigen oder zu verwerfen, je nachdem er es auch schön oder nicht schön erscheinen läßt, d. h. unmittelbar gefallen oder nicht gefallen macht. Aber leider sind diese Kriterien zwischen den Ästhetikern so streitig, so schwankend, unbestimmt oder schweben in solcher philosophischen Höhe, daß man die Perücke und Schleppe so gut danach rechtfertigen kann als das griechische Gewand; man braucht bloß das Prinzip danach zu wählen und zu wenden. — Wir ziehen doch sonst in der Regel das Fließende, Geschwungene dem geradlinig Steifen ästhetisch vor; Hogarth hat sogar geradezu die Linie der Schönheit für wellenförmig, Winckelmann für elliptisch, Herder für schwebend zwischen Geradem und Krummem erklärt, und wie oft hört man heute noch eine Figur wegen des schönen Flusses ihrer Formen preisen. Die Perücke scheint wie gemacht, alle diese Forderungen in Eins zu erfüllen, und nehmen wir noch das Herbart-Zimmermann’sche Prinzip hinzu, wonach das Große neben dem Kleinen gefällt, so werden wir in der größten Perücke die vollendetste Schönheit zu sehen haben. Warum verwerfen wir nun doch die Perücke und ziehen sogar den steifen Hut trotz Allem, was wir daran auszusetzen finden, immer noch der halb welligen, halb elliptischen, in ihrem Lockenfall das Gerade und Krumme verschmelzenden, kurz den schönsten Fluß der Formen darbietenden Perücke vor. — Nach Manchen ist Schönheit die göttliche, im Irdischen sich aussprechende, sinnlich erscheinende Idee, und die Aufgabe der Kunst als Darstellerin des Schönen das Ideale. Aber Kröte und Spinne sind doch auch göttliche Geschöpfe, warum gefallen und sollen sie uns weniger gefallen als Lilie und Rose; und warum sollte die Perücke als grandioser Mantel um das Haupt weniger ideal sein als der bei idealen Darstellungen so viel mehr geschätzte Mantel um die Schultern. Ist doch die Perücke nur ein idealisiertes Haar. — Wieder nach Manchen ist das Schöne das, was aus einem freien Spiele der Phantasie hervorgeht und solches anzuregen vermag. Wer aber wird in Abrede stellen, daß sich ein viel freieres Spiel der Phantasie in den alten Frisuren, turmartigen und gartenartigen Kopfputzen als in unserer heutigen Haartracht zu äußern vermochte; und daß überhaupt die Tracht des Zeitalters Ludwigs XIV. und XV. in dieser Hinsicht der geschmackvollsten heutigen und vollends antiken Tracht weit voranstand, welche die Phantasie auf den ganz bestimmten Weg der Angemessenheit und Zweckmäßigkeit beschränkte. — Nach Manchen soll das Schöne die Idee und die Gesetze des Organischen nur in reinster Ausprägung darstellen, die Gestalt der Säulen, die ganzen Verhältnisse der Bauwerke, ihre über den dienstbaren Zweck übergreifende Schönheit nur der Erinnerung an die organischen Bauwerke verdanken. Nun ist es aber Gesetz aller höheren organischen Bauwerke, ganz auf einem säulenförmigen Unterbau zu ruhen, und alle organischen Tragsäulen sind oben dicker als unten; warum wollen wir es doch nicht bei den Bencoolen’schen Bauwerken gelten lassen. — Wir finden die Quinten- und Quartenfolgen des Hucbald und Guido von Arezzo und vollends die Musik der Neger und Chinesen abscheulich; aber können wir Verirrungen des Geschmacks darin sehen, da wir es vielmehr sind, die von ihrem durch die Natur selbst angebahnten Geschmacke erst später abgewichen sind. — Uns erscheinen die unfruchtbarsten Gletschergegenden als das Erhabenste, was es gibt, den Alten erschienen sie als das Ödeste, was es gibt. Aber da wir sonst Muster des Geschmacks in den Alten sehen, Winckelmann sogar einen Glaubensartikel daraus gemacht hat, was läßt uns hier eine Ausnahme davon machen. — Kurz kein Prinzip will recht Stich halten, weder das der an sich schönen Formen, noch der Idee, noch der Phantasie, noch der organischen Gestaltung, noch der Naturgemäßheit, noch des Glaubens an die absolute Vortrefflichkeit des antiken Geschmackes. Will man noch mehr Prinzipe, so ließe sich das der Vollkommenheit der sinnlichen Erscheinung, das des interesselosen Gefallens oder der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, und wohl noch andere zur Sprache bringen; doch hat man mit Vorigem wohl schon mehr als genug.

Nun ist freilich die Weise, wie ich alle jene Prinzipe zur Sprache brachte, höchst oberflächlich; und konnte es nicht anders sein, weil ein schärferes und tieferes Eingehen auch ein weiteres Zurückgehen, als hier am Platze war, gefordert haben würde; und so kann es keinem Vertreter irgend eines dieser Prinzips schwer fallen, mich von dieser Oberflächlichkeit zu überführen, und sein Prinzip so zu wenden oder auszulegen, daß die Perücke, die Quarten- und Quintenfolgen, der Bencoolensche Baugeschmack, u. s. w. wirklich danach verwerflich erscheinen, und Alles, was im heutigen Geschmack und insbesondere Geschmack des Vertreters des betreffenden Prinzips ist, wirklich danach schön erscheint; nur daß es leider eben bloß auf eine geschickte Wendung und Auslegung ankommt, um den Geschmack irgend welcher Zeit danach zu rechtfertigen oder zu verwerfen, und die Wendung und Auslegung immer vielmehr nach dem vorhandenen Geschmack als umgekehrt sich richten wird. Wir haben das bei Hogarth gesehen und können es bei den Geschmacksrichtern aller Zeiten sehen.

Ich bin nun auch kein ästhetischer Heiland, diesen Zustand der Dinge zu heben; bin vielmehr selbst der Ansicht, daß sich überhaupt kein Prinzip aufstellen läßt, was uns in den Stand setzt, den Streit des Geschmacks in allen Fällen zu entscheiden aber doch eins, was den Gesichtspunkt, aus welchem der Streit zu führen ist, klar genug bezeichnet, und in nicht zu verwickelten Fällen wirklich, wenn auch nur mit mehr oder weniger Sicherheit, zur Entscheidung führt. Hierauf aber wird erst (Pkt. 4) einzugehen sein, nachdem wir die verschiedenen Bildungsmittel des Geschmackes, worin zugleich die Gründe seiner Verschiedenheit liegen, in Betracht gezogen haben.

Anlage, Bildung des Geschmacks.

Der Geschmack des Menschen ist seiner Anlage nach angeboren, seiner Ausbildung nach geworden, und die Weise dieses Werdens zwar durch die ursprüngliche Anlage mit bestimmt, aber keinesweges allein bestimmt. Kurz gesagt ist der Geschmack das Produkt der ursprünglichen Anlage und erziehender Einflüsse, und nach der Verschiedenheit beider fällt der Geschmack verschieden aus.

Nach angeborener Einrichtung werden alle Menschen in ziemlich übereinstimmender Weise von den einfachsten sinnlichen Anregungen und einfachsten Beziehungen des Sinnlichen affiziert. So ziemlich jedem Kinde behagt ein süßer Geschmack, jedem rohen Volke gefällt Rot unter allen Farben am besten, dem ungebildetsten Auge wird eine symmetrische Figur mehr gefallen als ein unregelmäßiges Gewirr von Zügen. Auf dieser gemeinsamen Grundlage aber findet der Geschmack schon angeborenerweise innere Bedingungen einer verschiedenen Feinheit, Höhe und Richtung der Entwickelung. Die Frau ist durchschnittlich auf einen feinern doch minder hohen Geschmack angelegt als der Mann, der Europäer auf einen feinern wie höhern als der Neger, der Franzose und Italiener auf eine andere Richtung des Geschmackes als der Deutsche und Engländer. Zwar sind auch die erziehenden Einflüsse nach Verschiedenheit des Geschlechtes, der Rasse und Nationalität im Allgemeinen verschieden, haben sich aber, insoweit die Völker sich selbst erziehen, zum Teil selbst erst aus einer verschiedenen angeborenen Anlage herausgebildet, indes in den Einflüssen der Naturumgebung Momente liegen, welche gemeinsam auf die Anlage und die Erziehung Einfluß gewinnen.

So wichtig die angeborene Anlage als Ausgang weiterer Entwicklung ist, so wird doch leicht zu viel darauf gegeben, indem der Geschmack wie das Gewissen gar leicht als etwas dem Menschen von vorn herein fertig Mitgegebenes oder vermittlungslos aus dem Unbewußtsein des Kindes heraus sich Entwickelndes, und ein guter Geschmack nur als eine besonders glückliche Mitgabe angesehen wird. In der Tat aber wird der Geschmack überall erst durch die Erziehung fertig und kann bei gleicher angeborener Anlage nach Verschiedenheit der erziehenden Einflüsse noch in Güte, Höhe, Feinheit, Richtung sehr verschieden ausfallen.

Die Erziehungsmittel des Geschmackes sind schwer unter einen allgemeinen Gesichtspunkt zu bringen, können aber, wie die des Menschen überhaupt, etwa unter folgenden Kategorien betrachtet werden, die sich zwar nicht überall, doch bis zu gewissen Grenzen, auseinanderhalten lassen:

1) Übertragung von Anderen.

2) Eigene Überlegung.

3) Gewöhnung und Abstumpfung.

4) Übung.

5) Assoziation.

Beschränken wir uns in Betrachtung derselben auf Hauptgesichtspunkte, indes die Psychologie tiefer, die Erziehungslehre, Kulturgeschichte, Ethnologie weiter darein einzugehen haben, als hier geschehen wird.

Erstens. Tatsache ist, daß das ausgesprochene Gefallen oder Mißfallen Anderer unser eigenes Gefallen und Mißfallen mit zu bestimmen oder selbst von vorn herein zu bestimmen vermag, um so leichter, je weniger wir schon von anderer Seite her bestimmt sind, und je bestimmendere Kraft dem Anderen auf uns beiwohnt. So geht der Geschmack von den Eltern auf die Kinder über, so lange bis deren eigenes Urteil erstarkt, so steht der Geschmack in Kunstschulen unter dem Einflusse der Lehrer und Genossen; und wenn ein Geschmack in gewisser Beziehung eine ganze Zeit, ein ganzes Volk beherrscht, so wird die Übertragung, mit der Gewöhnung immer den hauptsächlichsten Anteil daran haben.

Die Übertragung kann teils dadurch zu Stande kommen, daß Gründe des Gefallens oder Mißfallens von Anderen geltend gemacht werden, welche nur der Hervorhebung bedürfen, um ihren Erfolg zu haben, kurz durch Belehrung; teils dadurch, daß das Gefallen oder Mißfallen Anderer durch seine Äußerung selbst sich in uns überpflanzt, indem es eine Art geistige Ansteckung bewirkt, welcher die passive oder noch indifferente Natur am leichtesten, namentlich Seitens derer unterliegt, denen sie sonst gewohnt ist, sich unterzuordnen. Der psychologische Grund dieser Übertragung mag noch der Erklärung und Klärung bedürfen; als faktisch ist sie jedenfalls anzuerkennen. Man kann meinen, daß ein ursprünglich eingeborener Nachahmungstrieb sich von Handlungen auf Gefühle erstrecke, und demgemäß die Lust und Unlust, welche Andere beim Anblick von dem und jenem äußern, unsere eigene Lust und Unlust beim Anblick desselben hervorlocke, oder auch in Rücksicht ziehen, ohne daß ich darin den einzigen Grund sehen möchte, daß, wenn man erst weiß, was gefallen soll, und darin hält man sich an die, welche man für klüger hält, so lange man sich selbst nicht klug genug findet, das Gefallen sich leicht aus keinem anderen Grunde einfindet, als daß überhaupt, was sein soll, uns gefällt. Jeder schätzt einen guten Geschmack als einen Vorzug, den er haben sollte, und so erweckt auch das Streben, sich diesen Vorzug anzueignen, eine unwillkürliche Stimmung in dieser Richtung. Übrigens steht einem jeden frei, den Wunsch nach einer gründlicheren Aufklärung zu erfüllen.

Zweitens. Nicht minder als fremde Belehrung kann wiederholte eigene Überlegung uns die wohlgefällige oder mißfällige Bedeutung von Dingen geläufig genug machen, um fortan unmittelbar Gefallen oder Mißfallen daran zu finden. Statt von Anderen darauf eingerichtet zu werden, können wir uns selbst darauf einrichten. So sehen wir den Geschmack des Kunstkenners und philosophischen Ästhetikers häufig vielmehr von ihren Kunstprinzipien aus als umgekehrt bestimmt.

Drittens. Vermöge der sog. Gewöhnung kann der Mensch das, was ihm anfangs mißfiel, nach dauernder oder oft wiederholter Einwirkung sich wie man sagt gefallen lassen oder gar positives Gefallen daran finden, und was ihm anfangs gefiel, ohne daß er es doch zum Wohlbefinden brauchte, endlich dazu fordern und brauchen, aber auch selbst den Wegfall des an sich Gleichgültigen nach eingetretener Gewöhnung daran mit Unlust spüren. Es ist das eine Art innerer Anpassung des Organismus an einen Reiz, die durch die Wirkung des Reizes selbst allmälig hervorgerufen wird.

Es komplizieren sich aber die Gesetze der Gewöhnung mit denen der Abstumpfung, Übersättigung, Überreizung und kommen zum Teil damit in Konflikt. Nach Maßgabe als ein Eindruck stärker ist und öfter wiederkehrt, stumpft sich seine Wirkung ab, und jeder Reiz kann so weit gesteigert und so oft wiederholt werden, daß die Grenzen, innerhalb deren eine Anpassung an ihn in obigem Sinne bestehen kann, überschritten werden. Daher ist die Gewöhnung an Lustreize doch im Allgemeinen nicht mit Steigerung ihrer Lustwirkung verbunden, und gibt sich mehr durch die Unlust bei ihrem Wegfall als die Lust bei ihrer Einwirkung auf das abgestumpfte Gefühl zu erkennen; daher hängt man in gewisser Weise an Gewohnheiten und möchte doch auch wieder aus den Grenzen des Gewohnten heraus neu angeregt sein; daher kann durch zu starke und oft wiederholte Eindrücke auch Überdruß, Übersättigung, Überreizung, Lähmung entstehen. Hieraus gehen sehr mannigfaltige Verhältnisse hervor, die zu verfolgen weit führen würde; es konnte aber hier genügen, an die allgemeinsten Gesichtspunkte, denen sie sich unterordnen, erinnert zu haben.

Nun greifen durch jede Zeit, jedes Land, jeden Stand, jedes Geschlecht und Alter andere Umstände, Verhältnisse dauernd oder in bestimmter Wiederholung durch; und geben dadurch auch zu anderen Richtungen der Gewöhnung und hiermit anderen Bestimmungen des Geschmackes, so weit er von der Gewöhnung abhängt, Anlaß.

Viertens. Daß von den einfachsten sinnlichen Reizen alle Menschen angeborenerweise, wenn nicht in ganz gleicher, doch ziemlich gleicher Weise angesprochen werden, ist oben erinnert worden. Nach Maßgabe aber als der Reiz niederer und gröberer Eindrücke durch wiederholte Beschäftigung damit sich abstumpft, tritt bei Denen, die überhaupt für feinere und höhere Eindrücke empfänglich sind, auch das Bedürfnis einer Beschäftigung mit solchen ein, so daß allmälig immer feinere Bestimmungen und höhere Beziehungen einen Eindruck zu machen anfangen, die anfangs keinen machten, indes zugleich der ästhetische Eindruck der gröberen Bestimmungen und niederen Beziehungen zurücktritt.

So tritt schon für den Weinkenner allmälig der plumpe Geschmack an Spiritus und Süßigkeit zurück und wird er dafür um so empfänglicher für die feineren Bestimmungen des Geschmackes; der Gourmand macht sich nichts mehr aus den Klößen, die unseren öffentlichen Speiseanstalten einen verdoppelten Zudrang verschaffen, und weiß dafür um so besser die richtige Mischung eines Klößchens zu würdigen. So wurde Rumohr ein Richter des kulinarischen Geschmacks. Was aber hier für den sinnlichen Geschmack gilt, gilt ganz entsprechend für den Geschmack in höheren Gebieten. Dadurch hauptsächlich unterscheidet sich der Geschmack des höher Gebildeten und gebildeter Zeiten und Völker vom Geschmack des Kindes, des Bauern, der rohen Zeit und Nation. Das Gefallen am grellen Kontrast, am grellen Rot, am buntgemalten Bilderbogen, der bunten Puppe tritt mit wachsender Bildung zurück, und feinere und höhere Beziehungen, die den unentwickelten Geschmack gar nicht berühren, fangen an, den Haupteindruck zu bestimmen. Endlich verlangt der Gebildete von jedem Werke, das ihm gefallen soll, daß sich alle Beziehungen desselben in einer höchsten Beziehung, einer Idee verknüpfen, die das Kind, der Wilde gar nicht aufzufassen vermag.

Wie in der bildenden Kunst, so in der Musik. Dem Ohre der rohesten Völker gefällt am besten die rauschendste, im einfachsten Wechsel sich bewegende Musik, die ihren Sinn am stärksten affiziert; dem Kinde, das vom Jahrmarkt kommt, gefällt das Geschmetter seiner kleinen Trompete besser, als eine Beethovensche Sonate; aber auch den Musikverständigen vergangener Zeiten gefielen noch einfachere melodische und harmonische, das Wohlgefallen so zu sagen auf dem Teller präsentierende, Gänge besser als solche, welche ein höheres Wohlgefallen aus weiter sich verzweigenden und damit höher sich steigernden Beziehungen und der Auflösung entschiedener Disharmonien schöpfen lassen. Nach Maßgabe aber, als diese zu gefallen anfangen, hören jene einfachen Tongänge auf zu befriedigen, erscheinen unbedeutend, langweilig, beschäftigen nicht mehr und gefallen darum nicht mehr. Wenn früher Oktaven-, Quinten-, Quartenfolgen wohlgefällig erschienen, Terzen- und Sextenfolgen vermieden wurden, so läßt sich das wohl daraus erklären, daß Oktaven, Quinten, Quarten die einfachst möglichen, an sich faßlichsten Tonverhältnisse sind, welche für sich am meisten konsonieren. So lange man nun noch nicht so geübt in Auffassung musikalischer Beziehungen war, als jetzt, brachte auch die Vervielfältigung des wohlgefälligen Eindruckes der einzelnen Konsonanz eine Steigerung des Effekts hervor, welche noch nicht so wie jetzt durch ein Mißfallen an der monotonen Wiederkehr derselben überwogen wurde. Kurz die Wiederholung des Wohlgefälligen überwog noch das Mißfällige der Wiederholung.

Fünftens. Nach Verschiedenheit der Umstände, unter denen die Menschen leben, und der verschiedenen Zeiten, in denen sie leben, assoziiert die Erfahrung für sie Verschiedenes an Dasselbe, oder Dasselbe an Verschiedenes, wodurch den Einen etwas unter wohlgefälligen, den Andern unter mißfälligen Beziehungen erscheinen kann. Gewöhnung und Übung gehen damit meist Hand in Hand oder nehmen ihren Ausgang davon.

Die Mode gibt hierzu die augenfälligsten Belege. Rufen wir uns das Beispiel der Perücke zurück. Wie kam doch der Geschmack vergangener Zeilen daran zu Stande? Der Eindruck, den sie durch ihre bloße Form und Farbe macht, will so viel als gar nichts sagen, und wie hätte man sich daran gewöhnen sollen, ohne einen Anlaß zur Gewöhnung. Man sagt: die Perücke wurde erfunden, um die Kahlköpfigkeit eines Königs zu decken. Hätte statt eines Königs ein Bauer seinen Kahlkopf damit bedeckt, nimmer würde sie Mode geworden sein; nun aber assoziierte sich an die Perücke etwas Königliches; und sei es auch, daß die Umgebung des Königs anfangs bloß aus Schmeichelei ihn nachahmte, so fing doch von da an sich der Eindruck der Vornehmheit, der Würde, des Reichtums ihrer Träger an ihren Anblick zu knüpfen und vom Kreise der Hofleute aus immer weiter darüber hinaus zu strahlen. Anfangs hatten die Perücken nur die bescheidene Größe, die ihnen ihr erster Zweck verlieh, und wuchsen dann als äußeres Zeichen für Größe, Würde, wie ein Keim, wenn er einmal eine gewisse Richtung genommen hat, dann bis zu gewissen Grenzen immer weiter wächst; damit wuchs zugleich ihr ästhetischer Eindruck. Und wir sahen daß dieser Eindruck sich beim Kinde sogar bis zum Eindruck des Göttlichen steigerte. An sich hat doch die Perücke nichts Göttliches; sie konnte diesen Eindruck nur der Assoziation verdanken. Hiernach trugen Gewöhnung und Übertragung bei, ihr denselben zu sichern, aber hätten ihn ohne Assoziation von vorn herein nicht hervorrufen können. Und so kann man vielleicht überhaupt sagen, daß die meisten Wandlungen des Geschmacks schließlich von Ursachen abhängen, die gar nicht in das Gebiet des Geschmackes gehören, durch Vermittelung der Assoziation aber in dasselbe eintreten und sich durch Gewöhnung und Übertragung festigen und fortpflanzen.

In ähnlicher Weise hat sich hei den Chinesen der Eindruck der Vornehmheit, des Reichtums, der Würde ihrer Träger an die Klumpfüße ihrer Damen, die dicken Bäuche und langen Nägel ihrer Mandarinen geknüpft. Dem Chinesen ist diese Assoziation so geläufig geworden, daß er die Ehrerbietung, die er Vornehmen zollt, zum Teil nach der Dicke ihres Bauches abmißt und sogar seine Götzen mit einem dicken Bauche bildet; kurz der dicke Bauch ist ihm eine Idealform geworden, in deren Anschauen ihn ein Gefühl von Macht und Größe, ja wohl, wenn der Bauch irdische Grenzen überschreitet, ein Gefühl von göttlicher Erhabenheit überkommt. Die Schlankheit des Apoll von Belvedere würde ihm nur Dürftigkeit erscheinen; ganz unwillkürlich würde sie ihm die Vorstellung erwecken, er sehe jemand von niederer Klasse vor sich, der nicht Reichtum, Macht und Rang genug habe, um sich gemächlich zur Ruhe zu setzen und seines Bauches zu pflegen; er würde nur etwa einen Menschen darin finden können, der eifrig seinem Erwerbe nachläuft, weil der Chinese selbst aus anderen Gründen nicht zu laufen pflegt.

So sehr der Geschmack des Einzelnen im Allgemeinen durch Übertragung vom herrschenden Geschmack beeinflußt wird, kommt es doch oft genug vor, daß Solche, die dem Kunstleben ferner stehen, durch davon abseits liegende Anlässe der Assoziation, denen sie im Leben unterliegen, mit dem herrschenden Kunstgeschmack in vollen Wiederspruch treten. Mag uns in folgender Einschaltung die Dresdener sixtinische Madonna, dieses schönste Bild der Welt, ein paar Beispiele dazu liefern.

Ein Militär äußerte nach einem Besuche der Dresdener Gallerie, ihm habe die Madonna doch nur den Eindruck einer besoffenen Bauermagd gemacht. Natürlich, er hatte bisher nur Bauermägde barfuß und in bloßem Kopfe gehen sehen, und wahrscheinlich den Ausdruck eines Erhabenseins über das Irdische nur als Folge des Besoffenseins gesehen. — Vor demselben Bilde wurde der, durch populär-medizinische Schriften bekannte, Dr. B. gefragt, wie ihm das Bild scheine. Das Kind fixierend sagte er: "Erweiterte Pupillen! hat Würmer, muß Pillen nehmen." Seine Lebensgewohnheit ließ ihn eben in dem Christkinde nur ein wurmkrankes Kind sehen. — Einen anderen mir bekannten Arzt hörte ich von den beiden Engeln am unteren Rahmenrande sagen: wenn seine Kinder sich so flegelhaft auflehnten, so würde er sie mit den Armen auf den Tisch aufstoßen; und eine kleine Engländerin äußerte von denselben Engeln, sie müßten wohl keine governess gehabt haben.

Prinzipien des guten oder richtigen Geschmacks.

Unstreitig lassen sich für die Entstehung jedes Geschmackes Erklärungsgründe unter den vorigen Kategorien finden, natürlich aber reicht es nicht hin, seine Entstehung erklärt zu haben, um ihn damit auch gerechtfertigt zu haben, wenn wir nicht alles Entstandene und hiermit jeden Geschmack für zu Recht bestehend erklären wollen; denn alles Entstandene hat Gründe der Entstehung. Und was ist es nun endlich, was uns den einen Geschmack billigen, den andern verwerfen lassen, überhaupt einen besseren von einem schlechteren unterscheiden lassen kann ?

Im Grunde ist der Gesichtspunkt davon sehr einfach, fast selbstverständlich; nur die Anwendung meist zu schwierig. Der Maßstab der Güte eines Geschmackes ist eben nur der allgemeine Maßstab der Güte, d. h. es handelt sich dabei nicht bloß darum, ob etwas unmittelbar gefällt oder mißfällt, Lust oder Unlust in der Gegenwart gibt, das ist die Tatsache des Geschmackes, sondern ob es gut ist, daß es gefällt oder mißfällt, d. h. ob das Wohl, das Glück, im höhern Sinne das Heil der Menschheit im Ganzen vielmehr durch solche Weise des Gefallens oder Mißfallens gewinnt als verliert, denn danach beurteilt sich die Güte, der Wert der Dinge. Nun trägt freilich zum gegenwärtigen Wohlbefinden jedes Gefallen überhaupt bei, und hat das bei Beurteilung des Geschmackes mit zu wiegen, weil die Gegenwart mit den Folgen zugleich im Maße der Güte zu wiegen hat; aber wie oft wird die gegenwärtige oder selbstische Lust von nachteiligen Folgen im Ganzen überwogen oder tritt in schlimmem Zusammenhange auf; also gilt es bei Beurteilung des Geschmackes auch auf die Folgen und Zusammenhänge seines Daseins und seiner Bildung Rücksicht zu nehmen, kurz gesagt, überall zu fragen, ob etwas Gutes bei dem und jenem Geschmack herauskommt.

Wer stumpf gegen Lustquellen, die in der Natur und Kunst liegen, bleibt, oder von dem, was mehr Lust zu geben vermag, doch weniger Lust empfängt, bringt bei Gleichsetzung der Folgen und Zusammenhänge eine Lustlücke oder einen Lustverlust in die Welt. Das ist ein Fehler seines Geschmackes. Aber das kehrt sich bei Rücksicht auf die Folgen und Zusammenhänge oft um. Was dem Menschen gefällt, sucht er zu besitzen, zu erzeugen, nachzuschauen, und wie er gesinnt ist, sucht er Andere gesinnt zu machen. Das Gefallen an manchen Dingen ist überhaupt nur mit einer wertvolleren gedeihlicheren Einrichtung, Bildung, Stimmung des Geistes möglich, als mit anderen, und kann zu einer wertvolleren oder minder wertvollen Einrichtung der Außenwelt führen. Was überhaupt der Verstand durch Überlegung als das Zweckmäßigste, das Beste im Ganzen erkennt, soll dem Gefühl unmittelbar so erscheinen und demgemäße Antriebe und Stimmungen wecken.

Sei es nun ein Gegenstand der Mode, Kunst oder Natur, er wird sich immer aus dem Gesichtspunkte betrachten lassen, ob das Gefallen daran in vorigen Beziehungen gut oder nicht gut ist, und, insofern wir uns darüber zu entscheiden vermögen, wird sich der Geschmack danach billigen oder verwerfen, der eine Geschmack dem anderen vorziehen oder nachsetzen lassen.

In unzähligen Fällen nun werden wir eine solche Abwägung zu schwierig finden, um ein entscheidendes Resultat zu geben. Dann leistet uns das Prinzip nichts weiter, als daß es uns weise genug macht, uns des Urteiles zu bescheiden. Und diese Weisheit und Bescheidenheit ist in unser Gefühl selbst übergegangen, wenn es so oft nicht wagt sich zu entscheiden, wir nicht sagen können, ob uns etwas gefällt oder nicht gefällt, indes wir doch wissen oder fühlen, daß es ein Gegenstand des Gefallens oder Mißfallens ist. Aber in manchen Fällen ist doch auch das Urteil nach dem Maßprinzipe der Güte leicht, wenigstens mit relativer Sicherheit, zu fällen, und jedenfalls ist jede Abwägung danach vorzunehmen, jeder Streit auf dieser Grundlage zu führen, falls man streiten will.

Wenn den Chinesen an ihren Damen verkrüppelte Füße, an ihren Würdenträgern und Götzen dicke Bäuche gefallen, so möchte man immerhin in Zweifel sein, ob dieser Geschmack nicht unmittelbar eben so lustgebend für sie als für uns der gegenteilige ist; doch wird ihr Geschmack schlechter als unserer und überhaupt schlecht zu nennen sein, weil ein Geschmack, der am Ungesunden, Nachteiligen Wohlgefallen finden läßt, die Vorstellung der Würde und Erhabenheit an sinnliche Fülle und Schwere knüpfen läßt, zu keinen guten Folgen führt und mit keinem guten Sinne zusammenhängt. Um so mehr sind alle unsittlichen Darstellungen von schlechtem Geschmack. Sie mögen dem und jenem gefallen, ja unmittelbar so viel Lust gewähren, als dem Sittlichen sittlichere Darstellungen; aber es ist nicht gut, daß sie ihm gefallen, und eben darum nennen wir seinen Geschmack einen schlechten. Der Mensch soll seinen Geschmack nicht so bilden, daß daraus Nachteile für die gesunde und zweckmäßige Führung seines Lebens und vollends für die Moralität daraus hervorgehen, und er kann ihn so bilden, daß es nicht der Fall ist. Und nicht nur ist jeder Geschmack zu verwerfen, der eine solche Schuld auf sich ladet, sondern auch jeder, der nur durch eine solche Schuld möglich wird, weil es nicht der Fall sein kann, ohne daß er sie verstärkt.

Mit allem Unsittlichen, Ungesunden ist alles Unpassende, Unechte, innerlich Unwahre vom guten Geschmacke zu verwerfen, und zwar aus dem doppelten Gesichtspunkte, daß es nicht gut für den Geist ist, Gefallen am Widerspruchsvollen der Art zu finden, und nicht gut für die Welt, sich Solches gefallen zu lassen; denn über Kurz oder Lang, wenn nicht im einzelnen Fälle aber in der allgemeinen Ordnung der sittlichen und intellektuellen Welt setzt sich die Unwahrheit, der innere Widerspruch in Nachteile für das innere oder äußere Wohl des Menschen um.

In allen solchen Fällen erscheint die Entscheidung über den Vorzug des Geschmackes leicht; so leicht aber ist sie nicht immer. Sollte ich z. B. entscheiden, ob die Perücke oder unser heutiger steifer Hut, ob der Zopf am Kopfe im vorigen Jahrhundert oder die zwei Zöpfe am Frack des jetzigen Jahrhunderts geschmackvoller oder geschmackloser waren, so würde ich es nicht wagen. Um wie viel zusammengesetzter und schwieriger abzuwägende Rücksichten aber kommen im Allgemeinen in Frage, wenn es gilt, in höheren Gebieten des Geschmackes zu entscheiden, welche Weise des Empfindens die wertvollste im Ganzen ist. Nicht, daß uns das Prinzip in diesen höheren Gebieten überhaupt im Stiche lasse, wir werden noch viel Maßgebendes daraus schöpfen können; aber ein Hauptvorteil des Prinzips wird doch immer der sein, uns Bescheidenheit des Urteiles zu lehren.

Überhaupt in allen den unzähligen Fällen, wo sich Konflikte zwischen verschiedenen ästhetischen Rücksichten geltend machen, wird es zwar leicht und einfach sein, extreme Einseitigkeiten und eine Bevorzugung sichtlich untergeordneter Rücksichten vor übergeordneten als wider den guten Geschmack zu verwerfen; aber es wird nicht nur unmöglich sein, den Punkt der besten Abwägung dazwischen genau festzustellen, sondern auch nötig, eine gewisse Breite oder Freiheit darin als noch mit einem guten Geschmacke verträglich zuzulassen, ohne die Grenzen dieser Freiheit genau bestimmen zu können. Hierüber wird stets Streit ohne sichere Entscheidung möglich, und Vorsicht, sein subjektives Gefühl nicht für allgemein maßgebend zu halten, nützlich sein.

Eine solche Vorsicht aber wird zur ästhetischen Pflicht durch die Betrachtung, einerseits, daß eines Jeden Geschmack sich doch nur unter bestimmten zeitlichen und örtlichen Verhältnissen hat bilden können, und nach deren Besonderheit besondern Übertragungsverhältnissen unterlegen hat, andererseits daß auch zu verschiedenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen wirklich Verschiedenes paßt, und hiernach Verschiedenes im Sinne eines richtigen Geschmackes sein kann. Lassen wir ein früher angeführtes Beispiel in diesem Sinne sprechen.

So wunderlich und absurd uns der Bencoolensche Baugeschmack erscheinen mag, so läßt sich doch seine Entstehung nach dem Assoziationsprinzip eben sowohl erklären, als nach unserem Prinzip der Beurteilung des Geschmackes durch seine Güte rechtfertigen, und zwar ist in diesem Falle mit der Erklärung die Rechtfertigung fast von selbst gegeben.

Die Weise, wie man in Bencoolen baut, ist nämlich, wie sofort zu zeigen, für die Verhältnisse Bencoolens die zweckmäßigste, hiermit beste. Das Gefühl für diese Zweckmäßigkeit hat sich bei den Einwohnern Bencoolens an den Anblick ihrer Bauwerke assoziiert, durch Gewöhnung und Übertragung befestigt, und trägt damit eben so viel bei, sie ihnen schön erscheinen zu lassen, als bei uns die Zweckmäßigkeit durch Assoziation dazu beiträgt. Wollten sie so bauen, wie wir, so wäre das eben so absurd, und ihr Geschmack, der sich darauf eingerichtet hat, eben so absurd zu nennen, als wenn wir bauen wollten, wie sie. Jeder Geschmack muß sich darauf einrichten, das, was zu Zwecken bestimmt ist, auch nur wohlgefällig finden zu lassen, wenn es solche erfüllt.

Was zuerst die Erhebung der Häuser über den Erdboden anbelangt, so wird sie in Bencoolen durch mehr Zweckmotive gerechtfertigt, als wir für die meisten Einrichtungen unserer Häuser aufweisen können. Zuvörderst bringt für das heiße Klima Bencoolens diese Einrichtung den Vorteil hervor, daß man, wenn man unter den Häusern fortgeht, sich stets im Schatten befindet, was in anderen Städten heißer Klimata mit größerer Unbequemlichkeit für den Verkehr durch eine große Enge der Straßen erzielt werden muß. Da ferner die meisten Wohnorte des Landes an Flüssen oder Seen liegen, welche öfters austreten, so werden die Häuser durch ihre Erhebung gegen die Nachteile von Überschwemmungen geschützt. Endlich sind sie dadurch auch um so gesicherter gegen die Anfälle wilder Tiere, von denen namentlich die Tiger dort so häufig sein sollen, daß, wie ich mich erinnere gelesen zu haben, man es in Bencoolen fast für das natürliche Lebensende ansieht, von einem Tiger gefressen zu werden. Was uns also als abgeschmackter Einfall mißfallen müßte, wenn es bei uns ausgeführt würde, weil es keinem Zweck entspräche, mithin keine lustvolle Assoziation begründete, und selbst in Bencoolen noch mißfallen muß, wenn wir nicht in Bencoolen erzogen sind, wird für die Einwohner Bencoolens selbst eine ganz andere Bedeutung erhalten. Ihnen sind die Häuser zugleich Sonnenschirme, wozu die Stützen die Stecken bilden, und nicht bloß Wohnorte auf der Erde, sondern zugleich Zufluchtsorte, wodurch sie über Unheil, was sie von der Erde aus bedroht, hinweggehoben werden; und was beiträgt, diese Zwecke am Hause zu erfüllen, trägt auch bei, sie mit Wohlgefallen daran zu erfüllen und hat Recht dazu beizutragen.

Eben so wie die Erhebung der Häuser durch Stützen hat sich aber auch die Form der letzteren ganz einfach als die selbst einfachste Weise, natürliche Zweck Verhältnisse zu erfüllen, ergeben, und die griechische Säule ist in dieser Beziehung nicht gerechtfertigter als die Bencoolensche Stütze. In Bencoolen sind Erdbeben sehr häufig, der Steinbau daher überhaupt unmöglich; die Häuser sind leichte Holzhäuser; und es handelte sich also, um es kurz zu bezeichnen, bei den dortigen Bauten nicht darum, schwere Massen auf die Erde zu gründen, sondern leichte Massen in die Erde festzustecken, etwa wie man einen leichten Gegenstand an einem feststehenden mit Nadeln feststeckt, damit er durch die Erschütterung nicht abgeworfen werde. Die Nadeln werden nun hier durch Pfähle vertreten, die man in die Erde einrammt; Pfähle aber können ihrer Natur nach nur unten dünner als oben sein.

Was wir nun hier bei Beurteilung des Bencoolenschen Baugeschmacks getan, sollten wir eigentlich überall tun, wo es ein Urteil über den Geschmack fremder Zeiten und Nationen gilt, uns in die Verhältnisse von Zeit und Ort versetzen, und zusehen, ob der Geschmack, der für unsere Verhältnisse nicht gerechtfertigt. erscheinen mag, es nicht doch für die Verhältnisse der anderen Zeit, des anderen Ortes ist.

Es kann aber ein Geschmack, der für bestehende Verhältnisse gerechtfertigt ist, insofern als er das diesen Verhältnissen Angemessenste fordert, doch höhern Geschmacksforderungen insofern widersprechen, als diese Verhältnisse selbst nicht gerechtfertigt sind, und ein oft schwer zu entscheidender Konflikt statt finden, wiefern die näheren und hierdurch dringenderen oder die höheren allgemeineren Forderungen des Geschmackes zu befriedigen sind.

Jedenfalls bleibt über allen, nach Zeit, Ort und besonderen Umständen wechselnden, Forderungen die oberste Forderung des guten Geschmackes in Kraft, nichts zuzulassen, was den allgemeinsten Prinzipien des menschlichen Gedeihens widerspricht, hiermit nichts, was der körperlichen und geistigen Gesundheit, der Religiosität, Sittlichkeit, logischen Widerspruchslosigkeit widerspricht. Und hiernach kann es der Fall sein, daß der Geschmack ganzer Zeiten oder Nationen nach dieser oder jener Hinsicht für schlecht zu erklären ist; und die Allgemeinheit eines Geschmackes in einer Zeit oder Nation verbürgt noch nicht seine Güte.

Man kann dies z. B. vom Geschmacke der Orientalen am Bilderschwulst in der Poesie sagen. Unstreitig bedürfte es nur anderer erziehender Einflüsse, um das, was in dieser Beziehung bei ihnen Maß und Sinn überwuchert, reich und doch schön wachsen zu lassen.

Weiter aber kann es auch der Fall sein, daß nicht nur die Verhältnisse, unter denen ein Volk lebt, berechtigte sind, sondern auch der Geschmack für diese Verhältnisse ein ganz berechtigter ist, ja nicht besser dafür sein könnte; und daß doch der Geschmack dieses Volkes aus gewissem Gesichtspunkte niedriger zu schätzen ist als der Geschmack eines anderen Volkes, sei es, daß er weniger die Möglichkeit gewährt, das ästhetische Gefühl unmittelbar zu befriedigen, sei es, daß die gleichberechtigten Verhältnisse, denen sich der Geschmack beiderseits anpaßt, doch nicht gleich wertvoll sind; jeder Geschmack aber ist nur im Zusammenhange mit den Verhältnissen, unter denen er besteht, zu beurteilen.

So wird sich zwar den Einwohnern Bencoolens die Berechtigung, in Bencoolen zu leben und ihren Baugeschmack den Verhältnissen Bencoolens anzupassen, so wenig bestreiten lassen, als den Griechen in Griechenland zu leben und nach den Verhältnissen ihres Landes einzurichten; es läßt sich aber doch denken, daß der griechische Baugeschmack nicht nur eine größere Möglichkeit als der Bencoolensche gewährt, das ästhetische Gefühl unmittelbar zu befriedigen, sondern auch in Verhältnissen wurzelt und sich wechselseitig damit trägt und hält, welche eine gedeihlichere Entwickelung und Führung des Lebens überhaupt gestatten. Dann wird er bei nicht größerer Berechtigung doch höher zu schätzen sein. Um so mehr wird das im Verhältnis zum Baugeschmack des Feuerländers und Grönländers gelten müssen.

Daß Güte des Geschmackes nicht notwendig mit Feinheit und Höhe des Geschmackes zusammentrifft, ward schon früher im Allgemeinen bemerkt. Leicht nämlich kann es geschehen, daß das Gefallen an feineren Bestimmungen und höheren Beziehungen, sofern es sich überall nur auf Kosten des Gefallens an minder feinen und hohen entwickeln kann, größere Kosten in dieser Hinsicht macht, als es einträgt, dazu den Menschen in mißstimmende Verhältnisse zu den für ihn nicht hoch genug geschraubten und fein genug gefaserten Menschen und Dingen, mit denen er zu verkehren hat, setzt. Dann hat man das, was man als Überfeinerung, Überbildung des Geschmackes vielmehr tadelt als lobt.

Hiergegen wird man den Geschmack eines Kindes, was größeres Gefallen an seinem bunten Bilderbogen als einem Raphaelschen Gemälde findet, folgerechterweise vielmehr einen Geschmack von niedrer Stufe als einen schlechten Geschmack zu nennen haben, obwohl der Sprachgebrauch diese Folgerichtigkeit nicht immer einhält. Würde es doch nicht frommen, wenn dem Kinde umgekehrt das Raphaelsche Bild besser als sein Bilderbogen gefiele, weil mit solcher vorzeitigen Entwickelung sich keine gedeihliche Entwickelung vertrüge; man würde hier einen für die Kindesstufe überbildeten Geschmack zu sehen haben. Nur für einen Erwachsenen, der Anspruch macht, auf der Höhe der Bildung seiner Zeit und Nation zu stehen, würde der kindische Geschmack als ein schlechter anzusehen sein, indem natürlich zur Güte des Geschmacks bei Jemand, der nach Alter, Stand und Nationalität einer höheren und feineren Bildungsstufe angehört, auch gehört, daß sein Geschmack in Höhe und Feinheit damit zusammenstimme. Hier wächst in der Tat die Güte des Geschmackes bis zu gewissen Grenzen mit seiner Höhe und Feinheit, indes sie doch darüber hinaus durch Überbildung und Überfeinerung des Geschmackes wieder abnehmen kann.

Den Geschmack in objektivem Sinne (s. o. Pkt. 1) verstanden, läßt ein in einer gewissen Zeit, einer gewissen Ausdehnung herrschender Geschmack sich bis zu gewissen Grenzen schon dadurch rechtfertigen, daß er ein anderer ist, als der in der eben vergangenen Zeit oder dem nachbarlichen Raume herrschende Geschmack. Denn der Mensch bedarf, um nicht gegen gegebene Quellen der Wohlgefälligkeit abgestumpft zu werden, des Wechsels derselben; und möchte man also auch den antiken Geschmack in bildender Kunst, Architektur, Kunstindustrie allgemein gesprochen jedem anderen vorziehen, so müßte man doch zeitliche und örtliche Abweichungen von demselben gestatten, die, obwohl bei Gleichsetzung alles Übrigen minder vorteilhaft, doch eben nur durch den Wechsel mit dem antiken zeitlich und örtlich vorteilhafter würden. Indessen bedarf die Anwendung dieses Prinzips großer Vorsicht und wird durch ein gegenwirkendes Prinzip beschränkt.

Im Allgemeinen wechseln die Verhältnisse, mit welchen der Geschmack in Beziehung zu treten hat, schon von selbst so sehr nach Zeit und Ort, daß hiermit auch von selbst Abänderungen in den Forderungen des Geschmackes eintreten, welche dem Bedürfnis des Wechsels entsprechen, ohne dasselbe unabhängig davon zu berücksichtigen. Also wird das Bedürfnis des Wechsels nur insofern maßgebend sein können, als die übrigen Umstände, welche die Forderungen des Geschmackes bestimmen, die Wahl zwischen Forterhaltung und Wechsel freilassen, oder Vorteile, welche verschiedene Geschmacksrichtungen nach verschiedenen Seiten darbieten, im Wechsel zur Geltung gebracht werden sollen. So hat der Baugeschmack im Spitzbogenstil und im Rundbogenstil jeder seine Vorteile und Vorzüge; man wird beiden gerecht und erfüllt damit zugleich das Bedürfnis des Wechsels, indem man nicht einen von beiden einseitig bevorzugt. So wird selbst der chinesische Baugeschmack seine Stelle finden können. Durch kein Bedürfnis des Wechsels aber könnte auch nur zeitlich oder örtlich ein Baustil gerechtfertigt werden, der den Bedingungen der Haltbarkeit und überhaupt Zweckmäßigkeit widerspricht.

Liegt nun schon eine sehr allgemeine Beschränkung des vorigen Prinzips darin, daß überhaupt nicht vom Guten zum Schlechten gewechselt werden soll, so beschränkt sich dasselbe noch spezieller und direkter durch folgendes, ihm geradezu entgegengesetzt lautendes, doch nur scheinbar widersprechendes, Prinzip: ein, in einer gewissen Zeit oder Ausdehnung herrschender Geschmack kann sich bis zu gewissen Grenzen schon dadurch rechtfertigen, daß er mit dem Geschmacke der eben vergangenen Zeit oder im benachbarten Raume übereinstimmt. Aber wie verträgt sich dies Prinzip mit dem vorigen? Erstens macht sich nach der subjektiven Einrichtung des Menschen das Bedürfnis des Wechsels von Eindrücken, die nicht unmittelbar mißbehaglich sind, erst geltend, wenn ein gewisses Maß der Forterhaltung überschritten ist; zweitens aber erhalten sich auch immer objektiv durch benachbarte Zeiten und Räume gewisse Bedingungen fort, wodurch gemeinsame Forderungen an den Geschmack gestellt werden.

Wie sich nun beide Prinzipe in jedem besondern Falle gegen einander abzuwägen haben, kommt auf die subjektiven und objektiven Bedingungen des Falles an, und es kann im Sinne unseres allgemeinsten Prinzips nur die Regel gegeben werden, dem Konflikt beider Prinzipe dadurch Rechnung zu tragen, daß die Vorteile sowohl der Forterhaltung als des Wechsels möglichst ausgenutzt, also von einem zum anderen nur nach Maßgabe des eintretenden Übergewichts fortgeschritten werde.

Nach Allem also gibt es über alle, früher (s. o. Pkt. 2) flüchtig berührten, Prinzipe der Beurteilung der Güte des Geschmackes hinaus ein einziges, an sich völlig und überall durchschlagendes, in dem alle jene Prinzipe zusammentreffen, so weit sie triftig sind, und was ihren Konflikt entscheidet, so weit sie nicht zusammentreffen; alle aber sind doch bis zu gewissen Grenzen triftig, und treffen doch nicht überall zusammen. Nur daß es den Nachteil so vieler an sich triftigen Prinzipe teilt, daß es leichter aufzustellen als anzuwenden ist, weil es eine Abwägung fordert, zu der uns die genaue Kenntnis der Gewichte fehlt. Dies Prinzip hängt mit der Grundbeziehung des Schönen zum Guten zusammen, (vergl. Abschn. II Pkt. 2), und lautet kurz, im Grunde selbstverständlich, und darum scheinbar trivial:

Der beste Geschmack ist der, bei dem im Ganzen das Beste für die Menschheit herauskommt; das Bessere für die Menschheit aber ist, was mehr im Sinne ihres Zeitlichen und voraussetzlich ewigen Wohles ist.