20 Volksgesndheit

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Körperpflege und Volksgesundheit

Auch der Körper will sein Recht; dieser wichtige Faktor deutscher Bildung darf nicht vergessen werden. Wie sehr von gesundem »Blut« die gesunde Sittlichkeit abhängt, weiß jeder Menschenkundige; die Naturwissenschaft hat die Lehre von der Erbsünde längst bestätigt; aber die Sozialwissenschaft hat die sich daraus ergebenden Folgerungen noch nicht hinreichend gezogen. Tief bedeutsam ist es, daß Christus seinerzeit nicht nur ein geistiger, sondern auch ein körperlicher Heiland war; mens sana in corpore sano; körperliche Gebrechen schließen noch jetzt vom geistlichen Stande aus. Andererseits ist es das Gute am preußischen wie an allen Militärstaaten, daß der Körper in ihnen auch etwas gilt, während er im heutigen deutschen Gelehrtenstande häufig an seinen Rechten verkürzt wird. Bismarck und Mommsen z. B. sind nicht nur geistige, sondern auch körperliche Antipoden. Es ist charakteristisch, daß der letztere einmal vorgeschlagen hat: Denkmäler für geistig bedeutende Männer »nur in Büstenform« zu errichten; der Körper soll eskamotiert werden, er wird nicht mehr zur Persönlichkeit gerechnet; freilich mitunter aus persönlichen Gründen. Da dachten die Griechen anders und auch manche Moderne. Montaigue hat die anscheinend widersinnige, aber wirklich tiefsinnige Bemerkung gemacht, daß hochgewachsene Leute vorzugsweise hochherzig seien. Es ist dies eine Art von Weisheit des Leibes, welche man vielleicht noch nicht genug gewürdigt hat. Die Landsleute Bismarcks und Moltkes dürfen mit ihr zufrieden sein; und es ist schön, das Physische dem Geistigen so gleichgeordnet zu sehen. Die Harmonie der Welt ist größer, als man denkt. Daß der körperliche Idealismus im Leben eines Volkes keinen unwesentlichen Faktor darstellt, weiß jeder Geschichtskenner; das stetig heruntergehende Rekrutenmaß in dem heutigen Frankreich liefert den Beweis aus dem Gegenteil. »Vereine für Körperpflege« hat es auch in dem neuesten Deutschland gegeben; aber man hat sie wieder fallen lassen; auch hierin wird der deutsche Mensch sich neuzubilden haben. »Vor allem ist mir zuwider das ägyptische Hinbrüten, welches ich doch überall bei den Deutschen finde. Solange sie nicht eine breite Brust, helle Augen und elastische Glieder bekommen, solange sie nicht hellenisches Leben erhalten, werden sie auch nicht frei werden, keine Helden und Herolde des warmblütigen Lebens«, sagt Julius Mosen, dieser echte Volksmann und Volksdichter. Die Forderung gebiert die Erfüllung; und die Erfüllung gebiert neue Forderung. Möge es auch hinsichtlich des deutschen körperlichen Lebens sich so verhalten.

Das reine Wissen erschlafft durchweg den Menschen. Eine bekannte antike Porträtstatue, der sog. Aristoteles Spada ist hiefür sehr illustrativ; man hat neuerdings die Richtigkeit ihrer Benennung angezweifelt; jedenfalls stellt sie einen musterhaften Alexandriner dar. Sie gibt so recht ein Bild des grübelnden, unfrohen, sich selbst und die Welt zerfasernden Forschers. Ihm fehlt die geistige wie die körperliche Frische. Die schönste aller griechischen Porträtstatuen dagegen, die des sog. Sophokles vom Lateran, stellt in ihrer so äußerlich wie innerlich vollen, runden, geschlossenen Erscheinung ein Urbild echtester und gesundester Menschlichkeit dar; diese Gestalt erhebt, jene bedrückt den natürlich fühlenden Beschauer. Die letzten hundert Jahre deutscher Geistesentwickelung haben ähnliche Gegensätze gezeitigt; es ist ein weiter Abstand von den offenen und lebensvollen Zügen eines Lessing, Goethe oder selbst minder bedeutender damaliger Geistesgrößen bis zu dem doktrinär bebrillten Gesicht eines Virchow oder den kritisch zersetzten Zügen eines Mommsen. Gesichtsforschung gehört auch zur Geschichtsforschung. Der Mensch ist so wie er aussieht; sein und aussehen aber soll er menschlich.

Nach den gleichen Gesetzen, nach welchen der menschliche Körper aufgebaut ist, bewegt er sich; und seine Bewegungen sind als eine flüssige Architektur zu bezeichnen; sie kann und muß auch ihren Stil haben. An diesem nimmt die Umhüllung des Körpers teil. Die moderne Kultur ist, wie die moderne Kleidung, nur eine Vermummung; es wäre gut, wenn beide sich dem natürlichen Wuchs des deutschen Menschen wieder mehr anpassen wollen. Vielleicht wird dann mit dem Körper des Deutschen auch seine Tracht wieder zu ihrem alten Rechte gelangen – nämlich zur Buntfarbigkeit; auch in dieser Rücksicht ist das Natürliche so selten geworden, daß man es für unnatürlich hält. Bisher wird unter den Deutschen die Farbe im wesentlichen nur von den Kriegern, Künstlern und – Bauern vertreten. Bei den ersteren, vermittelst ihrer Uniform, in Wirklichkeit; bei den zweiten, durch ihre Werke, in der Phantasie; bei den dritten, durch die noch erhaltenen Lokaltrachten, als phantasievolles Eingehen auf die wirkliche Umgebung. Auch der deutsche Student bekennt teilweise noch »Farbe«. Man möchte wünschen, daß von ihm aus sich etwas »farbige« Gesinnung auch auf diejenigen deutschen Volksschichten verbreitete, die ihrer noch entbehren – die im grauen Philistertum dahinleben.

Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, in der sich der Deutsche mit bedauernder Verwunderung an diejenige Periode seiner Geschichte erinnert, wo er um seine verlorene politische und geistige Freiheit in dunklen Kleidern trauerte. Eine Hasenfellmütze ist sehr hübsch; aber man hält es jetzt nicht für »gebildet«, sie zu tragen; statt dessen verhunzt man den schönen Schmuck der Natur zu farb- und formlosen Zylinderhüten: hier hat man ein Symbol der heutigen deutschen Bildung. Also zurück zum Hasenfell! Letzteres ist nach Form und Farbe wie nach seiner hier einschlägigen inneren Bedeutung ein echt Rembrandtscher Vorwurf; es ist natürlich, künstlerisch, aristokratisch; der Zylinderhut ist unnatürlich, unkünstlerisch, ordinär. Er ist eine Kellner- und Bediententracht und birgt nur zu oft eine Kellner- und Bedientengesinnung. Deutsche sollen Männer sein. Epigonengesinnung ist immer Bedientengesinnung – gegenüber der Weltgeschichte; sie beweist einen Mangel an moralischem Mut; gerade wie jede Art von Weltschmerz ihn beweist. Körperliche, soziale und sittliche Schwäche hängen, in bezug auf die Gesamtmasse eines Volks, nahe zusammen. Bei einer Rückkehr zu wirklich gesunden Verhältnissen des inneren wie äußeren Lebens verschwinden solche pessimistischen Gespenster ohne weiteres.

Hüstelnde Bureaukraten können die Welt nicht regieren. In Holland, England, Nordamerika gelten diese auch nichts; in Deutschland immerhin noch etwas. Es sollte sich in dieser Hinsicht seine nordwestlichen Nachbarn zum Muster nehmen. Stellt man z. B. den heutigen deutschen Durchschnittsgelehrten neben den heutigen gebildeten Durchschnittsengländer, so fällt der Vergleich sehr zuungunsten des ersteren aus: dort mehr Wissen und Willensschwäche, hier mehr Können und Willensstärke; dieser gleicht einer Gans mit künstlich vergrößerter Leber, jener aber der Möwe, die kühn und frei ihre Kreise zieht – vor einem weltweiten Horizont. Die See befreit nicht nur den Geist und Charakter, sondern auch den Körper.

Etwas von dem antiken hellenischen Leben besitzen die jetzigen Engländer in ihrer Sportliebhaberei; sie sind besser geschult als die jetzigen Deutschen. Besonders sollten die letzteren darauf sehen, ihren Körper nicht durch Biertrinken allzu sehr aufzuschwemmen; die zahllosen Wirtshäuser könnten sonst für die Volksgesundheit leicht das bedeuten, was Bazillenherde für die Gesundheit des einzelnen sind; schon einmal, in der Zeit unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Kriege, haben die Deutschen ihren Geist und ihren Körper in vielem Biere erstickt. »Soll ich einen Schwamm heiraten?« frug Porzia die Nerissa, als diese ihr vorschlug, einen Deutschen zu heiraten. Ein wenig hiervon dürften sich auch die deutschen Studenten gesagt sein lassen; eine Reform ihres körperlichen Lebens, nach der Seite des englischen Sportes hin, würde ihnen sehr wohltun; und ebenso den übrigen erwachsenen Deutschen. Wenn es statt der 50 000 Schenklokale, die es im jetzigen Preußen gibt, dort 50 000 öffentliche Badeanstalten gäbe, so würde es um die physische, geistige und sogar sittliche Gesundheit seiner gesamten Staatsangehörigen besser stehen als jetzt. Denn körperliche und sittliche Reinlichkeit fordern sich gegenseitig. Es würde wahrscheinlich weniger Sozialdemokraten in Deutschland geben, wenn es dort mehr Bäder gebe. In der Vorsorge für sie würde der Staat zugleich panem und circenses bieten; ein Bad ist ein Genuß und eine Kur; ja man kann fast sagen, ein Nahrungsmittel. Es wäre zu wünschen, daß solche und ähnliche Bedürfnisse von einem deutschen »Wohlfahrtsausschuß« gefördert würden, der wie einst der französische gegen die Aristokratie, so nun für das Volk und damit indirekt auch für eine richtig verstandene Aristokratie wirken würde. Die Volksgesundheit im großen kann nicht genug gepflegt werden. Man hat die moderne Zeit treffend eine »Barbarei bei Gasbeleuchtung« genannt; sie ist brutal und wissenschaftlich zugleich: beides läßt sich recht wohl vereinigen; beides führt zur seelischen wie körperlichen Verkümmerung. Es ist ein Zeichen barbarischer Zeiten, wenn Kraft nicht mehr ohne Brutalität gedacht werden kann. Aber selbst die Brutalität erschöpft sich einmal; auch hier ist dem Deutschen das »schöne griechische Maß« zu empfehlen. Mit der körperlichen und geistigen Gesundheit würde dem deutschen Volke auch die Ruhe wiederkehren; sie ist eine griechische und eine aristokratische Eigenschaft; sie sollte eine deutsche Eigenschaft sein.

Jugenderziehung

Diejenige Erziehung, die ein Volk bewußt oder unbewußt durch seine edelsten Männer erfährt, ist die beste Volkserziehung. Und selbst ungünstige Umstände können hierbei zum Vorteil dienen. Was schon gebildet ist, kann nicht mehr gebildet werden, gibt also keinen Anlaß mehr zu lebendiger Schaffenstätigkeit; insofern ist die innere Unbildung, welche sich unter dem äußeren Scheine von Bildung im heutigen Deutschland vielfach verbirgt, sogar als ein Glück zu betrachten: dieser rohe Boden harrt der Bearbeitung, bedarf der Bearbeitung, dankt die Bearbeitung. »Besen werden immer stumpf gekehrt und Jungen immer geboren,« lautet ein Goethescher Orakelspruch; die Besen der heutigen deutschen Volkserzieher sind schon recht stumpf gekehrt; es wird bald von ihnen heißen: »Besen Besen, sei's gewesen« und neue »Jungen« werden die neue Zeit erleben. Auch Erziehungssünden, im einzelnen wie im ganzen, können getilgt, gebüßt, gehoben werden. Manche verstohlene Träne, die ein blondhaariges Kind sich heimlich aus den Augen wischt, dürfte noch einmal den erziehungswütigen Pedanten von heute schwerer aufs Gewissen fallen, als sie denken. Man wird seinen ärgsten Feind segnen, wenn er ein Kind im Arme hält und man wird seinem besten Freunde fluchen, wenn er ein Kind morden will. Hierdurch ist die Stellungnahme jedes echten Deutschen zur heutigen Erziehungsfrage geregelt: er wird in seinen Kindern die Zukunft seines Volkes zu verteidigen haben; er wird nicht dulden dürfen, daß sie dem Moloch einer falschen Bildung zum Opfer gebracht werden. Er darf sie nicht verkrüppeln, verbilden, quälen lassen. Deutsche Kinder sieht man jetzt, auf ihrem Schulwege, ganze Bibliotheken unterm Arme tragen; hier kann man buchstäblich sagen: qui trop embrasse, mal étreint. Wirklich ist nirgends so, wie in Deutschland, von jeher die jugendliche menschliche Seele mißhandelt worden. Die Zeit eines entarteten Scholastizismus, die Zeit des Pennalismus, die Gegenwart beweisen es; wann werden die deutschen Erzieher endlich mündig werden? Wann werden sie einmal anfangen, den Körper und die Seele ihrer Zöglinge zu bilden? Einige Turnstunden wöchentlich besagen für den jugendlichen Körper nichts; einige patriotische oder salbungsvolle Redensarten täglich besagen für die jugendliche Seele nichts: beide wollen frei und männlich, wollen adelig erzogen sein. Ein Grundschaden des heutigen deutschen höheren Schulunterrichts besteht darin: daß der Lehrer seine Schüler nehmen muß, wie sie kommen; daß er sie sich nicht auswählen kann; daß also zwischen beiden nur in den seltensten Fällen ein dauerndes und intimes, d. h. individuelles Verhältnis möglich wird. Der Lehrer sollte Künstler sein und ist – Fabrikant. Weit besser als die heutige Gymnasialerziehung war die mittelalterliche Pagenerziehung; es wäre zu wünschen, daß sie in moderner Form wiederauflebte; daß man auch hier wieder zum Prinzip der Persönlichkeit zurückkehrte. Durchführbar ist dieses freilich nur für eine edle Minderheit der Nation. Aber damit würde das Prinzip der allgemeinen Dressur durchbrochen; ebendarauf kommt es jetzt an. Und was von der allgemeinen, gilt auch von der Künstlererziehung; jeder tüchtige Künstler von heute weiß, daß die einstmalige Sitte der Künstler, bei einem bestimmten Meister in die Lehre zu treten, der heutigen Dressur durch die Kunstakademien weit vorzuziehen ist; daß letztere ihren jugendlichen Zöglingen das Genie auszutreiben pflegen, wie und wo sie nur können; daß sie oft geistiges Eunuchentum fördern. Der Staat bezahlt häufig genug die Kunstakademien, damit sie die Kunst ruinieren. Der überwiegend geist- und seelenlose Charakter der heutigen deutschen Kunst, sowie die starke »Konkurrenz« auf dem Kunstmarkte rührt ganz besonders von jenen Verhältnissen her; man erzieht nicht nur ein materielles, sondern auch ein geistiges Künstlerproletariat. Kurz, mit der heutigen deutschen Jugenderziehung verhält es sich wie mit Rolands Stute; sie hatte alle denkbaren Vorzüge, die ein Pferd haben konnte – und nur den einen Fehler, daß sie tot war. Mehr als irgendwo gilt hier das men, not measures. Einer Reform der deutschen Jugenderziehung muß dieser Satz zugrunde gelegt werden; ohne ihn wird man zu nichts kommen. Wie sehr es im heutigen deutschen Schulwesen an »Männern« fehlt, hat seinerzeit die auf kaiserliche Order berufene Schulkonferenz gezeigt.

Man ruft nicht umsonst nach Schulreform. Der überkritische Philologe von heute zeigt sich auch ihr gegenüber oft als unkritisch; zumal bezüglich der sogenannten klassischen Bildungselemente; man scheidet die griechischen nicht genug von den römischen. Eine Kunst der Römer hat es nie gegeben; der überwiegend alexandrinische Ursprung ihres Baustils ist neuerdings erwiesen worden; der geistige Wert ihrer Literatur aber ist, gegenüber demjenigen der griechischen und deutschen, ein verschwindender. An den deutschen Gymnasien sollte das römische Bildungselement gegenüber dem griechischen, d. h. der Buchstabe gegen den Geist zurücktreten. Wird daneben vorwiegend Deutsch, Geschichte, Mathematik getrieben, so läßt ein im wesentlichen auf diese vier Unterrichtsfächer gestützter Lehrplan die günstigsten Erfolge hoffen. Körperliche Spiele, nach englischer Art, und obligatorische öftere Bäder müßten hinzukommen; aller andere Ballast aber sollte einfach weggeworfen werden. Ohne einen kräftigen Schnitt geht es hier einmal nicht ab. Die religiöse und sittliche Anleitung dagegen wäre mit allen Unterrichtsfächern gleichmäßig zu verbinden. Endlich müßte die Schülerzahl auf eine Minorität wirklich begabter Kinder von einheimischer Abstammung beschränkt werden; nur so kann der Unterricht den Lehrern zur Freude und den Lernenden zum Nutzen gereichen. Das überschüssige Schülermaterial wäre etwa an eine Einheitsschule, neben und unterhalb welcher die Volksschule ruhig weiterbestehen könnte, abzugeben; und erstere würde, wie das Gymnasium, in ihren höheren Klassen die Berechtigung zum Einjährigendienst verleihen. Das Gymnasium wird dadurch wieder zu dem gemacht, was es ursprünglich in Deutschland war, eine Minoritätsschule. Ihr und nur ihr läßt sich ein individueller Charakter aufprägen. Sie kann die Geburtsstätte von Männern sein, welche charaktervoll Geschichte machen und charaktervoll Geschichte schreiben.

Volksseele und Herzensbildung

Eine Bildung, die keinerlei Herzenstöne anschlägt, ist tot. Daß diese Töne in der landläufigen deutschen Bildung so gut wie ganz fehlen, weiß jedermann; und jedermann kann die entsprechenden Folgerungen daraus ziehen. Der Mensch bedarf der Wissenschaft, wie des täglichen Brotes; aber er lebt nicht von Brot allein; und wenn es die Bäcker hundertmal predigen. Es steht anders – und besser. Die Kinder, das Volk, die Griechen sind drei verjüngende Quellen, aus welchen die deutsche Bildung schöpfen darf und soll. Wo findet man die Griechen? In ihren Werken. Wo findet man das Volk? In seinen Liedern. Wo findet man die Kinder? Überall. Nur aus dem Mutterschutz des allgemein Menschlichen kann das Kind mit den hellen Augen, die neue deutsche Bildung, geboren werden.

Die gedachten wie gelebten, die poetischen wie historischen Ideale eines Volkes entwachsen einem gemeinsamen Boden: der Volksseele. Solange der eingeborene Erdcharakter des deutschen Volkes gepflegt und erhalten wird, wird auch dieses selbst gedeihen. Übelstände vermögen ihm wohl zu schaden, aber nicht es zu vernichten. Wie sich in einem gesunden Körper von einem Punkt aus Fäulnis, so kann sich auch in einem kranken Körper von einem Punkt aus Gesundheit verbreiten; es kommt nur darauf an, ob die regenerative und rekreative Kraft dazu noch vorhanden ist; und diese fehlt dem deutschen Volkskörper nicht. Rembrandt ist ein solcher gesundheitverbreitender Punkt; die heilende Kraft der Scholle spricht aus ihm; sie ist selbst einem »Ozean von Erbärmlichkeit« gewachsen. Bauernseele ist Volksseele. Der Mensch, in seiner urtümlichsten Lebensform, ist Bauer; je befreundeter die Kultur des Geistes und des Bodens einander bleiben, desto besser ist es für beide; Land und Leute, Leib und Seele gehören zusammen. Die Rückkehr zu einem gesunden Individualismus steht dem Deutschen immer frei, mögen die Zeiten sonst sein, wie sie wollen; und den Weg zu ihm wird er finden, wann und wo er sich von der Erde – der ihm angeborenen Eigenart, zum Himmel – dem Reich höchster Ideale emporwendet. Schlägt die heutige Bildung ernstlich diese Richtung auf Rembrandt hin ein, so wird sie sich bald mit dem Volksgeist, der stets dem Erdgeist verwandt erscheint, wieder in Übereinstimmung befinden; sie wird zu alten und fälschlicherweise verachteten Vorstellungen zurückkehren. Sie wird finden, daß diese nicht verachtet, sondern geschätzt werden müssen. Man hat oft genug geleugnet, daß es einen persönlichen Teufel und einen persönlichen Gott gebe; aber wenn das Persönliche, das Individuelle in allem Welt- und Geistesleben die höchste Kraft ist – wie sie es tatsächlich ist –, so müssen auch umgekehrt die höchsten Potenzen innerhalb dieses Gebietes selbst sich dem klaren und wahrheitliebenden Blick zu bestimmten Persönlichkeiten verdichten. Die Proteste der Halbbildung hiergegen besagen nichts; »den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie am Kragen hätte«. Es kommt viel weniger darauf an, die »konventionellen Lügen«, als die ewigen Wahrheiten der Kulturmenschheit zu betonen. Die Kontinuität des Volkslebens zu wahren, darauf kommt alles an. Alte Volksrechte aus der Erde zu graben, ist eine Hauptaufgabe der Gegenwart; und eines der ersten und wichtigsten Grundrechte des deutschen Volkes ist das Recht auf eine durch und durch einheimische Kunst, auf ein durch und durch einheimisches Geistesleben. Dabei hat das, was innerlich ersten Ranges ist, auch äußerlich den Ton anzugeben: das deutsche Herz! Nur eine Bildung und eine Kunst, welche das deutsche Herz als wahrhafte Autorität anerkennt, kann dem inneren Leben der Deutschen eine glückliche Zukunft verbürgen. Auf diesen Punkt gilt es, den Kurs des Schiffes zu lenken; dann wird es an allen Klippen vorbeikommen; auch an der Klippe jenes kühlen Geistes eines Friedrich II. und Lessing, welcher wohl in der Politik, aber nicht im Geistesleben dauernd herrschen soll.

Der Geist der deutschen Bildung kann erst wieder lebendig werden, wenn er wieder deutsches Blut in sich aufnimmt. Ein Gehirn, das blutleer ist, vermag nicht zu denken; eine Philosophie, die nicht volkstümlich ist, beraubt sich eines großen Teiles ihrer Wirkung; die edelsten und tiefsten und dunkelsten Instinkte der Volksseele sollen durch jede Art von Geistestätigkeit hindurchschimmern, wie das Blut durch die Haut. Ein Denkerantlitz, dem der rosige Anhauch von Mystik fehlt, ist nicht gesund. Von Bauern und Königen wurde der neugeborene Heiland der Welt Zuerst verehrt; »Bauern und Könige«, im wörtlichen wie geistigen Sinne, werden auch der wiedergeborenen deutschen Bildung zur Seite stehen müssen, wenn sie gedeihen soll. Vielleicht entschließen sich noch die Weisheitssucher von heute, einem solchen Zeichen zu folgen und ihre Knie vor dem zu beugen, was besser ist als sie: vor dem Heil, das aus der Niedrigkeit kommt! Die deutsche Bildung, welche so lange zum Abstrakten und Glänzenden hinaufgegangen ist, muß nunmehr wieder zum Schlichten und Konkreten heruntergehen; sonst könnte sie sich, gleich einer zu hoch gespannten Stimme, überschlagen. Je niedriger der Deutsche seinen Standpunkt nimmt, um zu den höchsten Zielen zu gelangen, um so weiter wird er es bringen: Mit der durchmessenen Distanz des inneren Aufschwungs wächst die entsprechende geistige und sittliche Leistungsfähigkeit. Nicht umsonst hat Goethe betont, daß er es sich zur Aufgabe gemacht habe, die tiefsten Sachen stets in der einfachsten Form zu sagen; dadurch hat er sich die Herzen der Deutschen gewonnen. Er dichtete, dachte, redete, baute von unten herauf. Diese Art von Entwickelung ist eine ganz besonders deutsche; sogar im reinsten Wortsinn; denn deutsch, thiutisco, heißt ursprünglich »volkstümlich«: sein Name schon ruft dem Deutschen zu, volkstümlich zu sein. Diese urdeutsche Volkstümlichkeit entspricht durchaus dem urdeutschen Aristokratismus.

Das größte Problem der Gegenwart ist: den so gewaltig klaffenden Riß zwischen Gebildeten und Ungebildeten zu überbrücken; vermittels der bisher so beliebten Halbbildung läßt es sich aber nicht lösen. Nicht von oben aus rekonstruiert man Häuser und Nationen; nur wenn der Volksboden seine schöpferischen Tiefen auftut, kann neues geistiges Leben in Deutschland erblühen. Die jetzige deutsche Gelehrtenbildung muß zu einer künftigen deutschen Volksbildung werden; nicht nur Goethe, sondern auch andere Dichter haben das vorausgesehen und sich im voraus zu dieser Entwickelung bekannt. »Ich bin kein Gelehrter, ich selber bin Volk,« sagt Heine; und eben diesen Standpunkt vertrat politisch ein Bismarck, als er erklärte: »Die Regierung ist auch Volk.« Die Begriffe Staat und Volk, Volk und Gebildete sollen nicht zu künstlichen Gegensätzen verschärft, sondern zu natürlicher Harmonie ausgeglichen werden. Darin gipfelt alle Einzel- wie Volkserziehung: nicht zu entzweien, sondern zu versöhnen: das Unten und Oben, das Außen und Innen des Menschenlebens zur Einheit zusammenzufassen! Vor diesem Ziele verschwinden alle Berufs- und Standesunterschiede: nur Menschen begegnen den Menschen; hoch und nieder reichen sich die Hände.