07 Landschaft

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VI. Die künstlerische Wiedergeburt des Menschen aus der Landschaft.

In den zwei letzten Vorlesungen haben wir uns die Eigenthümlichkeiten der deutschen Malerei des XIX. Jahrhunderts in großen Umrissen zu vergegenwärtigen gesucht, und die wichtige Betrachtung, die sich am Schlusse ergab, war diese: im Verlauf des Jahrhunderts ist die künstlerische Thätigkeit von einem Extrem zum anderen gelangt. Sie begann mit der Zeichnung und endete mit der Farbe. Dort der bloße Kontur, hier die bloße Farbenpartikel, dort die Betonung des Gegenständlichen, hier dessen Aufhebung. Wollen wir uns nun vergewissern, welche Erscheinungen als die im höchsten Sinne künstlerischen zu betrachten sind, so scheint sich ohne Weiteres als einfache Schlußfolgerung zu ergeben, daß das künstlerisch Vollkommenste nicht in dem einen oder anderen Extrem zu suchen ist, sondern höchst wahrscheinlicher Weise in der Mitte zwischen den Extremen zu finden sein wird, und die Anschauung bestätigt dies. Es ist in der Phase, die wir als die Wiederbelebung koloristischer Ideale bezeichnet haben, daß uns in Frankreich, wie in Deutschland – wir könnten, wenn auch nicht mit gleicher Bestimmtheit, hinzufügen: in England – die ästhetisch am meisten befriedigenden Hervorbringungen entgegentreten. Prüfen wir weiter, welche von den vielen beachtenswerthen in Deutschland als die bedeutendsten hervorzuheben sind, so haben wir nur unsere allgemeinen Grundsätze anzuwenden, um eine bestimmte Meinung zu gewinnen. Erstens: bei welchen Künstlern wirken Sinnlichkeit und Phantasie in höchstem Grade und in größter Harmonie zusammen? Und zweitens: bei welchen, die dieser ersten Bedingung entsprechen, finden sich zugleich die deutschen Wesenseigenschaften: Gefühlskraft, Universalismus, Naturliebe und lebendig waltende Einbildungskraft der Phantasie am stärksten entwickelt? Die Antwort lautet: diese deutsche Art, verbunden mit jener künstlerischen, originellen Kraft, spricht sich am unbedingtesten aus in Arnold Böcklin und Hans Thoma!

Sie werden es begreifen, daß es bei dem Charakter, den meine Vorlesungen gewonnen haben, hier nicht darauf ankommt, Ihnen mitzutheilen, was Sie schließlich aus jeder Biographie des einen und des anderen Meisters, aus jeder Studie über sie unschwer erfahren können, daß ich mich auf die Einzelheiten ihres Lebens und ihre Entwicklung nicht einlassen kann, sondern daß es mir, entsprechend dem Gesichtspunkte, den wir eingenommen haben, von Wichtigkeit sein muß, einzig das Wesentliche in der Kunst der beiden Maler zu einer möglichst klaren Darstellung zu bringen. Und da führe uns eine Betrachtung nothwendiger Art aus dem bisher behandelten Allgemeinen zu dem Besonderen der Persönlichkeit hinüber, eine Betrachtung von großer Bedeutung, die so viel Probleme in sich schließt, daß mit kurzen Worten diese nicht erschöpft werden können, sondern auch hier es sich wiederum nur um Andeutungen handeln kann. Sie ergiebt sich aus der Erwägung: wie entstand die Kunst Böcklins und Thomas, wie waren ihre Eigenthümlichkeiten vorbedingt, wie war sie möglich?, und aus der Erkenntniß: sie hat sich aus der Landschaftsdarstellung entwickelt. Die Landschaftsmalerei steht im Mittelpunkt der Kunst des XIX. Jahrhunderts, sie ist deren Kern, und das Vorzüglichste, was in diesem Zeitraum hervorgebracht wurde, liegt auf dem Gebiet des Landschaftlichen.

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Zwei große Welten mußten wir schon einmal im Verlauf dieser Vorlesungen, im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit der von der Kunst behandelten Ideen und Vorwürfe, einander gegenüberstellen: die antike hellenische und die germanische christliche. Die Darstellung des Merischen war für die erstere die Hauptaufgabe, und in der Plastik gewann das griechische Ideal seine ausgeprägteste Form. In der neueren Kunst, die wir kurzweg, wenn wir das in ihr waltende schöpferische Element uns vergegenwärtigen wollen, die germanische nennen dürfen, sehen wir im Verlaufe der Entwicklung als die eigenthümlichste und daher beachtenswertheste Erscheinung die Landschaftsdarstellung in den Vordergrund treten. Das heißt aber so viel, als daß, wie schon früher bemerkt ward, eben die Malerei, nicht die Plastik dem Ausdrucksbedürfniß in der neuen Kultur besonders entsprach. Im höchsten Sinne freilich hatten wir der Plastik der Griechen die Musik der Germanen gegenüberzustellen!

In welcher Art nun aber bildet sich, verglichen mit der Menschendarstellung der Antike, die Landschaft in der christlichen Zeit aus? Eine lange Entwicklung seit dem Mittelalter zeigt sich: von der Gestaltung des idealen Menschen im plastischen Sinne, wie sie in Sonderheit von der florentinischen, allgemein betrachtet aber von der italienischen Kunst überhaupt gegeben ward, bis hin zu der Auffassung und Wiedergabe der Landschaft nach ihren Stimmungswirkungen, die hauptsächlich durch das Licht hervorgebracht werden, in der holländischen Malerei. Eine Zwischenstellung gleichsam zwischen der florentinischen Formenbestimmtheit menschlicher Gestalt und der holländischen, lichtdurchwebten Landschaftsdarstellung nimmt die venezianische Malerei des XV. und XVI. Jahrhunderts ein. Wenn man es in wenige Worte zusammenfassen will, also: plastische Form: Florenz; Farbenharmonie: Venedig; Lichtkunst: Holland. Wobei die weit über Florenz hinausgehende Berücksichtigung des Landschaftlichen in Venedig als bezeichnend für die geheimnißvolle Beziehung zwischen dem Koloristischen, als dem eigentlich Malerischen, und dem Landschaftlichen beachtet sein will.

Sehen wir aber genau hin, so zeigt es sich, daß in Deutschland und in den Niederlanden, also in der speziell germanischen Kunst, bereits im XV. Jahrhundert der Weg nach der Seite einer nachdrücklichen Hervorhebung der Landschaft, und zwar schon im Hinblick auf ihre stimmungwirkenden Elemente eingeschlagen wird und daß die spätere Malerei hierin nur die höchste Erhebung bedeutet. Früh also schon strebte das künstlerische Verlangen der Germanen aus dem Bereiche bloßer Menschendarstellung, wie sie doch in jenen Zeiten durch den religiöse n. Stoff geboten war, heraus nach einer Schilderung des Naturganzen, und wir haben es gewahrt, in welchen geistigen und seelischen Auffassungen von Gott und Welt diese Eigenthümlichkeit begründet war.

Nun sehen wir aber weiter, daß auch im XIX. Jahrhundert durch all das Figürliche, was Anfangs entstand, mehr und mehr die Landschaft sich hindurchrang und daß in ihr das Fesselndste und Eindrucksvollste sich kundgab. Indem wir dies und das uns beschäftigende Phänomen der Kunst Böcklins und Thomas scharf. ins Auge fassen, thut sich dem Blick ein großer und wunderbarer Zusammenhang in zeitlich weit auseinanderliegenden Erscheinungen auf, der wohl festzustellen und zu betonen, aber im tiefsten Grund nicht zu erklären ist.

Überschauen wir nämlich die gesamte Entwicklung großer Kunst im Verlaufe einer ganzen Kultur von den ersten Anfangen künstlerischen Schaffens an, so wird ersichtlich, daß die Kunst ihre bedeutende ideelle Aufgabe zuerst in den Zeiten erhält, da das Volk, von der Natur mächtig inspirirt, seine Mythologie schafft, denn seine Götter, seine Helden, seine fabelhaften Mischwesen sind verdichtete, in menschliche Formen geprägte Eindrücke der Natur. Aus dieser heraus wird durch die dichterische Kraft des menschlichen Geistes, durch künstlerische Konzentration der Vorstellungen der Mensch für die Kunst gleichsam erschaffen. So lange der religiöse Glaube anhält, so lange die Künstler von ihm ihre Aufgabe erhalten, bleibt die Verherrlichung des Göttlichen im Menschlichen. Erst indem die religiösen Vorstellungen sich andern, das Anthropomorphe verschwindet und die große Einheit der Seele mit der Natur in mystischem Empfinden entdeckt wird, gewinnt die Natur an Wichtigkeit gegenüber dem Menschen und erhebt sie mehr und mehr Anspruch auf selbständige Bedeutung, bis schließlich die Landschaftsschilderung eine Hauptaufgabe der Malerei wird. Ist dies in der germanischen Kultur besonders deutlich, weil in ihr diese Einbeziehung der Menschenseele in das allgemeine Ganze in so hohem Grade stattgefunden hat, so ist es doch nicht zu verkennen, wie auch in der späteren Zeit der griechischen Kunst der Landschaft mehr und mehr Raum und eine nicht unwichtige Rolle zuerkannt ward. Aber freilich niemals so weitgehend, daß die Natur, als durch Stimmungen vollbeseelt, von den Künstlern geschildert wurde, daß der Mensch, der sich als Erscheinung aus dem Kunstwerk gleichsam verloren hat, in der Natur aufgeht, um sich in ihr wiederzufinden, daß die Natur ein Spiegel seines ganzen reichen Gefühlslebens wird.

Und hier ist der Punkt, wo sich die Erklärung dafür ergiebt, daß in einer und derselben Epoche einerseits unter den bildenden Künsten die Malerei, und zwar speziell die Landschaftsmalerei, und andererseits die Musik eine solche Rolle spielt die Verwandtschaft liegt in dem Stimmungselemente. Denn da, wo die Malerei, wie in der Stimmungslandschaft, zu allgemeinsten, durch das Licht bedingten Farbenwirkungen gelangt, nähert sie sich, darf man sagen, der Tonkunst, bleibt sie auch immer durch eine im Wesen der Kunstarten begründete Kluft von ihr getrennt. Insofern nämlich die farbige Erscheinung ähnlichen Stimmungswerth erhält, wie das Material der Musik: der Ton, in dem das Gefühlsleben unmittelbar sich äußert, die Empfindung selbst Stoff des künstlerischen Ausdrucks wird. Der Vergleich ergiebt sich eben daraus, daß in einer solchen Landschaftsmalerei die Einzelbedeutung des Gegenständlichen, dessen bestimmteste Form in der menschlichen Erscheinung – denn diese ist die plastisch ausgebildetste – zu finden ist, gegen farbige Gesammtwirkung zurücktritt oder, besser gesagt, daß das Gegenständliche in weitgehendem Sinne subjektive Gefühlsfärbung erhält. So und nicht anders will es verstanden sein, wenn ich sage, die Malerei gelange hier an die Grenze des Gebietes, das der Musik besonders eigenthümlich ist. Immer aber haben wir, auf früher Gesagtes zurückgreifend, zu betonen, daß in der Malerei das Gegenständliche bleibt, mögen auch Bäume und Wasser und Wolken so unendlich in einander verschwimmen, wie in den Bildern van Goyens oder Salomon Ruysdaels. Das Gegenständliche bleibt und das Gegenständliche ist entscheidend für unsere Gefühlsauffassung. Der Wahn extremer moderner Richtungen, es vernichten und bloßen Farbenreizen die Wirkung von Tönen verleihen zu können, ist in der letzten Vorlesung gekennzeichnet worden. Das heißt den Gesichtssinn seiner edelsten Fähigkeiten berauben und zu nichtssagender Tändelei herabwürdigen, in dem er sich, zum Verzicht auf Erweckung sachlicher Vorstellungen gezwungen, auf ein bloßes Spiel mit Farbensensationen reduzirt sieht.

Auf diese Beziehungen zwischen Malerei und Musik sah ich mich genöthigt kurz einzugehen, einmal weil es für die Erkenntniß des historischen Zusammenhanges, in dem gewisse Erscheinungen in beiden Künsten stehen, wichtig ist, und dann weil ein Buch von G. Niemann [Fußnote] in welchem Böcklin mit Richard Wagner verglichen wird, von Meier-Graefe mit Hohn behandelt worden ist. Diese Schrift brachte geistvolle und tiefgreifende Bemerkungen über die eben berührte Frage, wenn auch der Verfasser sich hinreiften ließ, jene von mir hervorgehobene Grenze zwischen den beiden Künsten nicht zu beachten, sondern eine Wesensidentität der Landschaftsmalerei und der Musik zu behaupten wagte. Leicht war es, dies als die Idee eines Überspannten hinzustellen, wenn man nur das Extreme ins Auge faßte. Auf dies aber kommt es, wie Alfred Peltzer, der mit Schärfe das Bedeutende in dieser Schrift in einer Besprechung hervorhob, nachwies, nicht an, sondern auf die Darlegungen über jene geheimnißvolle Annäherung zwischen den beiden Künsten. –

Gewahrten wir, wie in der langen Entwicklung der Malerei das landschaftliche Element immer stärker in den Vordergrund tritt, so stellt sich nun im XIX. Jahrhundert als das wichtigste und entscheidende Ereigniß heraus: die künstlerische Neugeburt des Menschen aus der Landschaft. Dies ist die große That der neueren Kunst. Die Landschaft genügt den starken schöpferischen Geistern nicht mehr, sondern aus der landschaftlichen Stimmung heraus, heraus aus dem Unbestimmten, was die Landschaft doch an sich hat, sehnt sich der Künstlergeist wieder nach der bestimmten Gestalt des Menschen. Und so entsteht von Neuem ein mythologisches Schaffen. Die Natur ist von der Kunst erobert worden. In langem, heißem Sehnen ist der Mensch dahin gelangt, sie als Spiegel des Seelenlebens im Bilde hinstellen zu können. Und siehe da! der Augenblick kommt, da diese so beherrschte Natur wiederum, wie in den Zeiten der Gestaltung eines Volksglaubens, in menschliche Erscheinung verwandelt wird.

Wie konnte das in den Zeiten einer so vorgeschrittenen Civilisation möglich werden?

Es giebt hierfür wohl nur eine Erklärung. Das Suchen eines freien ursprünglichen Menschenthums ist es gewesen, welches, von der Liebe zur Natur und dem tief erkennenden Verständniß für sie veranlaßt und geleitet, zu solchen neuen Bildungen geführt hat. Diese Sehnsucht nach dem rein und ewig Menschlichen fand ihren ersten Ausdruck im XVIII. Jahrhundert. Im Widerspruch zu einer alle Wahrhaftigkeit bedrohenden unerträglichen Civilisation und Konvention! Mächtig und mit sich fortreißend ertönt der große Ruf der Seele nach Freiheit, nach einer Rückkehr zum Natürlichen aus dem Munde Rousseaus. Und was darauf folgte in Dichtung, Musik und Wissenschaft, war das Streben nach dem von Konvention und historischen Bedingungen befreiten idealen Menschen, das heiße leidenschaftliche Sehnen aller edlen Geister vornehmlich in Deutschland, es war der Schaffensquell Goethes und Schillers. Sehr begreiflich erscheint es, daß von diesem Drang nach Freiheit, nach der Hinstellung des Typischen, zunächst die Antike zum Vorbild gewählt wurde. Von ihm war Winckelmann begeistert worden, das Hellenenthum der Welt wieder zu erschließen, und mit Entzücken gewahrte man den griechischen Menschen, wie er, in ungestörtem Einklang mit der Natur, in freier harmonischer Bewegung der Glieder dahinschritt. Kein Wunder, daß man zuerst in ihm das Ideal verehrte und bei der Antike die Belehrung suchte. Dann kam das Andere, das Trachten nach dem ursprünglich Volksthümlichen, es kam die Romantik. Und wie nun auf dem Gebiete

der Dichtkunst dieser ewige Mensch erstrebt, geahnt und zuweilen in hellen Augenblicken des Erfassens gewahrt wurde, so bemächtigte sich auf den Wegen, die von den großen klassischen und romantischen Dichtern gewiesen wurden, der deutsche Musiker der gleichen Aufgabe, indem er vermittelst der eigensten Sprache der Germanen, der Sprache der Töne, der Sprache Beethovens, ihre Lösung findet, bis bin zu der Schöpfung des Menschen in dem Kunstwerk des tönenden Dramas. Zuerst in den Traumbildern der Zauberflöte, dann in den einfachen volksthümlichen Schilderungen Webers und schließlich, durch Gestaltung unserer uralten Vorstellungen aus mythischer Zeit, in den Werken der tragischen Bühne von Bayreuth. Nirgends wie in ihnen, in dem unvergleichlichen Hinstellen der reinen Typen alles menschlichen Wesens, offenbarte sich mit solcher Deutlichkeit, was die Sehnenden gewollt.

Nichts Anderes aber war es, was auch der bildenden Kunst im Klassizismus und im Romantischen vorschwebte. Und nun kam die Zeit – etwa um die Mitte des Jahrhunderts –, da die Möglichkeit freier Konzeptionen solcher Art durch die Ausbildung der Landschaftsmalerei, durch das Fortschreiten in der Farbenkunst gegeben ward, da auch in der Malerei der unbedingte Mensch, das der Natur innig verbundene Wesen gefunden ward!

Nicht allein in Deutschland ! Verwandte Erscheinungen zeigen sich in Frankreich und in England. Der Vergleich der Gestaltung dieser neuen Mythologie aus landschaftlichen Stimmungen heraus in den drei Ländern ergiebt aber wesentliche Unterschiede. Wir finden, daß in Frankreich eine sogenannte idealisirende Richtung sich zu eben der Zeit erhebt, als die Schule von Barbizon auf Grund eines Studiums der holländischen Malerei das Landschaftliche zu neuer hoher Bedeutung entwickelt, da Millet mit seinen feierlichen Darstellungen aus dem Bauernleben die Würde ursprünglichen Menschendaseins verkündet. Die Phantasie auch der Franzosen strebte damals in das Bereich des Allgemeinen auf, so bei Gustave Moreau, so besonders bei dem bis in unsere Tage noch nachwirkenden Puvis de Chavannes, der eine ideale Menschheit in einer großen Natur schilderte, und dem die Möglichkeit geboten wurde, die unseren deutschen Künstlern nicht gewahrt war, seine Vorstellungen in Wandgemälden zu formen. Analogieen hierzu bietet England in den Preraphaeliten, in Rossetti, Burne Jones, und in Watts, ein Sicherheben heraus aus der begränzten Wirklichkeit, aus bloßer Landschaftsstimmungsmalerei, wie sie so energisch und eindrucksvoll von Constable in Anknüpfung an die alten Holländer, so träumerisch visionär von Turner gestaltet worden war, hin zur idealen Menschenschilderung. Aber freilich gelangte man hier nicht zur völligen Freiheit, die Anschauung blieb gebunden durch Eindrücke der italienischen Kunst des XV. Jahrhunderts oder durch allegorische Spekulationen.

Bleibt der Deutsche hinter diesen Leistungen der Franzosen und Engländer zurück? Wie verhalt es sich damit? Deutsche Dichter, Denker und Musiker waren es, welche das Ideal des von Rousseau zuerst verkündigten natürlichen Menschenthumes in schöpferischen Thaten verwirklicht hatten, denen andere Völker nichts Gleiches an die Seite zu stellen haben. Sollte der Deutsche nicht auch in der Malerei etwas Größeres und Ursprünglicheres als der Franzose und der Engländer hervorgebracht haben? Ja! Unumwunden spreche ich es hier aus: Maler von der Originalität und Große der Formen- und Farbenanschauung, von der Energie innerlichen Erlebens, von dem Reichthum der Phantasie und von der Unabhängigkeit und Wahrhaftigkeit, wie Böcklin und Thoma, hat weder die französische, noch die englische Kunst aufzuweisen. Noch ist bis jetzt diese Erkenntniß nicht vorhanden. Aber so gewiß wir in den Werken der beiden Meister und namentlich Thomas mit jedem Jahre mehr jene Eigenthümlichkeiten erfassen, so gewiß wird sich die Wahrheit herausstellen, daß, wenn auch im Großen und Ganzen die französische Kunst bis zu den siebziger Jahren uns in vielen Dingen überlegen gewesen ist, sie Persönlichkeiten von dieser universellen schöpferischen Kraft nicht aufzuweisen hat. Vergleichen Sie die Werke des Puvis de Chavannes mit denen Böcklins oder Thomas, wie schwach, wie blaß, wie konventionell erscheinen sie! Vergleichen Sie die so reizvollen, ja bezaubernden Geschöpfe der englischen Preraphaeliten, die merkwürdigen Träume, die Watts gemalt hat, und Sie werden sagen müssen: wie weit sind sie entfernt von der Naturfreudigkeit, Natürlichkeit und Erfindungskraft unserer beiden Meister, wie sehr haftet ihnen ein Sentimentalisches, ein gewisser Manierismus an. Nein ! Wir haben, wenn auch diese deutsche Kunst noch nicht allenthalben anerkannt ist, allen Grund, stolz und selbstbewußt zu sein, und dürfen sie bei aller Gerechtigkeit für das Fremde mit Siegesgewißheit derjenigen anderer Völker gegenüberstellen! –

Welcher Art ist nun aber das Gegenständliche, das bei dieser Menschwerdung der Natur von Böcklin und Thoma in ihren Werken behandelt wird?

Da ist vor allen Dingen zu beachten, daß gewisse Vorstellungen, die von einer großen vergangenen Kultur eines Schöpfervolkes zu vollkommener Gestaltung gebracht worden sind, der Menschheit nicht mehr verloren gehen, daß das, was der Grieche, seinen Mythos schauend und formend, als ewig und typisch menschlich hingestellt hat, als solches auch immer weiter wirkt. Diese antiken Elemente sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen und bemächtigen sich des Geistes auch des höchst schöpferischen neuen Künstlers, der in mythologischem Sinne dichtet. Als Erstes also sind antike Elemente zu nennen. Wie charakteristisch aber der Unterschied zwischen diesen und den früheren antiken Darstellungen des XIX. Jahrhunderts ! Es sind nicht mehr die Götter- und Heldensagen, die behandelt werden, sondern, was aus dem Griechenthum genommen wird, sind die allgemeinen, aus der Natur heraus erfundenen Wesen, mit denen, könnte man sagen, die Natur ursprünglich bevölkert ward. Und weiter allegorische Vorstellungen, in denen, für alle Zeiten verständlich, auch ein allgemein Menschliches fixirt worden ist.

Das zweite Bereich der menschlichen und halbmenschlichen Erscheinungen, das von Böcklin und Thoma verwerthet ward, umfaßt Gestalten aus der germanischen Mythologie, darunter auch solche, die durch Sagen oder Märchen schon in älteren Zeiten eine bestimmte volksthümliche Form gewonnen haben.

Der dritte Stoff ist der christliche, aber in einem ganz bestimmten Sinn aufgefaßt, indem nämlich nicht das Christlich-historische, welches das Mittelalter hindurch die Künstler beschäftigt hat, als Vorwurf dient, sondern Alles, was in dem religiösen Stoff von allgemein und natürlich Menschlichem enthalten ist. In mythologischer Weise hatte die mittelalterliche und in Sonderheit die italienische Kunst das Christliche, in Analogie zum griechischen Götterkultus, ausgestaltet. Die Kunst Hans Thomas, den wir hierbei besonders im Auge haben, wählt aus der Bibel mit Vorliebe die Vorgänge, die den innigen Zusammenhang heiligen Wesens mit der Natur verdeutlichen, in Naturstimmungen ihre Symbolik finden. Ist es bezeichnend für sein Suchen nach dem ursprünglich reinen, harmonisch aller Keuschheit und Unschuld der Natur verbundenen Menschenthum, daß er immer wieder Adam und Eva im Paradiese schildert, so sprechen zu seiner Phantasie alle die Momente aus des Erlösers Leben, da dessen Wandeln und Lehren ihn im innigen Zusammenhang zugleich mit der Natur und mit der Menschenseele bringt: die Predigten, die er im Freien halt, die Gleichnisse, die Versuchung, die Gespräche mit der Samariterin und mit Nikodemus, auch die Szenen aus der Kindheitsgeschichte, – und das Mysterium des Opfertodes am Kreuze wird für ihn zu einem Weltenvorgang.

Aus diesem höheren Bereich mehr in die schlichten Niederungen des Daseins führt uns eine vierte Art der Darstellung des Menschlichen – dies freilich nicht bei Böcklin, sondern bei Thoma –, die Schilderung des Natürlichen in den ursprünglichsten Bedingungen der Kultur des Bauernlebens, das sich in Arbeit und Beschaulichkeit eng in den Rahmen der Naturvorgange einfügt.

Als letztes aber nennen wir endlich das Gebiet, auf dem die Phantasie dieser Künstler, von den inneren Seelenmächten befrachtet, am feinsten und erfinderischsten sich bethätigt, ein ganz Neues, bisher Ungeschautes formend. Hier zeigt sich die Stimmungen personifizirende Gestaltung in einer sinnreich spielenden und doch Geheimnißvolles offenbarenden Beschäftigung mit allen den Möglichkeiten einer Darstellung nie zu benennender, bald menschlicher, bald halbmenschlicher Wesen. Hier das, was wir als eine neue, von älteren Bildungen unabhängige Mythologie bezeichnen können, das unmittelbare Gestaltenschaffen aus Natureindrücken heraus. Eine wundervolle, unsere Einbildungskraft mit herrlichen ungekannten Vorstellungen bereichernde Welt!

Dies also sind die verschiedenen Bildungen, nach dem Gegenständlichen betrachtet, welche solchen Werken eigenthümlich sind. Dies ist das Schaffen, welches zu der Ursprünglichkeit dichterischer Belebung der Natur zurückkehrt, dies die Wiedergeburt des rein Menschlichen aus der Landschaft!

Dichterische Belebung! Zu dichten, das sollte, wie neuerdings behauptet wurde, dem bildenden Künstler unerlaubt sein? Damit träte er aus den Gränzen seiner Kunst heraus? Dichten ist die ursprünglichste aller künstlerischen Bethätigungen, es ist das Erste. Ohne Dichten – das dürfen wir den Gegnern der Kunst unserer beiden Meister entgegenhalten – ist niemals ein Kunstwerk geschaffen worden, weder der bildenden, noch der Tonkunst, aber Dichten in dem freiesten Sinne einer im Schauen gestaltenden Phantasie, welche, mit der Welt der Erscheinungen schaltend, diese und sich selbst den höchsten seelischen Bedürfhissen des Menschengeschlechtes dienstbar macht!