03 Ästhetische Gesetze und Prinzipien

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III. Ästhetische Gesetze oder Prinzipe im Allgemeinen.

Im Interesse einheitlichen Charakters der ganzen Ästhetik wäre zu wünschen, daß sich alle Gesetze des Gefallens und Mißfallens, wovon darin zu sprechen, als besondere Fälle eines allgemeinsten Gesetzes darstellen ließen. Mag es aber ein solches an sich geben, so liegt es doch bis jetzt noch eben so für uns im Dunkel, als ein allgemeinster und letzter Grund aller Lust und Unlust, mit dem es natürlicherweise zusammenhängt. Zwar hat man wohl das allbekannte Prinzip einheitlicher Verknüpfung des Mannigfaltigen, was nichts hindert als Gesetz zu formulieren, an die Spitze der ganzen Ästhetik gestellt; und gewiß ist es eins der wichtigsten Prinzipe; wir wollen später davon sprechen; aber ich wüßte doch mit ihm allein nicht auszukommen. Wie ließe sich z. B. aus ihm erklären, daß das Gefallen, was wir an der Auflösung einer Dissonanz durch eine Konsonanz haben, nicht dasselbe bleibt, wenn wir die Folge der Akkorde umkehren; daß wir uns an Garstiges gewöhnen und das Schönste überdrüssig werden können, daß es überall ein Zuviel und ein Zuwenig gibt, was uns mißfällt u. s. w.

Zimmermann, einer der Hauptstimmführer der heutigen Ästhetik, Verfasser einer Geschichte und eines Systems der Ästhetik, rüstig und mächtig in ästhetischer Kritik, hat für dieses eine Gesetz zwei als fundamental für die ganze Ästhetik aufgestellt, das eine als maßgebend nach quantitativer, das andere nach qualitativer Beziehung; sie lauten:

1) (Prinzip der sog. Vollkommenheit): "Die stärkere gefällt neben der schwächeren Vorstellung, die schwächere mißfällt neben der stärkeren Vorstellung."

2) "Die überwiegende Identität der Formglieder gefällt, der überwiegende Gegensatz derselben mißfällt unbedingt."

Ich wüßte aber auch mit diesen zwei Gesetzen in der Ästhetik nicht auszukommen; mich nicht einmal recht damit zu vertragen, unstreitig, weil ich mich mit der Herbartschen Philosophie, in welcher sie wurzeln, nicht zu vertragen vermöchte; worüber aber natürlich hier nicht zu streiten ist. Nur eines Kuriosum, was mir bezüglich des ersten Gesetzes aufgestoßen ist, will ich gedenken, um einige Bemerkungen daran zu knüpfen, die uns damit für die Folge erspart sein werden.

Eine Hauptfolgerung dieses Gesetzes ist das, schon von Herbart ausgesprochene, von Zimmermann akzeptierte, Gesetz: "Das Große gefällt neben dem Kleinen, das Kleine mißfällt neben dem Großen." Hingegen beginnt Burke, der freilich Herbart noch nicht studieren konnte, in s. Abh. "vom Schönen und Erhabenen" die Aufzählung der Eigenschaften, wodurch etwas schön wird, mit dem Satze: "das Schöne muß erstlich vergleichungsweise klein sein", und hat gar ein ganzes Kapitel mit der Überschrift: "Schöne Gegenstände sind klein", worin er u. A., was er dafür anführt, bemerkt: "man hat mich versichert, daß in den meisten Sprachen Dinge, die man liebt, mit verkleinernden Beiwörtern bezeichnet werden. Wenigstens ist es so mit allen Sprachen, die ich kenne."

Nun kann man allerdings nach einem gelegentlich von Zimmermann zugezogenen Hilfsprinzip das Gefallen am Kleineren auf das Gefallen am Größeren dadurch zurückführen, daß das Kleinere die Eigenschaft der Kleinheit in stärkerem Grade besitzt [Fußnote] oder vom Mittel stärker abweicht, als das minder Kleine, kurz ein Größeres in negativem Sinne ist. Nur möchte es zur Klarheit und zur Vermeidung des Vorwurfs, sich in widersprechenden Vorstellungen zu bewegen, rätlich sein, dann lieber gleich das vom Mittel nach einer oder der andern Seite stärker Abweichende für das Wohlgefälligere zu erklären, wofür die von Burke und Zimmermann geltend gemachten Tatsachen in der Tat nur von verschiedenen Seiten gleich schlagend erscheinen. Aber freilich könnte es hiernach noch einem Dritten beikommen, trotz Zimmermann und Burke, eine rechte Mitte zwischen Großem und Kleinem als das Wohlgefälligste zu erklären, und gelingen, nicht minder schlagend scheinende Tatsachen dafür beizubringen.

Vor Zeiten hat sich Venus um den Apfel der Schönheit mit Pallas und Juno wegen der Schönheit der Gestalt gestritten; man sieht, daß ihr mit Vorigem aufgegeben ist, sich auch noch mit Riesen und Zwergen wegen der Schönheit der Größe darum zu streiten. Sollte ich nun zum Paris erwählt sein, so würde ich unstreitig nur einem sehr allgemeinen Zuruf zu folgen brauchen, um den Preis sofort ihr, die in der Mitte zwischen beiden steht, zuzuteilen. Doch trage ich Bedenken, es so ganz einfach zu tun, indem ich mich erinnere, daß ich wohl in eine Schaubude gehe, um einen Zwerg oder Riesen, aber nicht um einen Menschen von gewöhnlicher Größe zu sehen; muß ich nicht also am Sehen von jenen mehr Gefallen finden als am Sehen von diesem? Inzwischen erinnere ich mich auch, daß ich doch im gewöhnlichen Leben lieber Menschen von gewöhnlicher Größe um mich sehe und mit solchen verkehre, als vorzugsweise mit Zwergen oder Riesen. Kurz ich ziehe ausnahmsweise das Ausnahmsweise, für gewöhnlich das Gewohnte vor, und zwar tue ich das nicht bloß in Betreff des Eindrucks der Größe, sondern überhaupt; so daß sich ein sehr allgemeines ästhetisches Prinzip daraus machen ließe, wenn schon kein so allgemeines, daß Gefallen und Mißfallen allein von ihm abhingen, es ist nur ein überall mitbestimmendes wie anderer Mitbestimmung unterliegendes.

Selbst zum Genuß des Erhabenen gehört, daß es nicht bloß etwas Großes sondern auch etwas Ausnahmsweises sei, und gehören oft noch andere Mitbestimmungen dazu. Gewährt es uns in seiner Größe mehr Anknüpfungspunkte zu lustvoller Beschäftigung, so werden wir es freilich dem Kleinen vorziehen, das in seiner Kleinheit nur weniger davon zu gewähren vermag, aber umgekehrt, wenn das Große ein reicherer Unlust als Lustquell ist. Das Große zu fassen, beansprucht an sich mehr Tätigkeit, als das Kleine, das kann uns mitunter eben recht sein, aber in der Regel sagt uns eben nur ein mittler Grad desselben zu, und der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen ist gar oft ein gern getaner.

Hiernach würde ich den Apfel zwischen der Prätendentin und den Prätendenten teilen, so aber, daß ich die Riesen nur mit dem äußeren Schalenteil, die Zwerge mit dem inneren Grübsteil bedächte.

Mit Vorigem will ich das Zimmermannsche Gesetz nicht sowohl widerlegt als nur angedeutet haben, weshalb ich mich bei seinem Ausspruch als Fundamentalgesetz nicht beruhigen möchte; und gelegentlich wird sich Anlaß finden, auch einer Abweichung mindestens von der Ausdrucksweise des anderen Gesetzes zu gedenken. Bei aller Anerkennung einer beschränkten oder bedingten Gültigkeit beider Gesetze vermöchte ich jedenfalls das ganze ästhetische Gebiet nicht zureichend damit gedeckt zu finden.

Auch mit drei Fundamentalgesetzen aber, die sich vielleicht aus dem dreigliedrigen Prinzip der Hegelschen Philosophie herausschälen ließen, wüßte ich nicht auszukommen. Es ist eben in der Ästhetik wie in der Physik, in der wir uns bis jetzt noch mit einer Menge besonderer Materien, Kräfte, Gesetze behelfen müssen, wenn wir auch voraussetzen, daß es schließlich nur eine Grundmaterie, eine Grundkraft, ein Grundgesetz, von dem alle physikalischen Gesetze bloß besondre Fälle sind, gibt.

Ohne nun die Gesamtheit der Gesetze, die sich für die Ästhetik aufstellen lassen, hier systematisch abhandeln, und damit den Charakter einer Vorschule mit dem einer Schule vertauschen zu wollen, will ich doch mit einer Anzahl dieser Gesetze hier vorangehen, teils um darin überhaupt Beispiele ästhetischer Gesetze aus verschiedenen Gesichtspunkten darzubieten, teils wegen der häufigen und wichtigen Anwendungen, die wir in allem Folgenden davon zu machen haben. Für den Ausdruck Gesetz jedoch brauche ich fast noch lieber den Ausdruck Prinzip. Jedes Gesetz ist nämlich ein einheitliches Prinzip für die Fälle, die es unter sich faßt, Prinzip aber ein weiterer Begriff als Gesetz, sofern nicht bloß Gesetzliches sondern auch Begriffliches darunter tritt. Wie nun das Gesetz sachlich seine besonderen Fälle unter sich faßt, faßt zugleich der Begriff des Gesetzes begrifflich diese Fälle unter sich, und so läßt sich Beides nicht trennen.

Das erste von den demnächst vorzuführenden Gesetzen oder Prinzipien nenne ich das der ästhetischen Schwelle, das zweite das der ästhetischen Hilfe. Die drei folgenden, das der einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen, das der Wahrheit und das der Klarheit fasse ich unter der gemeinsamen Bezeichnung der drei obersten Formalprinzipe zusammen. Das sechste wird das der Assoziation sein.

So wichtig die beiden ersten dieser Prinzipe sind, findet man doch nichts davon in den Lehrbüchern der Ästhetik, was man entweder so deuten kann, daß ich sie fälschlich für wichtig halte, oder daß in den Lehrbüchern der Ästhetik noch manches Wichtige fehlt. Die übrigen sind im Grunde bekannte, nur für die Verwendung in der Ästhetik bisher weniger entwickelte oder weniger verwertete Prinzipe, als es hier im Gange von Unten geschehen wird.

Außerdem lassen sich noch gar manche Gesetze als ästhetische aufstellen oder von psychologischen Gesetzen für die Ästhetik verwerten, deren meiste ich nur unter neuen Namen einzuführen wüßte, weil ich keine alten dafür finde, da sie größernteils der genügenden Erörterung noch ermangeln, als da sind: die Gesetze der Entstehung von sinnlicher Lust und Unlust; des ästhetischen Kontrastes, der ästhetischen Folge und der ästhetischen Versöhnung; des Maßes der Beschäftigung; der ästhetischen Mitte; der Gewöhnung, Abstumpfung und Übersättigung; der Lust und Unlust aus Vorstellung von Lust und Unlust; aus Vorstellung ihres positiven und negativen Bezuges zu uns; aus freiem und gehemmtem Ausdruck derselben; und wohl noch andere Gesetze, sollten die vorigen nicht reichen; worauf im Folgenden nur nach Maßgabe zu kommen, als sich etwa Anlaß zu ihrer Anwendung bieten wird. Vielleicht wird sich doch später noch Gelegenheit finden, genauer darauf einzugehen.

Die Gesamtheit dieser Gesetze läßt sich verschiedenen Kategorien unterordnen. Teils beziehen sie sich auf Entstehungsverhältnisse der verschiedenen Arten von Lust und Unlust, teils auf quantitative Verhältnisse derselben, wonach sich kurz qualitative und quantitative Gesetze unterscheiden lassen. Teils betreffen sie die ursprüngliche Entstehung von Lust und Unlust, teils ihre Abhängigkeit von schon zuvor gegebener Lust und Unlust; wonach primäre und sekundäre Gesetze. In sofern man an den Gegenständen Form und Inhalt unterscheidet, ein Unterschied, der jedoch noch bestimmterer Erklärung bedarf, kann man auch darauf bezügliche Formalgesetze und sachliche Gesetze unterscheiden.

Von den folgends besonders vorzuführenden Gesetzen bieten die beiden ersten, das Gesetz der Schwelle und der Hilfe mit dem dabei gelegentlich erwähnten Wachstumsgesetze, Beispiele quantitativer Gesetze oder Prinzipe; die folgenden, das der einheitlichen Verknüpfung, der Wahrheit und Klarheit, Beispiele qualitativer Gesetze. Diese drei gehören zugleich zu den primären und Formalgesetzen, indes das Assoziationsgesetz zu den sekundären gehört.

Die klare Auseinandersetzung, Präzisierung und Verwendung der ästhetischen Gesetze wird durch folgende drei Umstände erschwert. Einmal greifen die Bedingungen der Lust und Unlust, die man aus gewissem Gesichtspunkte unterscheiden kann, doch aus anderem Gesichtspunkte durch ein gemeinsames Moment in einander über, wo es dann theoretisch nicht leicht und zum Teil nicht möglich ist, sie in reiner Koordination auseinanderzuhalten; zweitens kommen diejenigen, die man aus abstraktem Gesichtspunkte unterscheiden kann, doch in der Wirklichkeit nicht so abstrakt vor, sondern komplizieren sich mehr oder weniger, wo es dann in den Anwendungen schwer fällt, überall zu scheiden, was auf Rechnung der einen oder anderen Bedingung kommt, so wie schwer reine Belege für die Wirkung der reingefaßten zu finden. Drittens haben alle, auf spezielle Lustbedingungen bezüglichen, Gesetze in sofern eine beschränkte Gültigkeit, als entgegenstehende Bedingungen im Falle des Überwiegens auch entgegenstehende Erfolge zulassen, wonach diese Bedingungen nur mit sorgfaltiger Bucksicht auf ihre möglichen Konflikte unter einander zulänglich erörtert werden können.

Diese Nachteile würden zwar prinzipiell wegfallen, wenn wir von den Spezialquellen der Lust und Unlust zur allgemeinsten letzten Grundbedingung derselben, die in alle eingeht, sie selbst erst zu Lust- und Unlustquellen macht, aufzusteigen vermöchten; aber selbst, wenn dies gelungen wäre, was nicht der Fall ist, würde man doch in den Anwendungen auf die Spezialquellen und darauf bezüglichen Spezialgesetze der Lust und Unlust, welche hier betrachtet werden sollen, zurückgewiesen sein, weil jene allgemeinste Ursache doch nur als eine, alle Spezialursachen verknüpfende, Abstraktion angesehen werden könnte, von welcher die Brücke zu den Spezialanwendungen durch die Spezialgesetze in ähnlicher Weise zu schlagen, als man auch, wenn das letzte Grundgesetz physikalischer Kräfte oder Ursachen der Bewegung bekannt wäre, doch immer in den Anwendungen auf die Spezialkräfte und Spezialgesetze der Kräfte zurückzugehen haben wird.

Da Lust und Unlust, Gefallen und Mißfallen, psychologische Momente sind, so ordnen sich natürlicherweise auch die darauf bezüglichen, kurz ästhetischen, Gesetze den psychologischen Gesetzen unter; nur daß in einer Psychologie von allgemeinerer Tragweite kein Anlaß ist, die ästhetischen insbesondere so eingehend und in solcher Beziehung und Zusammenstellung zu behandeln, als es nun eben für die Zwecke der Ästhetik nötig ist. Insoweit die ästhetischen Gesetze Einwirkungen der Außenwelt auf unsere Seele betreffen, können sie auch als in die äußere Psychophysik gehörig angesehen werden, die jedoch nicht minder weitere Interessen als die Ästhetik verfolgt, dazu schärfere Bestimmungen verlangt, als in dieser allgemeingesprochen bisher möglich. Nun könnte man noch wünschen, auch die Gesetze der Abhängigkeit der Lust und Unlust von den, diesen Seelenbestimmungen unmittelbar in uns unterliegenden (sog. psychophysischen), körperlichen Zuständen oder Veränderungen zu kennen, was Sache der innern Psychophysik; ja es besteht in dieser Hinsicht ein fundamentales Bedürfnis, das sich aber bis jetzt nicht erfüllen läßt; und der Begriff der Ästhetik selbst in der Beschränkung, wie er hier gefaßt wird, schließt die Rücksichtsnahme auf die Beziehung der Lust und Unlust zu diesen innern Zustanden und Veränderungen aus, über die sich bis jetzt nur mehr oder weniger unsichre Hypothesen aufstellen lassen.