1937 Grenzen des Surrealismus

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Breton, André

Nicht-ausschließende Grenzen des Surrealismus

(1937)

 

Die internationale Ausstellung des Surrealismus in London, die vor einigen Monaten zu Ende ging, aber das Vorspiel für das Auftreten und die Aktivität einer jetzt in England gebildeten und in engem Kontakt mit den ausländischen Gruppen stehenden surrealistischen Gruppe war, bezeichnet den Höhepunkt der Wirkungs-Kurve unserer Bewegung, einer Kurve, die im Laufe der letzten Jahre immer steiler anstieg. Wie Guillaume Apollinaire gesagt hat: »Man kann sich nur schwer vorstellen, wie dumm und schläfrig der Erfolg die Leute macht.« Aber der Surrealismus ist von der Bekräftigung seiner ersten unveränderlichen Prinzipien her immun gegen diese Art Abstumpfung. Wenn hier von Höhepunkt die Rede ist, dann in der Absicht, eine Vorstellung von den Grundlinien zu vermitteln, deren Schnittpunkt dieser außerordentlich signifikante Höhepunkt ist, und zu helfen, ihn innerhalb der Koordinaten von Raum und Zeit einzuordnen. Die Erklärung dieser einzigen Absicht sollte genügen, ihn von jedweder Beschuldigung freizusprechen, er mache nur Lärm, und dafür sorgen, daß er ohne Zwischenfall und ohne Beweihräucherung seinen Gang nehmen kann. Die internationale Ausstellung des Surrealismus wird in dem Augenblick eröffnet und erlebt einen Erfolg, in dem die Arbeiter Frankreichs die Fabriken massenhaft besetzen, wobei sie eine für sie völlig neue Methode des Kampfes anwandten und allein durch die Gleichzeitigkeit ihres Handelns mit den ersten Forderungen Erfolg haben. Die Spontanität und Gewaltsamkeit dieses Aufbruchs (für den mit Recht keine der politischen Parteien die Verantwortung übernimmt), die Eigenart der begonnenen Aktionen, die sich wie ein Ölfleck ausbreiten, der Eindruck, der davon ausgeht, daß nämlich nichts sie daran hindern kann, ihre unmittelbaren Ziele zu erreichen, die schreiende Blamage, die sie denen beibringen, die seit dem Krieg dem französischen Proletariat jede Militanz abgesprochen haben, und schließlich der Präzedenzfall, den sie schaffen — ein Präzedenzfall, der der Bourgeoisie konkret zeigen sollte, daß das Ende ihrer Herrschaft in Sicht ist —: all das muß den Hellsichtigen klarmachen, daß ›die französische Revolution begonnen hat‹. Unter diesen Umständen, ich wiederhole es, wurde unsere Ausstellung in London eröffnet, und als sie geschlossen wurde, konnten wir bereits einen anderen, nicht weniger beunruhigenden und erregenden Zug der Aktualität wahrnehmen: Eine Offensive der Konterrevolution gefährdet alles, was jenseits der P yrenäen an Wohlbefinden, Freiheit und Hoffnung der feindseligen Erstarrung der Jahrhunderte entrissen worden war. Jedermann kann sich überzeugen, daß es um eine entscheidende Auseinandersetzung geht, bei der weit mehr auf dem Spiel steht als das Schicksal der spanischen Republik. Es geht um die Frage, ob der Mensch dazu verurteilt ist, eine Beute des Menschen zu werden, ob die Anstrengung, diesem Schicksal zu entgehen, nicht ein atemloser Lauf von Falle zu Falle ist, oder ob es, im Gegenteil, zunächst von seiner Energie, sodann von seiner Wachsamkeit abhängt, daß sich der Griff der Hydra löst und daß ihr Köpfe nicht mehr nachwachsen. Wenn in der Stunde, in der ich schreibe, ohne jeden Zweifel die französische Revolution begonnen hat, so ist es zugleich und nicht minder gewiß, daß die spanische Revolution jetzt ihr höchstes Stadium erreicht. So haben wir die Möglichkeit, diese Revolution, die in ihrem Kern nur ein und dieselbe sein kann, in zwei verschiedenen Stadien zu verfolgen und dabei zu erkennen, daß es, wenn schon zeitweilig gewisse Formen von Ausbeutung sich durchsetzen, weil wir die Hände in den Schoß legten, erst recht der Bewaffnung dieser Hände bedarf, um die Rückkehr dieser Ausbeutung in sehr viel dreisteren und noch schlimmeren Versionen zu verhindern. So gesehen ist es durchaus richtig gewesen, auf die Arbeitermilizen zurückzugreifen, jene Milizen, deren Aufstellung eine revolutionäre Minderheit in Frankreich für sich in Anspruch nimmt, und zwar zur erheblichen Beunruhigung der Volksfrontregierung, die nicht übersehen kann, daß das Auftreten der Milizen, wie man vom Krieg gesagt hat, »die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« bedeutet, und die den Zeitpunkt so weit wie möglich hinausschiebt, an dem sich die soziale Krise entscheiden muß, an dem Ort, an dem sie allein sich entscheiden kann: auf der Straße. Ich sage, daß die jüngste Aktion der französischen Arbeiter und die noch viel einschneidendere der spanischen Avantgarde zwei notwendig aufeinander folgende Phasen einer einzigen Bewegung darstellen. Es ist außerordentlich wichtig, darauf zu achten, daß diese Bewegung einem unerbittlichen Imperativ gehorcht, der sich nicht um politische Voraussagen kümmert und über den Widerstreit der Parteiparolen hinausweist. In dieser besonderen Phase seiner Entwicklung kann der Surrealismus nicht von den gegebenen Umständen abstrahieren, wenn er nicht den Kopf der Geschichte aus dem Blick verlieren will. Jenseits der Zwänge, die sich die Menschen auferlegen, um in »Todeseinheiten« dem zu dienen, was sie für die Wahrheit halten, dreht sich die Erde um ihre Achse aus Sonne und Nacht. Nichts kann verhindern, daß für den Surrealismus der letzte Blick der Männer und Frauen, die im Juli 1936 vor Saragossa gefallen sind, die ganze Zukunft spiegelt — die ganze Zukunft und damit auch das, was der Surrealismus als einzige zur Zeit international organisierte, geschlossene intellektuelle Unternehmung an absoluter Hoffnung auf die Befreiung des menschlichen Geistes mit diesem Wort verknüpfen kann. In einer solch undurchsichtigen Epoche, in der Europa — oder die Welt, wer weiß — sich von einem Au genblick zum anderen in einen Aschenhaufen verwandeln kann, ist es nur zu verständlich, daß eine Ausstellung wie die Londoner für viele, die das Ganze von außen beurteilen, nach »Bal des Ardents« aussieht und eine überaus verdächtige Neugier erregt. Ihren Erfolg leiten wir auch nicht aus der Tatsache ab, daß diese Neugier von zwanzigtausend Besuchern geteilt wurde und daß sie in der englischen Presse den lautesten Widerhall gefunden hat. Dieser Erfolg liegt in etwas anderem begründet: in der Breite und Strenge der Demonstration, die die Ausstellung bedeutet, also darin, daß der Surrealismus heute auf dem besten Wege ist, unter seinem Namen die Bestrebungen der das Neue suchenden Schriftsteller und Künstler aller Länder zu vereinen — die Aussteller stammten tatsächlich aus vierzehn Nationen; dabei mußte auf manchen besonders bedeutenden Beitrag wie den japanischen verzichtet werden —, und diese Einigung, die weit mehr ist als eine Einigung dem Stile nach, entspricht einem neuen gemeinsamen Bewußtsein vom Leben. Man darf mir glauben, daß von Anfang an nichts unversucht gelassen wurde, denen die Lust zu nehmen, sich auf den Surrealismus zu berufen, die nicht einem grundlegenden und unteilbaren Zusammenhang von Sätzen zustimmten, an den hier kurz erinnert sei:

 

1. Zustimmung zum dialektischen Materialismus, dessen Thesen sich die Surrealisten allesamt zu eigen machen: Primat der Materie vor dem Geist, Anerkennung der Hegelschen Dialektik als Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungsgesetzen sowohl der äußeren Welt als auch des menschlichen Geistes, materialistische Geschichtsauffassung (»Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens.«); Notwendigkeit der sozialen Revolution als Endpunkt des Antagonismus, der sich auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung zwischen den materiellen Produktivkräften der Gesellschaft und den bestehenden Produktionsverhältnissen ergibt (Klassenkampf).

2. Marx und Engels (1) zufolge ist es absurd zu behaupten, daß der ökonomische Faktor der allein bestimmende Faktor sei, es ist dies vielmehr »in letzter Instanz die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens«. Da »die verschiednen Momente des Überbaus [...] auch ihre Einwirkungen auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe« haben »und in vielen Fällen vorwiegend deren Form« bestimmen, mag sich die intellektuelle Arbeit gezielt auf die Bereicherung dieses Überbaus richten, wobei der Überbau ihr nur um diesen Preis das Geheimnis seiner Zusammensetzung preisgibt. Es geht darum, den Weg zu zeigen, der ins Innere jener »Zufälle« führt (um bei der Terminologie jener Autoren zu bleiben), durch deren Masse hindurch sich die »wechselseitige Aktion und Reaktion« der Faktoren abspielt, die die Bewegung des Lebens bestimmen.

Der Surrealismus behauptet, diesen Weg gebahnt zu haben. Nichts ist weniger willkürlich als die Richtung, die er einschlägt, wenn man sich vor Augen führt, daß er nur das logische, notwendige Resultat aller Wege der großen geistigen Abenteuer sein kann, die bis heute aufgezeichnet worden sind. Seit der Veröffentlichung des Ersten Manifests des Surrealismus im Jahre 1924 bin ich nicht müde geworden, diese mehr oder weniger einsamen, mehr oder weniger unebenen Wege zu markieren und die Aufmerksamkeit auf ihr Zusammenlaufen zu lenken. Erst kürzlich habe ich zu zeigen versucht2, daß einem offenen Rationalismus, der die gegenwärtige Position der Wissenschaftler prägt (im Gefolge der Konzeption der nicht-euklidischen Geometrie, der nicht- newtonschen Mechanik, der nicht-maxwellschen Physik etc.), ein offener Realismus oder Surrealismus entsprechen mußte, der den Verfall des cartesianisch-kantianischen Gebäudes einleitet und die Sensibilität von Grund auf erschüttert. Ohne sich untereinander abzusprechen, ja ohne einander zu kennen, eröffneten Isidore Ducasse und Arthur Rimbaud der Poesie eine neue Spur, indem sie systematisch die gewohnten Formen, dem Spektakel der Welt und ihrer selbst zu begegnen, in Frage stellten und sich kopfüber ins Wunderbare stürzten. Es fällt auf, daß sie diese Haltung zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 ausbildeten, das heißt in der Periode des großen Vorspiels der proletarischen Revolution, das der Krieg möglich gemacht hat. Dieser Umstand muß um so mehr zu denken geben, als es ebenfalls der Umkreis eines Krieges, nämlich des Weltkrieges war, in dem die entscheidenden Interventionen Picassos und Chiricos in der Malerei zu datieren sind, in deren Folge sich die visuelle Vorstellungskraft des Menschen verändert hat. Die großartigen Entdeckungen Freuds kommen im rechten Augenblick, um den Abgrund für uns auszuleuchten, der sich nach der Abdankung des logischen Denkens und im Gefolge des Zweifels an der Verläßlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung auftat. Was sie uns über die Natur der menschlichen Beziehungen offenbaren, gefährdet die Institutionen, die bisher als besonders beständig erschienen, angefangen mit der Familie, und läßt die Begründung einer wirklichen Wissenschaft der Sitten auf den Trümmern einer lächerlichen Moral erwarten. Es darf nicht vergessen werden, zusammen mit diesen verschiedenartigen Tendenzen, die sich in der Entstehung des Surrealismus treffen, zwei besondere Wahrnehmungsweisen zu erwähnen, die fraglos sehr viel ältere Ursprünge haben und sich zu zahlreichen Vorläufern bekennen: Die erste dieser Wahrnehmungsweisen findet ihren Ausdruck im objektiven Humor, im Sinne der Hegelschen Synthese aus der Begrenzung der Natur durch ihre zufälligen Formen einerseits und dem Humor andererseits. Der Humor, als paradoxer Triumph des Lustprinzips über die realen Verhältnisse, muß natürlich in einem Augenblick, in dem diese Verhältnisse äußerst prekär erscheinen, in der von Bedrohungen überschatteten Epoche, in der wir leben, eine defensive Note annehmen. Der englische Leser ist dank Swift und Lewis Carroll besser als jeder andere in der Lage, die Quellen dieses Humors zu achten, der in Frankreich mit dem Namen Alfred Jarry verknüpft ist und der um die Ursprünge des Surrealismus geistert (Einfluß von Jacques Vaché und Marcel Duchamp). Die zweite Wahrnehmungsweise kommt aus dem Bedürfnis, bestimmte Lebenssituationen eindringlich zu befragen, die gleichzeitig einer wirklichen und einer idealen Folge von Ereignissen anzugehören scheinen, und die den einzigen Beobachtungsposten bilden, der uns im Innern jenes geheimnisvollen geistigen Guts von Arnheim geboten wird, das der objektive Zufall ist, von Engels die »Erscheinungsform der Notwendigkeit«, genannt. Novalis, Achim von Arnim, Gerard de Nerval und Knut Hamsun hatten bereits diesen Punkt erobert, aber die Angabe des Orts, den sie uns beschreiben wollten — unter dem Gesichtspu nkt der Erkenntnis ist die Ortsangabe für uns das Wichtigste —, verlor sich bei ihnen in ihrer eigenen Verzückung. Ich meinerseits habe mich bemüht, bei der Vermittlung solcher Klassen von Sachverhalten die Bedachtsamkeit und Strenge zu bewahren, die bei medizinischen Beobachtungen walten3. Objektiver Humor, objektiver Zufall: dies sind, genaugenommen, die beiden Pole, zwischen denen der Surrealismus, wie er glaubt, die längsten Lichtbögen erzeugen kann.

Ein Weg wie derjenige, den der Surrealismus vorschlägt, wäre unvollständig bezeichnet, wenn man sich darauf beschränkte, anzugeben, welche anderen Wege er kreuzt und wohin er führt. Die Art des Fahrzeugs, das ihn befährt, bleibt noch zu beschreiben. Dazu muß man herausfinden, ob die verschiedenen, eben benannten geistigen Schritte, die der Surrealismus tut und als deren Summe er sich versteht, ein gemeinsames Maß besitzen. Nun hat uns am meisten daran gelegen, zu zeigen, daß dieses Maß existiert: diese Konstante, dieses Fahrzeug ist der Automatismus. Durch nichts anderes als den Rückgriff auf den Automatismus lassen sich, so darf man hoffen, alle Antinomien außerhalb der ökonomischen Sphäre auflösen, die schon vor der Gesellschaftsformation, in der wir leben, existiert haben und die sehr wahrscheinlich mit ihr nicht verschwinden werden. Diese Antinomien verlangen nach ihrer Aufhebung, weil sie durch die Herrschaft, die in ihnen steckt und die tiefer reicht und endgültiger ist als die zeitbedingte Herrschaft, als Schmerz empfunden wird, und weil dieses Leiden die Menschen nicht mehr als ein anderes zur Resignation treiben darf. Diese Antinomien heißen Wachzustand und Schlaf (Realität und Traum), Vernunft und Wahnsinn, Ojektives und Subjektives, Wahrnehmung und Vorstellung, Vergangenheit und Zukunft, Gemeinschaftsgeist und Liebe, Leben und Tod.

Mit all dem Nachdruck, mit dem wir, unter Berufung auf berühmte Beispiele der Vergangenheit, leugnen, daß die Kunst einer Epoche in der bloßen Imitation der äußeren Verkleidung dieser Epoche bestehen kann, weisen wir die Konzeption des »sozialistischen Realismus«, der dem Künstler ausschließlich die Malerei des proletarischen Elends und des proletarischen Befreiungskampfes vorzuschreiben sucht, als falsch zurück. Diese letzte These steht übrigens in offenkundigem Widerspruch zur marxistischen Theorie: »Je mehr die Ansichten des Autors verborgen bleiben«, schreibt Engels im April 1888 an Miss Harkness, »desto besser für das Kunstwerk.« Wir bestreiten nachdrücklich, es könnte ein Kunstwerk, ja auch nur ein Werk der Gebrauchskunst entstehen, wenn einzig der manifeste Inhalt einer Epoche zum Ausdruck gebracht werden soll. Was sich der Surrealismus dagegen vornimmt, ist die Exploration ihres latenten Inhalts. Das »Phantastische«, das auf denkbar radikale Weise die Umsetzu ng einer Parole wie der des »sozialistischen Realismus« ausschließt und auf das sich der Surrealismus ständig beruft, bildet für uns den Schlüssel par excellence, um diesen latenten Inhalt zu erforschen, und zugleich das Mittel, den geheimen geschichtlichen Grund zu erfassen, der hinter dem Geflecht der Ereignisse verschwindet. Erst im Angesicht des Phantastischen, wenn die menschliche Vernunft ihre Kontrollmacht verliert, vermag sich die tiefste Empfindung des Seins zu äußern, eine Empfindung, die im Rahmen der wirklichen Welt nicht hervortreten kann und die keinen anderen Ausweg findet, als dem ewigen Reiz der Symbole und der Mythen zu erliegen. In diesem Punkt schien es mir immer sehr hilfreich, an die ungeheure Blüte englischer Romane Ende des 18. Jahrhunderts zu erinnern, die unter dem Namen schwarze Romane bekanntgeworden sind. Wenn man heute dieses verschriene und vergessene literarische Genre betrachtet, kann man sich nur wundern, und zwar nicht nur über seinen erstaunlichen Erfolg, sondern auch über die ganz eigenartige Faszination, die es eine Zeit lang auf die wählerischsten Geister ausgeübt hat. Einer der Helden Anne Radcliffs, Schedoni, wirkt durchaus wie das Vorbild, nach dem Byron seine Person formen sollte; Thomas Moore wird wiederholt mit Inbrunst die schönen, durchsichtigen Mädchen erwähnen, die unter dem von Vögeln bewohnten Laub des Wald- Romans einhergehen. Die ersten Romane von Victor Hugo (Bug- Jargal, Han d'Islande) sowie die ersten Balzacs (L'Héritière de Birague, Le Centenaire ou les deux Béringheld etc.) sind direkt von Lewis' Mönch und Mathurins Melmoth beeinflußt, eben jenem Melmoth, an den sich Baudelaire lange Zeit erinnern wird und der zusammen mit Youngs Nachtgedanken zweifellos eine jener ergiebigen Quellen bildet, aus denen die allmächtige Inspiration Lautréamonts schöpfen wird. Ein solcher öffentlicher und zugleich privater Glücksfall, der sich von dem extremen Mißkredit abhebt, in den diese Werke auf Dauer geraten sind, wäre nicht zu erklären, wenn man aus ihm nicht schließen könnte, daß diese Werke der geschichtlichen Situation vollkommen entsprachen. Die Wahrheit, die zuerst der Marquis de Sade in seiner Idée sur les romans benannt hat, lautet, daß wir uns hier einem Genre gegenübersehen, in dem man zur Zeit seines Triumphes »das unumgängliche Ergebnis der revolutionären Erschütterungen« erkennen muß, »die ganz Europa gespürt hat«. Man versteht, wieviel uns diese Überzeugung bedeutet. Das menschliche Interesse in seiner gewöhnlichsten, in seiner spontansten wie in seiner erlesensten, der rein intellektuellen Gestalt hat sich hier nicht an die peinlich genaue Abschilderung der äußeren Begebenheiten geheftet, deren Schauplatz die Welt von damals war, sondern durchaus an den Ausdruck verworrener Gefühle, die um die Sehnsucht und den Schrecken kreisen. Niemals hat das Lustprinzip offenkundiger Rache am Realitätsprinzip genommen. Die Ruinen erscheinen nur in dem Maße so bedeutungsgeladen, als sie optisch den Zusammenbruch der Feudalzeit ausdrücken; das unvermeidliche Gespenst, das in ihnen umgeht, bezeichnet eindringlich die Befürchtung, die Mächte der Vergangenheit könnten zurückkehren; die unterirdischen Gänge stehen für den langen, gefahrvollen und dunklen Weg des Individuums zum Licht; die Gewitternacht setzt den kaum abgeklungenen Kanonendonner um. Auf diesem unsicheren Grund erscheinen vorzugs weise die Wesen der reinen Versuchung, die den Kampf zwischen dem Todestrieb einerseits, der, wie Freud gezeigt hat, ein Trieb der Erhaltung ist, und dem Eros andererseits, der, nach jeder menschlichen Hekatombe, verlangt, daß dem Leben sichtbar Genüge getan werde, in reiner Form verkörpert. Ich lege besonderes Gewicht auf die Tatsache, daß die Ersetzung eines Dekors durch einen anderen (des romantischen durch den realen) von den Autoren der schwarzen Romane keineswegs beschlossen und noch viel weniger unter ihnen vereinbart worden ist. Ihr darin bestimmbares Unbewußtes verleiht ihrer sichtbaren Botschaft eine um so größere Bedeutung. »Udolphe«, schreibt seine erste französische Übersetzerin Madame de Chastenay, »verursachte bei mir eine Erschütterung der Einbildungskraft, vor der mich mein Verstand nicht bewahren konnte. Seine Schrecken, die von einem dumpfen Geräusch ausgehen, einem verlängerten Schatten oder schließlich von einem phantastischen Effekt, treffen mich immer noch wie ein Kind, ohne daß ich die Ursache finden könnte.« Ein Kunstwerk, das diesen Namen verdient, ist etwas, was uns die Empfindungsstärke der Kindheit wiedergewinnen läßt. Dies vermag es nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß es nicht auf die laufende Geschichte zählt, deren Widerhall im Innern des Menschen einzig von der systematischen Rückkehr zur Fiktion erwartet werden darf.

Kein Einschüchterungsversuch wird uns von der Aufgabe abbringen, die wir uns gestellt haben und die, wie wir gesagt haben, die Herstellung des kollektiven Mythos speziell unserer Epoche ist, so wie das »schwarze« Genre als Krankheitssymptom

der großen gesellschaftlichen Unruhe betrachtet werden muß, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts Europas bemächtigt hat. Es ist aufschlußreich festzuhalten, daß dieses Genre 1764 von Horace Walpole eröffnet worden ist, von einem Mann, der seiner Herku nft nach und den Anfängen seines öffentlichen Lebens zufolge zu denen zählte, die über die damalige politische Situation gründlich aufgeklärt waren, von einem Mann überdies, der ein Jahr später, und bis zu seinem Tode, die ganze Aufmerksamkeit der Marquise du Deffand fesseln sollte — der Marquise du Deffand, welche die große Freundin der französischen Enzyklopädisten war, das heißt jener Geister, die per definitionem der im Schloß von Otranto manifestierten literarischen Konzeption feindselig gegenüber- standen. Die Entstehung eines derartigen Werkes, über die uns glücklicherweise Zeugnisse vorliegen, läßt nichts weniger fraglich erscheinen als die surrealistische Methode, ja, läuft vielmehr auf ihre Rechtfertigung hinaus. Das Zitat eines Briefes von Horace Walpole vom 9. März 1765 erscheint mir hier alles andere als irreführend, weil es so aussieht, als hätte ich im Manifest des Surrealismus die Aussagen dieses Briefes lediglich paraphrasiert und verallgemeinert: »Soll ich Ihnen den Ursprung dieses Romans verraten? Eines Morgens, Anfang Juni letzten Jahres, bin ich aus einem Traum aufgewacht, und alles, woran ich mich habe erinnern können, war, daß ich mich in einem alten Schloß befand (ein sehr naheliegender Traum für einen Geist, der wie meiner voll gotischer ›Romane‹ steckt). Auf der höchsten Balustrade einer großen Treppe habe ich eine riesige gepanzerte Hand gesehen. Am Abend noch habe ich mich hingesetzt und zu schreiben begonnen, ohne im geringsten zu wissen, was ich sagen oder erzählen würde. Von meiner Erzählung war ich insgesamt so sehr in Anspruch

genommen (in weniger als drei Monaten beendet), daß ich eines Abends von der Teestunde gegen sechs Uhr an bis halb zwei Uhr morgens geschrieben habe und daß meine müden Finger dann die Feder nicht mehr halten konnten.« Dieses Zeugnis ist eindeutig: die Botschaft, die über viele andere, durch ihren Zusammenhang höchst bezeichnende Botschaften bestimmen wird, kann nur umgesetzt werden, wenn man sich dem Traum und dem Gebrauch des automatischen Schreibens anheimgibt. Wir sind aufgefordert, dieses Schreiben hervorzurufen, um einen wichtigen, bisher im Dunkel gebliebenen Punkt zu erhellen: Gibt es Orte, die zur Verwirklichung dieser besonderen, sich in diesen Fällen offenbarenden Form von medialer Fähigkeit prädestiniert sind? Ja, es muß Observatorien für den inneren Himmel geben. Ich meine richtige Observatorien, in der äußeren Welt. Das wäre, könnte man vom surrealistischen Standpunkt aus sagen, die Frage der Schlösser: »Einen beträchtlichen Teil seiner Jugend«, schreibt ein Biograph über Lewis, »verbrachte er auf einem sehr alten Rittersitz.« Der unbestrittene Meister des französischen Naturalismus J.K. Hu ysmans verlegt die von üppigen Träumen unterbrochene und damit die Aktion bedrohende Handlung seines Meisterwerks: En Rade, in ein Schloß. Meine eigenen Forschungen, die ergründen sollen, welcher Ort am besten geeignet wäre, um lange verheißungsvolle Wellen zu empfangen, haben mich, wenigstens theoretisch, in eine Art Schloß geführt, das nur noch aus einem Flügel bestand.(4) Erst vor ein paar Monaten, als ich über die These eines bemerkenswerten Films mit dem Titel Berkeley Square nachdachte — während der neue Bewohner eines alten Schlosses die Gäste aus einer vergangenen Epoche halluzinatorisch wiedererscheinen ließ, gelang es ihm nicht nur, sich unter sie zu mischen, sondern er fand auch beim Umgang mit ihnen die Lösung des Problems seines gegenwärtigen Verhaltens, eines schwierigen emotionalen Problems —, habe ich mich überzeugen lassen, daß der Mythos des Fortlebens und der möglichen Kommunikation an einem solchen Ort ausgesprochen lebendig geblieben war. Ich glaube, daß das »gotische« Element, obwohl es in dem fraglichen Zyklus von Produktionen gleichsam automatisch auftaucht, nicht als zentral gelten darf. Seine geschichtliche Entwicklung als Stil zum »Flambo yant« hin, sein Aufgehen in Flammen, scheint mir allein ausschlaggebend zu sein für die Beliebtheit, deren es sich erfreut hat. Die Psyche hat, was ihren universellen Anteil angeht, im gotischen Schloß und seinen Anhängseln einen so präzisen Anhaltspunkt gefunden, daß man herausfinden müßte, was das Äquivalent eines solchen Orts in unserer Epoche ist. (Alles läßt darauf schließen, daß es sich keinesfalls um eine Fabrik handelt.) Der Surrealismus ist aber erst dabei, die Verlagerung der höchsten affektiven Spannung in der wunderbaren Erscheinung zur beunruhigenden Koinzidenz, und zwar von der Zeit des schwarzen Romans bis heute, wahrzunehmen und dazu aufzufordern, sich von diesem letzten Schimmer bereitwillig ins Unbekannte locken zu lassen, der heute, wenn man ihn nur bei jeder Gelegenheit von den gewöhnlichen Lebenstatsachen trennt5, lebendiger ist als jeder andere.

Im letzten Juni habe ich gesagt, daß mich eine erhebliche Unruhe bei der Aussicht erfaßte, in London eine Gesamtschau des Surrealismus vorzustellen, da die Aufnahme, die sie finden würde, für mich die Bedeutung einer Prüfung annahm. Die Objektivierung und Internationalisierung der surrealistischen Ideen, die im Laufe der vergangenen Jahre immer aktiver betrieben wurden, erreichten für mich in der Tat einen kritischen Punkt. In den Monaten davor hatte sich die Aufmerksamkeit der westlichen Welt auf England gerichtet. Von England hatte man den Ordnungsruf erwartet, und von England war er gekommen — in einer Form, die sich leider als wirkungslos erwiesen hat —, der Ordnungsruf, der wegen der schändlichen Aggression eines starken Landes gegen ein schwaches Land und der ruchlosen Unterstützungspolitik anderer Länder gegenüber dem Angreifer fällig geworden war. England, denke ich, hat auch die Aufgabe, in dem latenten Konflikt zwischen den erbärmlichen Nationalismen Frankreichs und Deutschlands, die beide Völker wieder wie Hunde aufeinander hetzen könnten, den Schiedsrichter zu spielen. Bei der Suche nach einem europäischen Bewußtsein, um nicht zu sagen Welt- Bewußtsein, auf der wir uns befanden — oder uns mehr als jemals zuvor befinden —, wenden wir Surrealisten uns trotz allem England zu. Sicher nicht deshalb, weil wir England in dieser Sache uneingeschränkt huldigen könnten. Wir wollen nicht vergessen, daß die Vervielfältigung der kapitalistischen Widersprüche, von denen das Land nicht verschont bleibt, dazu führen kann, daß seine Autorität in Angelegenheiten des Rechts in Frage gestellt wird. Es ist aber genauso wahr, daß die Sprache, die England zu wiederholten Malen gesprochen hat, und zwar laut gesprochen hat, zu denen zählt, die wir am besten verstehen und die wir weiterhin verstehen werden, solange nicht die unparteiische Sprache der Gerechtigkeit und Wahrheit in Umlauf ist. Doch angesichts der Entfesselung unannehmbarer Leidenschaften hat England, schien es manchmal, nicht mit dem Gewicht seiner ganzen Macht reagiert. Alles hält uns, besonders in Frankreich, davon ab, diese Macht, die sich gleichzeitig auf ökonomischem wie auf intellektuellem Gebiet manifestiert, zu unterschätzen. Um sie zu erkennen, habe ich nicht erst London besuchen müssen, wo sie über jedem Stein ihre Flügel breitet. Sie ist mir in aller wünschenswerten Klarheit bei jeder Wendung der Geschichte deutlich geworden, ich möchte sagen, bei jeder Wendu ng der Legende, das heißt überall, wo der Mensch für den Menschen die zu höheren Zwecken vollbrachten oder zu vollbringenden Taten eingezeichnet hat. In dem Maße, wie der Surrealismus, ich wiederhole es, den Entwurf eines kollektiven Mythos zum Ziele hat, ist er es sich schuldig, die verstreuten Elemente dieses Mythos zu sammeln, angefangen bei denen, die der ältesten und mächtigsten Tradition entstammen (sogar in diesem Sinn kann von »cultural lags« gesprochen werden, um einen Ausdruck aufzugreifen, der in den revolutionären Kreisen Furore gemacht hat). Diese Tradition scheint heute in England weniger erschütterbar als irgendwo anders. Oft genug habe ich mir jedoch hämisch vorhalten lassen müssen, daß diese Tradition ein unüberwindliches Hindernis für einen neuen geistigen Impuls darstelle, der, wie der Surrealismus, in dieses Land eindringen will. Ich dachte mir, daß dieser Impuls, wenn er sich nicht von der Spur hat abbringen lassen, die ich ihm vor zwölf Jahren wies, bei einer solchen Berührung nur noch anwachsen könnte. Während ich die spezifisch englischen Quellen studierte, aus denen sich die Sensibilität Jahrhunderte hindurch gespeist hat, überzeugte ich mich davon, daß auch der Surrealismus reichlich genug aus ihnen geschöpft hat, um nichts befürchten zu müssen. Früher oder später würde man entdecken, daß er alles an sich zu ziehen versuchte, was es an wirklich Produktivem in der Literatur und Kunst der Vergangenheit gibt, und daß er folglich einen ganz besonderen Tribut an die Kunst und Literatur Englands entrichten muß. Es ist einzig der geglückten Initiative unserer englischen Freunde zu danken, daß der Ablauf diese Voraussage bestätigte und daß sich die Wege für eine wechselseitige Verständigung und für eine Zusammenarbeit öffnen, die ich von Stunde zu Stunde, ob fern von ihnen oder bei ihnen, enger und wirksamer werden spüre.

1937

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1 Marx/Engels, Philosophische Schriften.

2 Cf. »Crise de l'objet«, in: Cahiers d'Art, 1936.

3 Cf. Nadja, N.R.F., 1928; Les Vases communicants, Denoël et Steele, 1932; L'Amour fou, N.R.F., 1937.

4 »II y aura une fois« (Le revolver à Cheveux blancs, Denoël et Steele, 1932).

5 Die Arbeit von Marcel Lecomte, Les Minutes insolites (Ed. du Paradis Perdu, Brüssel)