09 Wer ist Riegl?

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09 Wer ist Riegl?

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Wer ist Riegl?

Wer ist Riegl? fragt man da. Worringer kennt man, aber von Riegl weiß der Leser nichts. Ich kann es ihm nicht verdenken, da doch auch der kleine Brockhaus, der neueste, von 1914, von Alois Riegl nichts weiß, ebenso wie er von Franz Wickhoff noch nichts weiß: die beiden größten österreichischen Kunsthistoriker, die die Kunstgeschichte von Grund aus umgeformt, ja in einem gewissen Sinne erst zur Wissenschaft gemacht haben, sind ihm unbekannt geblieben. Es liegt ja schließlich nicht so viel daran. Wenn auch ihre Namen vergessen werden, ihre Gedanken sind noch höchst lebendig, überall fühlt man sie wirken, überall dringen sie durch, es erscheint heute kaum ein Buch über Kunst, das nicht, wissentlich oder unwissentlich, ihres Geistes wäre. Und es kommt ja wirklich nicht darauf an, in welchem Namen die Wahrheit geschieht. Auch waren beide, Wickhoff wie Riegl, Oberösterreicher und das ist ein Menschenschlag, der alles lieber mit sich allein abmacht, und wenn es getan ist, sich eher versteckt, um nur nichts mehr davon zu hören. Es wäre beiden nur recht, von der irdischen Unsterblichkeit unbehelligt zu bleiben.

Riegl, der 1905, siebenundvierzigjährig, als Generalkonservator der Zentralkommission für Erforschung und Erhaltung der Kunstdenkmäler starb, nachdem er erst elf Jahre lang am österreichischen Museum gewirkt (dessen geborener Leiter er gewesen wäre, weshalb er es nicht wurde), seit 1895 aber an der Wiener Universität Kunstgeschichte vorgetragen hatte, hat Sempers Macht über die deutsche Wissenschaft gebrochen. Semper erklärte den Stil jeder Zeit aus den technischen Bedingungen. Ihm war das Kunstwerk ein mechanisches Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik. Und das blieb es der deutschen Kunstwissenschaft (soweit sie überhaupt nach Gründen fragte und nicht bloß Ikonographie war), bis Riegl kam. Der empörte sich gegen dieses »Dogma der materalistischen Metaphysik« und hatte, selber ein rein vom Geist aus lebender Mensch, den Mut, um sich vor einer so mechanistischen Erklärung zu retten, eine teleologische zu wagen; er führt jedes Kunstwerk auf ein bestimmtes und zweckbewußtes Kunstwollen zurück, und zur Darstellung dieses Kunstwollens im Verlaufe seiner Erscheinungen in ihm alle Kunstgeschichte. Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik haben für ihn nicht die »positiv schöpferische Rolle«, die Semper ihnen gibt, sondern bloß eine »hemmende, negative: sie bilden gleichsam den Reibungskoeffizienten innerhalb des Gesamtprodukts«.

Das war Riegls erste große Tat: er hat uns wieder zwischen Kunst und Handwerk unterscheiden gelehrt, er hat die Kunst vom äußeren Zweck, dem sie schon zu erliegen schien, befreit, er hat aus der Kunstwissenschaft eine Geisteswissenschaft gemacht. Er erinnerte gern an den Titel einer verlorenen Schrift des heiligen Augustinus: »De pulchro et apto«, woraus er schloß, daß schon Augustinus den Kunstzweck rein von allem äußeren Zweck, sei es Gebrauchszweck, sei es Vorstellungszweck, schied, was für Riegl der Anfang aller Kunsterkenntnis war. (Seine ganze Darstellung der Ästhetik Augustins ist übrigens prachtvoll, sie steht in dem denkwürdigen Schlußkapitel seiner »Spätrömischen Kunstindustrie«, in der, ganz unerwartet, sozusagen alles steht, was man über die Kunst zu wissen braucht, was man braucht, um Kunst lebendig zu verstehen.)

Noch mehr aber gilt mir Riegls andere Tat. Er war der Erste, der erkannt hat, daß die ganze Kunstgeschichte vor ihm subjektiv war, indem sie an alle Betrachtung der Kunst stets mit einem Vorurteil ging, nämlich mit dem Vorurteil unseres noch immer an den für klassisch ausgerufenen Werken erzogenen und durch sie geblendeten Geschmackes, der nun jedes Kunstwerk, aus welcher Zeit immer, an jenen griechischen Erinnerungen mißt und es nur soviel gelten läßt, als es sich ihnen nähert, unbekümmert um seinen eigenen Willen, den es erfüllen soll. Riegl kennt deshalb überhaupt keinen »Verfall«. Er hat einmal das erlösende Wort ausgesprochen, »daß es Verfall tatsächlich in der Geschichte nicht gibt«, und er hat sich zu der »Überzeugung« bekannt, »daß es in der Entwicklung nicht bloß keinen Rückschritt, sondern auch keinen Haltpunkt gebe«. Diese große Kunstgesinnung (die natürlich jeder Künstler hat, die aber vor Riegl kein Kunstforscher hatte, nicht einmal Burckhardt (man denke nur etwa an Burckhardts erschreckendes Unverhältnis zu Berninis Teresa, einem höchsten Werke der Kunst, oder zu Tintoretto) hat ihn befähigt, der Entdecker der spätrömischen Kunst zu werden, die vor ihm so grotesk mißverstanden geblieben war, als »Verfallskunst« oder »Barbarisierung« (durch Eindringen der Barbaren in das römische Reich seit Marc Aurel) hochmütig abgetan, bis Riegl in ihr, gerade in ihrer verachteten »Unschönheit und Leblosigkeit« vielmehr »den naturnotwendigen Ausdruck eines großen unabwendbaren Schicksals« erkannt hat, »das der griechischen Kunst von allem Anfang an vorbeschieden, aber auch im Interesse aller künftigen Kunstentwicklung ebenso notwendig war als das Christentum im Interesse der allgemeinen Kulturentwicklung der Menschheit«. Denn eben durch jene geschmähte »Unschönheit und Leblosigkeit« ist es erst geschehen, daß »die antike Schranke der Raumnegation durchbrochen und die Bahn für die Lösung einer neuen Aufgabe frei gemacht wurde: der Darstellung der Einzelform im unendlichen Raum«. Doch das muß man in jenem Buche selbst nachlesen, das aufregend ist wie für mich kein anderes nach Goethes Farbenlehre vielleicht, der es auch im Vortrag gleicht: Entdeckungen von solcher Macht, daß man aufschreien möchte, werden mit der größten Gelassenheit, eher gleichgültig, ja fast nachlässig, am liebsten in Anmerkungen vorgebracht, wie wenn sie eigentlich als ohnedies altbekannt bei jedermann vorausgesetzt werden könnten.

Riegl war Wickhoffs, des Entdeckers der julisch-flavisch-trajanischen Kunst, Kollege an der Universität in Wien seit 1895, zur Zeit, wo Hugo Wolf noch lebte, Burckhard das Burgtheater, Mahler die Oper erneute, Hofmannsthal und Schnitzler jung waren, Klimt reif wurde, die Sezession begann, Otto Wagner seine Schule, Roller das malerische Theater, Olbrich, Hoffmann und Moser das österreichische Kunstgewerbe schufen, Adolf Loos eintrat, Arnold Schönberg aufstand, Reinhardt unbekannt in stillen Gassen Zukunft träumend ging, Kainz heimkam, Weininger in Flammen zerfiel, Ernst Mach seine populär wissenschaftlichen Vorlesungen hielt, Joseph Popper seine »Phantasien eines Realisten« und Chamberlain, vor der zerstreuenden Welt in unsere gelinde Stadt entflohen, hier die »Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts« schrieb ... Es muß damals in Wien ganz interessant gewesen sein.