04 Prinzip der ästhetischen Schwelle

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IV. Prinzip der ästhetischen Schwelle.

Es gibt Vieles, was uns gleichgültig läßt, indes es doch seiner und unserer Natur nach wohl geeignet wäre, Gefallen oder Mißfallen zu wecken, andermal auch wirklich erweckt. Das hängt allgemeingesprochen daran, daß sei es die Stärke der objektiven Einwirkung oder der Grad unserer Empfänglichkeit dafür oder unserer Aufmerksamkeit darauf nicht die sogenannte Schwelle übersteigt, das heißt den Grad, von dem an die Einwirkung erst für unser Bewußtsein spürbar wird. Es ist nämlich ein allgemeines, nicht bloß für Empfindung von Lust und Unlust, aber auch für sie gültiges Gesetz, daß zum Bewußtwerden derselben ein gewisser Grad dessen gehört, woran sie äußerlich und innerlich hängt; die Qualität der Bedingung reicht nicht aus, sie muß sich durch die erforderliche Quantität, den erforderlichen Grad, ergänzen. Solange nun dieser Grad nicht erreicht ist, sagen wir von den Bedingungen der Lust und Unlust wie von diesen selbst und dem davon abhängigen Gefallen und Mißfallen, daß sie unter der Schwelle bleiben.

In der Tat so gewiß wir sein können, daß unzählige üble Gerüche in der Luft schweben, wegen ihrer Verdünnung riechen wir in der Regel nichts davon. Die schlechtest schmeckende Medizin schmeckt uns doch nicht schlecht in homöopathischer Verdünnung. Für Vieles, was uns bei frischer Empfänglichkeit Lust gab, stumpft sich die Empfänglichkeit ab, ohne deshalb zu erlöschen, der Lustreiz muß nur verstärkt werden, um wieder Lust zu geben; und wie Vieles trifft zwar unseren Sinn aber zu wenig unsere Aufmerksamkeit und bleibt uns deshalb gleichgültig.

Je nach Rücksicht auf die äußeren oder inneren Bedingungen des Gefallens oder Mißfallens kann man von einer äußern oder innern Schwelle sprechen, welche überstiegen werden muß, soll Gefallen oder Mißfallen mit einem wirklichen Lust- oder Unlustwerte ins Bewußtsein treten. Beide Schwellen aber sind nicht unabhängig von einander. Für jeden bestimmten Grad der Empfänglichkeit und Aufmerksamkeit wird es einen bestimmten Grad der äußeren Einwirkung geben, der dazu überstiegen werden muß, hiermit eine zugehörige bestimmte äußere Schwelle; aber wie sich jene inneren Bedingungen ändern, wird eine größere oder geringere äußere Einwirkung dazu nötig werden, mithin die äußere Schwelle steigen oder fallen, und so umgekehrt mit der inneren Schwelle bei Wechsel des Grades der äußeren Einwirkung. Soll nun überhaupt die Schwelle einer Empfindung überschritten sein, so muß es stets die innere und äußere zugleich sein; es kann aber mehr durch Steigerung der Bedingungen von Innen oder Außen geschehen.

Von Bedingungen, welche überhaupt durch Übersteigen einer Schwelle Lust oder Unlust zu wecken vermögen, sagen wir im Allgemeinen, daß sie im Sinne der Lust oder Unlust sind, ohne daß sie deshalb solche wirklich wecken, so lange sie unter der Schwelle sind.

Wenn schon Lust- oder Unlustbedingungen unter der Schwelle nach dem Begriffe der Schwelle unzureichend sind, Lust oder Unlust spürbar werden zu lassen, ist es doch nicht dasselbe, als wenn sie überhaupt fehlten, sondern auch ihr unzureichendes Vorhandensein kann aus einem der folgenden zwei Gesichtspunkte wichtig werden.

Erstens. Je näher der Schwelle die inneren oder äußeren Bedingungen der Lust oder Unlust sind, eines desto geringeren Zuwachses ihres Grades, ihrer Stärke wird es noch bedürfen, sie die Schwelle übersteigen zu lassen, desto günstiger liegen also die Verhältnisse für die wirkliche Entstehung der Lust oder Unlust.

Zweitens. Eine Bedingung der Lust oder Unlust, die für sich unter der Schwelle ist oder sein würde, wenn sie für sich bliebe, kann in Zusammensetzung mit anders gearteten Bedingungen der Lust oder Unlust, die ihrerseits für sich unter der Schwelle sein würden, ein Lust- oder Unlustresultat geben, was die Schwelle übersteigt, wovon das, sofort zu betrachtende Prinzip der ästhetischen Hilfe mit abhängt.