Kapitel 1 ff.

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Kapitel 0.

Wir tragen

die Trümmer ins Nichts hinüber

und klagen

über die verlorene Schöne

Wir werden nie aufhören können, auf das griechische Altertum als auf das goldene Zeitalter zurückzublicken; je enger wir uns selbst gebunden fühlen, mit um so tieferem Verlangen nach Freiheit und Natürlichkeit, je freier und natürlicher wir unser eigenes Dasein empfinden, mit um so größerer Heiterkeit und um so lebhafterem Glücksgefühl. Denn in den Griechen, diesen ,,frischen Jünglingen der Welt«, werden wir immer von neuem den Menschen erkennen, wie er heil und gesund zum erstenmal aus den Händen der Natur hervorgegangen ist, um in vollkommener Unbefangenheit seine Kräfte zu entfalten.

»Nicht bloß ewige Kinder waren die Griechen, wie sie der ägyptische Priester schalt, sondern auch ewige Jünglinge.« Da ist nichts erzwungen, nichts verstellt, durchaus herrscht überall die reizendste Leichtigkeit natürlichen Empfindens. Frei darf Hermes angesichts von Hephästos' Schmach vor den Göttern glühend bekennen, daß er gleichem und herberem Schimpf zum Trotz sich in der goldenen Aphrodite Arme sehne. – Wer empfände nicht, daß Gesundheit höchstes Gut ist? Wo aber hat das natürlichste Gefühl so unvergeßlichen Ausdruck gefunden wie in dem griechischen Skolion, das neben dem Glück der Gesundheit als wünschenswertestes Gut die Schönheit preist?

Kapitel 1.

»Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Bewußtsein eigener Gesinnungen und Gedanken, das Erkennen seiner selbst, welches ihm die Einleitung gibt, auch fremde Gemütsarten innig zu erkennen.« Es ist in der Tat ein Zeugnis für die Klarheit des ethischen Bewußtseins der Griechen, daß unter ihnen dieser Satz, mit dem Goethe auf der Höhe des Lebens seine Beurteilung Shakespeares einleitet, schon in frühester Zeit erstes Gesetz sittlicher Bildung war. Denn jenes apollinische »Erkenne dich selbst« darf nicht in der späteren einseitigen Verkehrung als Mahnung, die eigene Schwäche zu erkennen, verstanden werden; es entspringt vielmehr ganz ursprünglich der Erkenntnis, daß der Mensch den Sinn der ihn umgebenden Welt nur in dem Maße zu begreifen imstande ist, wie er die Bedingungen und den Inhalt seines eigenen Daseins erkennt, da doch einmal der Mensch das Maß aller Dinge ist.

Wir freilich sind gewohnt, die Begriffe Selbstbewußtsein und Naivität als gegensätzlich zu empfinden. Und doch bedeutet Naivität nur, daß nicht mehr und nichts anderes geäußert wird, als in Wahrheit vorhanden ist: naiv ist jeder ganz aufrichtige Mensch. Aufrichtigkeit aber ist der Grundzug des griechischen Charakters, in dem zu allen Zeiten die Naivität mit dem höchsten Selbstbewußtsein verbunden war.

Dieses griechische Selbstbewußtsein entsprang der vollkommenen geistigen Freiheit der griechischen Menschheit. Als der Perser Hydarnes, der fürstliche Herr über Kleinasien – erzählt Herodot – spartanischen Gesandten riet, die Freundschaft des Perserkönigs zu suchen, war ihre Antwort: Wohl verstehst du dich, Hydarnes, auf die Knechtschaft, aber die Freiheit hast du nicht gekostet, du weißt nicht, ob sie süß ist oder nicht. Denn hättest du sie gekostet, so würdest du uns raten, um sie zu kämpfen, nicht mit Speeren allein, sondern noch mit Beilen. Und als denselben Gesandten angesonnen wurde, vor dem Könige niederzufallen, weigerten sie sich dessen und erklärten, sie würden es nimmer tun, auch wenn man sie mit den Köpfen auf die Erde stieße, denn ihre Gewohnheit sei es nicht, vor einem Menschen niederzufallen, und auch nicht deswegen seien sie gekommen.

Dieses bare Unvermögen, auf die freie Selbstbestimmung zu verzichten, das sich in jeder Äußerung griechischen Geistes ausspricht, ruht wohl meist verhalten. Wo es aber auf die Probe gestellt wird, in Szenen des Kampfes, ja des Kampfes mit den olympischen Göttern, da bricht es mit überwältigendem Pathos hervor.

Schon die Alten selbst haben die Gunst des Klimas, alle die Vorzüge des hellen Himmels und des »göttlichen Meeres«, die dem griechischen Wesen die kristallene Durchsichtigkeit und die rastlose Regsamkeit mitgeteilt zu haben scheinen, die heitere Mannigfaltigkeit des reich gegliederten Landes gepriesen, ja selbst versucht, sich aus diesen natürlichen Bedingungen die Kraft und den Reichtum ihrer Anlagen zu erklären. Ein liebenswürdiger Zug leichtherziger Bescheidenheit, die aber dem eigenen Verdienst sicher nicht gerecht geworden ist. Der griechische Charakter war nicht das Produkt einer günstigen geographischen Situation, er entwickelte sich in strenger, Geist und Körper gleichmäßig anspannender Zucht aus der einzigartigen Anlage des Volkes, das freilich den gegebenen Naturbedingungen abzugewinnen gewußt hat, was ihnen abzugewinnen war.

Nie hat die künstlerische und sittliche Intelligenz der Griechen Freiheit mit Ungebundenheit im Ernst verwechseln können. Die Freiheit, die ihnen Lebensbedürfnis war, hat die edelste Form: Unabhängigkeit von fremdem Zwang, um dem eigenen Gesetz gehorsam sein zu können, mit dem Bewußtsein, »daß die Zufälle über den Menschen gebieten und nicht der Mensch über die Zufälle«. Dieses Bewußtsein gibt der griechischen Heiterkeit den Gehalt schwermutvollen Ernstes, ohne den jede Heiterkeit wertlos und unerträglich bleibt.

Was Herodot den Griechen Demaratos zu Xerxes sagen läßt, ist sicher allgemein griechische Überzeugung gewesen: Obwohl die Griechen frei sind, sind sie doch nicht in allem frei; sie haben über sich das Gesetz, das sie weit mehr fürchten als deine Leute dich, und was das Gesetz ihnen gebietet, das tun sie.

Aber auch diese freiwillige Unterordnung unter die Zucht des Staatsgesetzes, die wir als so eigentümlich griechisch empfinden, war noch nicht die letzte Idee der griechischen Ethik. Hinter dem allgemein verbindlichen Staatsgesetz stehen unverbrüchlich die »ungeschriebenen Gesetze", die Norm, nach der jeder einzelne für sich sein Leben zu führen hat, um die selbstbewußte Freiheit seiner Persönlichkeit zu bewähren.

In dieser willkürlichen Selbstbeschränkung haben die Griechen ihre Meisterschaft bewiesen. Vielleicht nicht immer im Leben, wo die politische Leidenschaft oft das ethische Bewußtsein überschäumte, wohl aber im Denken und in der Kunst, in der die Griechen ihr eigenes Ideal gebildet haben. Wie sie sich hier darstellen, so wünschten sie zu sein, nicht nur zu scheinen.

Kapitel 2.

Der ethische Grundzug des griechischen Charakters, die Forderung freier Selbstbestimmung ist das Neue, was die Griechen gebracht haben. Wir vergessen das leicht; weil diese Forderung uns nun seit langem selbstverständliches und unveräußerliches Gut geworden ist.

Der ganze antike Orient hat sich nie über die rohe Auffassung zu erheben vermocht, die in dem despotischen Herrscher den Gipfel der Weltentwicklung sieht. Damit fiel auch der Kunst des Orients die Verherrlichung einer Übermacht des Menschen über den Menschen als höchste Aufgabe zu, die noch dazu ganz wesentlich als physische Übergewalt gefaßt und dargestellt wurde. In Griechenland dagegen steht von Anfang an der Mensch nach seiner einfachen, natürlichen Erscheinung, nur um seines menschlichen Wesens willen frei neben seinesgleichen, in der leichten Ruhe ungeschminkter Natürlichkeit. In seiner Darstellung verbindet sich die anmutigste Bescheidenheit mit dem deutlichen Stolz selbstbewußter menschlicher Existenz.

Es ist ja die große Tugend der Griechen, »keiner Sache weder zu viel noch zu wenig zu tun«. Sie scheuen sich nicht, das Selbstverständliche auszusprechen, aber weil sie ihm dabei ganz den Charakter des Selbstverständlichen lassen, erscheint alles, was sie zu sagen für wert halten, so überwältigend neu und bedeutend. Keine Kunst, die sich durch ihre ganze Entwicklung von jedem Schein unedler Prätention so völlig frei erhalten hätte, die so durchgehend positiv, allem Überschwung des Empfindungsausdrucks ferngeblieben wäre.

Kapitel 3.

Die Darstellung des Menschen in dem ganzen Umfange seiner körperlichen und ethischen Erscheinung ist der Inhalt der griechischen Kunst. Wir kennen außer der griechisch-europäischen keine Kunst, die ähnlich gerichtet wäre. Überall freilich, wo nicht religiöse Befangenheit dazwischentrat, ist auch sonst der Mensch Gegenstand künstlerischer Darstellung gewesen, aber gleichmäßig herrscht überall sonst die Tendenz, die menschliche Gestalt ihrer Unvergleichlichkeit, den Menschen seiner Individualität zu entkleiden und die menschliche Gestalt zu einer bloßen Schmuckform, einem Ornament zu entwürdigen, und wäre es auch in so monumentaler Pracht wie in dem mit farbigen Glasuren kostbar überschmolzenen Fliesenfries der Bogenschützen am Palast des Perserkönigs in Susa.

Das Bewußtsein dieses unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Asien und Europa, der die ganze Geschichte der Menschheit erfüllt, ist übrigens so alt wie das Selbstbewußtsein griechischer Gesittung überhaupt. Das Geschichtswerk des Herodot hebt mit dieser Erkenntnis an – es ist vom ersten zum letzten Wort um dieses Gegensatzes willen geschrieben –, und wenn der naive herodotische Bericht den Zwiespalt bis in mythische Zeiten hinaufführt, so gibt die ganze Folge von Jahrhunderten uns ein Recht, dem alten Mythus symbolische Bedeutung beizumessen.

Kapitel 4.

Es ist eine richtige Beobachtung, die für die ganze Kunstentwicklung Geltung hat, daß die Tracht, die Mode der Kleidung, die Auffassung des nackten Körpers mit bestimmt. Nicht nur weil das Kleid die organischen Formen des Körpers wirklich verändert, mehr noch darum, weil jeder Künstler den nackten Körper unbewußt nach der Haupterscheinung der jeweils gültigen Mode umgestaltet.

Den Griechen wird man eine Ausnahmestellung einräumen müssen. Bei ihnen trat der nackte Körper schon in ganz früher Zeit in den Vordergrund des allgemeinen Interesses, er wurde, wie es überall natürlich wäre, wirklich als das Erstgegebene betrachtet und hat umgekehrt Art und Schnitt des Gewandes bestimmt.

Nur die Griechen haben die Tracht so entwickelt, daß der Körper sich in ihr als ein gegliederter Organismus ausspricht. Bei ihnen ist er wirklich aktiv, Träger des in freiem Wurf umgelegten Gewandes, während in Babylon und Assyrien und dem ganzen von dort her bestimmten Kulturkreis der Alten Welt der Leib unter der schweren faltenlosen Teppichhülle verschwindet, und in Ägypten gerade an der entscheidenden Stelle durch das um die Hüften gelegte ornamentale Faltengefüge des Schurzes zerrissen wird, das bei aller Feinheit der Einzelbildung einen starken Zusatz hieratischer Konvention nie überwunden hat.

Die Griechen bekleiden den Körper im Großen und einheitlich, während alle Neueren die Glieder einzeln in zugeschnittene Hüllen stecken, die den Zusammenhang der Glieder in den Gelenken für das Auge, ja auch für die eigene Körperempfindung aufheben. Auch die griechische Tracht freilich hat sich nur schrittweise zu der Freiheit des V. und IV. Jahrhunderts v. Chr. entwickelt. Immer aber haben die griechischen Künstler mit großem Geschick alle Vorteile auszunutzen verstanden, die ihnen die Tracht bot. Die Künstler der frühlinghaften Frühzeit, die immer zu Zierlichkeiten geneigt ist, haben ihren Stolz in die Wiedergabe des dünnen Geriesels der Fältchen gesetzt, mit denen der feine Linnenchiton die Formen des Körpers überfließt [Fußnote], die spätere ernsthaftere Zeit der Reife gliedert das Gewand in breitere Flächen und größere Faltenzüge, unter denen die organische Struktur des Leibes hervortritt, Päonios von Mende wagt den weit ausgespannten Bausch der herabschwebenden Nike aus dem vollen Stein zu hauen [Fußnote], prachtvoll endlich ist das Gewand um den stolzen Leib der samothrakischen Nike geschlagen, die vom Seewind angeweht im Bug des siegenden Schiffes steht [Fußnote]. So wird die griechische Tracht in der Blütezeit der Kunst zu einem Mittel, den Bewegungsausdruck des Leibes in machtvoller Vergrößerung zu versinnlichen, und zu einem neuen Zeugnis für das (körperliche und geistige) Selbstbewußtsein der griechischen Menschheit.

Kapitel 5.

Die Entwicklung der griechischen Plastik ruht aber auf der Darstellung des unbekleideten Körpers. Angesichts dieser ganz unbefangen vorwaltenden Nacktheit wenigstens der Jünglingsgestalt muß darauf hingewiesen werden, daß die Nacktheit hier keine künstliche Abstraktion, sondern in der Tat in weitem Umfange Abbild wirklichen Lebens ist.

In das hohe Altertum des VIII. Jahrhunderts v. Chr. führt die Sitte der Nacktheit bei den olympischen Wettspielen hinauf; nicht als primitive Unvollkommenheit aus roherer Zeit bewahrt, sondern als Produkt selbstbewußter Kultur eingeführt und als Fortschritt der nationalen Gesittung empfunden. Zuerst beim Wettlauf, dann beim Ringkampf üblich, verbreitet sie sich bald über das ganze Machtgebiet der griechischen Kultur, untrennbar verknüpft mit jeder Art von Leibesübung, die von der Nacktheit selbst den Namen erhielt. Ja in Sparta kämpften selbst Jungfrauen miteinander nackt oder ganz leicht mit dem geschlitzten und nur auf der Schulter gespangten Chiton bekleidet, und mit welcher natürlichen Züchtigkeit das geschehen konnte, zeigt die glücklich erhaltene Marmorkopie der Bronzestatue einer Wettläuferin aus dem VI. Jahrhundert, deren »sittliche Grazie« überhaupt nur auf dem Boden einer ganz freien, weitherzigen und hohen Lebensauffassung denkbar ist [Fußnote]

Erst durch die Gewohnheit vollkommener Nacktheit konnte der Leib in dem Maße, wie es bei den Griechen der Fall war, zum Träger gleichmäßig verteilter Empfindungen werden. Von selbst ward das Auge angeleitet, in dem ganzen Körper das Leben der Seele zu erkennen. Wie sehr aber diese den ganzen menschlichen Leib umfassende Beobachtung von vornherein der griechischen Natur gemäß war, zeigen bereits die Homerischen Gedichte, in denen auch die leichten Knöchel der Mädchenfüße mit einem zierlichen Schmuckwort bedacht sind.

Hier tritt vielleicht am deutlichsten zutage, um wieviel näher die Griechen in ihrer guten Zeit der Natur standen, als es uns vergönnt ist, denn für uns, die vom Menschen sogar an uns selbst nichts als Gesicht und Hände unverhüllt zu sehen gewohnt sind, vereinigt sich mit Notwendigkeit das ganze Empfinden des Leibes und der ganze Ausdruck der Seele hier, und leicht wird diese Gewohnheit falschen Sehens dem neueren Künstler verhängnisvoll, wenn er sich an die Darstellung der Nacktheit wagt. Selbst in Michelangelos David bleibt ein Unbehagen zu verwinden, das sich aus dem verhältnislosen Vorwalten des Hauptes und der Hände herschreibt.

Früh fand neben der Gymnastik und mit ihr verbunden, die kunstmäßige Form des Tanzes Ausbildung und Pflege. Nackt tanzte Sophokles fünfzehnjährig den Siegespäan nach der Schlacht von Salamis.

Wenn sich in den Gymnasien der Leib in freier, nur durch den Zweck des Kampfspiels und der Übung bestimmter Bewegung darbot, so erschien er beim Tanz gebunden nach den Gesetzen musikalischer Rhythmik nun doppelt als Träger bestimmter seelischer Stimmungen.

Trotzdem aber hat nicht etwa die Gewohnheit der Palästra die Nacktheit in der Kunst ursprünglich bedingt; schon lange bevor Orsippos aus Megara den Lendenschurz beim Wettlauf im Olympischen Stadion abwarf, sind von griechischen Künstlern nackte Figuren gebildet worden. Der rein künstlerische Gesichtspunkt war hier entscheidend. Terrakotten und Steinskulpturen, bei denen das Gewand, das dem lebendigen Körper gegenüber zumal in der Zeit anfänglicher Befangenheit etwas Formloses behält, durch Farbe belebt, ja beinahe durch die Bemalung allein wiedergegeben werden konnte, werden daher noch bekleidet gebildet, als die Bronzefigur schon auf das Gewand verzichtet hatte, denn hier, wo keine Bemalung belebend eintreten konnte, waren die glatten ungebrochenen Flächen der primitiven Gewandung plastisch tot. Es war schon in diesen frühesten Zeiten griechischer Kunst das Streben nach künstlerischem Reichtum, ein absoluter künstlerischer Idealismus, der sich selbst auf Kosten unmittelbarer Lebenswirklichkeit durchgesetzt hat. Zum erstenmal tritt die stilbildende Kraft der Bronze hervor, von der die griechische Kunst auch weiterhin die stärksten Impulse erfahren hat.

Später wurde dann freilich die gymnische Nacktheit der Palästra die festeste Stütze dieser künstlerischen Gesinnung; aber auch dann haben die griechischen Künstler, deren Augen nun am lebenden Menschen die sinnliche Erfahrung des Formenreichtums und der Ausdruckskraft des nackten Körpers gewinnen konnten, sich nicht auf die gegebene Wirklichkeit des Lebens beschränkt. Schon in früher Zeit schritten sie dazu fort, dem Machtbereich der Nacktheit auch mythische und halbgeschichtliche Darstellungen und in großartiger Freiheit selbst weite Gebiete über die tägliche Erfahrung des Lebens hinaus zu unterwerfen.

Auch der weibliche Körper, dessen unverhüllter Bildung im Großen die Kunst lange Zeit auswich, ward nun, anfangs noch unter sorgsamer Motivierung der Nacktheit, Gegenstand plastischer Darstellung; und im Unterschied von der natürlichen Nacktheit des Jünglings, die ein Gewand nie gekannt zu haben scheint, wagt die Kunst mit der knidischen Aphrodite des Praxiteles nun auch den letzten noch möglichen Schritt in der Wiedergabe des entkleideten Körpers, ohne die feine Linie vollendeter Sittsamkeit zu verletzen.

Kapitel 6.

Es mußte für das Schicksal der griechischen Kunst von außerordentlicher Bedeutung werden, daß durch die Freiheit der Tracht und die Gewohnheit täglicher Leibesübung eine Menschheit erzogen wurde, die alle Bewegungsmöglichkeiten des Körpers aus eigener Erfahrung kannte und dadurch befähigt war, jedes plastische Motiv am eigenen Leibe mitzuempfinden. Der Grieche war sich seines Körpers bis in das letzte Gelenk bewußt und nahm den plastischen Inhalt des Marmor- oder Bronzewerkes mühelos in das eigene Körpergefühl auf. Hier wurde das Kunstwerk wirklich nach seinem künstlerischen Wert empfunden und an den Künstler keine Forderung gestellt, die nur mit Verletzung der künstlerischen Pflicht zu erreichen ist.

In der Tat arbeitet die Plastik nicht allein für das Auge, sondern ganz wesentlich »für den Sinn der mechanischen Bewegung des Körpers« – mehr noch als die Baukunst, der die goethischen Worte gelten –, und darum wird die Fähigkeit, ein plastisches Werk als Kunstwerk zu verstehen, immer auf der Fähigkeit beruhen, die Plastik des eigenen Körpers zu empfinden. Nur dann ist ein Organ vorhanden, das die plastischen Formen des Bildwerks lebendig mitzufühlen imstande ist.

Kapitel 7.

Sicher war es ein großes Glück, daß diesem im höchsten Maße plastisch begabten Volk in den verschiedenen Arten edeln Marmors, der überall auf dem festen Lande und auf den Inseln reichlich gebrochen wird, ein Stoff von außerordentlicher Bildsamkeit zu Gebote stand, kristallinisch, ohne vor dem Meißel zu zersplittern, zart, ohne einen Schein von Weichlichkeit, die Mitte haltend zwischen dem leichteren, porösen Kalkstein und dem harten massiven Urgestein des Granit, Porphyr und Basalt, die wie der unklare Alabaster wenigstens während der griechischen Zeit der antiken Kunst von der Verwendung zu Bildwerken ausgeschlossen waren.

Genau werden die verschiedenen Marmorarten auseinandergehalten und nach ihrer besonderen Güte bewertet: der parische von großem glänzendem Korn, blendend weiß, der elfenbeinfarbene von Lesbos, der pentelische bläulich gefleckt, aber von der meerfeuchten griechischen Luft unter dem Einfluß der Sonne an der Oberfläche leicht zu warmem Gelb zersetzt; der weniger edle endlich vom Hymettos.

Die Schönheit des griechischen Marmors zeigt jedes antike Bildwerk, und die Kostbarkeit des Materials kann zuweilen auch über eine Verletzung, einen Bruch trösten, die das glänzende Innere des Steines an den Tag bringen. Der griechische Marmor schon an sich ist schön, und es kann sogar eine körnige prachtvoll gesplitterte Bruchfläche die Weichheit der künstlich geglätteten Haut noch heben, ja den ästhetischen Eindruck des Bildwerks ins Gewaltige steigern.

Kapitel 8.

Die Möglichkeit der griechischen Kunst aber war bei alledem nicht an die Gunst und Schönheit dieses natürlichen Stoffes gebunden. Die Griechen selbst haben sogar während der ganzen klassischen Epoche dem edelsten Marmor die künstlich gemischte Bronze, Gold und Elfenbein vorgezogen.

Davon geben die Sammlungen antiker Bildwerke freilich kein Bild, denn der materielle Wert der Stoffe und die Möglichkeit, das Metall in neue Formen umzuschmelzen, haben zur Zerstörung der meisten alten Werke dieser Art geführt.

Trotz so großer Verluste ist uns von Bronzewerken des Altertums doch noch genug erhalten, um eine deutliche Vorstellung von der Bedeutung und dem Stil dieser Werke zu vermitteln, zumal seit Herkulaneum und Pompeji ihren alten Besitz zurückgegeben haben. Unwiederbringlich verloren aber bleiben die gepriesensten Werke der antiken Plastik, die Goldelfenbeinfiguren, von denen die Athena Parthenos und der Olympische Zeus des Phidias nur die berühmtesten aus einer großen Reihe gleichartiger Werke waren.

Hier erscheint der primitive Brauch, der das holzgeschnitzte Idol mit wirklichen Kleidern schmückte, ins Monumentale gesteigert und zu wirklich künstlerischem Stil erhoben, indem ein massives Goldgewand um das teilweise mit Elfenbein verkleidete Balkengerippe des Götterbildes gelegt wurde. Alle Mutmaßungen aber über die ursprüngliche Wirkung dieser Werke müssen gegenstandlos bleiben, solange nicht einmal das Geheimnis der Technik einwandfrei gelöst ist.

Trotzdem muß immer wieder an diese, wenigstens nach den Abmessungen gewaltigen Werke erinnert werden, um durch die Vorstellung ihres kostbaren Materials, des warmen, farbig getönten Elfenbeins und des weichen puren Goldes dem Eindruck der Kälte entgegenzuwirken, den eine Sammlung antiker Bildwerke in ihrer heutigen Gestalt unfehlbar hervorruft.

In der Tat ist ja das Bild, das die Museen uns bieten, gefälscht. Wir wissen, daß die Griechen auch ihre Marmorwerke wenigstens teilweise farbig getönt, daß sie große Sorgfalt auf die Färbung und Patinierung der Bronzen verwandt haben, daß die Augen der erzgegossenen Gestalten aus farbigem Stein besonders eingesetzt und ihre Lippen mit sanfter Silberfolie belegt waren.

Das alte lebensvolle Bild kann nie wiedergewonnen werden, denn die wenigen verblaßten Farbreste, die in Tiefen und Rillen von Gewandfalten und Gelock entdeckt sind, und die wenigen wohlerhaltenen Bronzen reichen nur gerade aus, uns die Größe des Verlustes rechtfühlbar zu machen.