1901 Obrist, H. - Zukunft unserer Architektur

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Obrist, Hermann:

Die Zukunft unserer Architektur:

Ein Kapitel über das Persönliche und das Schöpferische

In: Dekorative Kunst. – 4(1901). – S. 329 – 349

 

Ein Kapitel über das Persönliche und das Schöpferische.

Zum Teil an einem Beispiele erläutert

 

Von Hermann Obrist

 

 

M o t t o : Wenn Ihr nicht werdet

wie die Kinder .....

 

*) Vorliegende Ausführungen sind einem Vortrage entnommen, der im März 1900 geschrieben und im November 1900 gehalten wurde, zu einer Zeit, wo dem Verfasser die Darmstädter Bauten noch nicht bekannt waren. Da er sie auch jetzt noch nicht gesehen hat, konnte er sie nicht als Beispiele heranziehen.

 

Wir haben noch keinen neuen Stil. Dies ist ein Wort, das schon fast zum Gemeinplatze geworden ist. Manche zweifeln daran, dass ein solcher überhaupt noch erreichbar ist, aber es wird wohl viele geben, welche dieses Ziel für das unbedingt erstrebenswerteste halten. Wie verhält es sich nun damit? Ist es wirklich etwas so Herrliches und Notwendiges um einen historischen Stil, dass wir alle künstlich danach streben sollten?

Wir verbinden zwar mit dem Begriffe des gotischen Stiles, des Renaissance-Stiles eine Empfindung und eine Vorstellung von etwas Gewaltigem, Erhabenem, Verehrungs- und Nachahmungswürdigem, von etwas ewig Gültigem, vor allem Notwendigem. Durch unsere Erziehung, durch alles, was wir um uns von Bauten seit 30 Jahren gesehen, durch die Richtung unserer Schulen, durch die Hypnose, in die Hunderte von berühmten Architekten und Professoren sich selbst und uns gebannt haben und noch immer bannen, sind wir unfähig gemacht worden, zu erkennen, dass, so Erhabenes in diesen Stilen auch geleistet worden ist, sie selber trotzdem oft Zeugen für die Bedürfnislosigkeit ihrer Zeit sind und Dürftigkeitszeugnisse für uns, die wir sie wieder zu beleben suchen und dass ein historischer Stil nicht unbedingt stets eine kulturelle Notwendigkeit ist, sondern oft nur ein Ausdruck dafür ist, dass die Völker in jener Zeit, so Gewaltiges sie auch oft errichteten, dennoch in engen Grenzen und Banden steckten, noch wenig differenziert waren.

Man ist so erdrückt von der Wucht und Herrlichkeit der romanischen Dome, dass man gar nicht auf die Idee kommt, zu fragen, warum wir denn nicht eben so Herrliches schaffen. Wir staunen darüber, wie herrlich das sei, dass durch Jahrhunderte hindurch Tausende von grossen Baumeistern dasselbe gemacht haben, und wir kümmern uns zu wenig um die Thatsache, dass der ganze romanische Stil des Nordens seine Existenz Karl dem Grossen und einigen wenigen mönchischen und Laien- Baumeistern verdankt, welche die dürftigen und zum Teil missverstandenen Bauformen aus Ravenna nach Aachen verpflanzt hatten, von wo aus die vier oder fünf Stil-Motive, die den romanischen Baustil ausmachen, von denen nur einige wirkliche struktive Notwendigkeiten darstellen, ihren Siegeszug durch Frankreich und Deutschland antraten und sogenannte Volkskunst wurden.

Wenn Karl der Grosse Motive aus Aegypten oder Indien mitgebracht hätte, so wäre alles ganz anders geworden.

Wir sagen ausdrücklich: sogenannte Volkskunst. Denn wenn wir uns fragen, was es durch alle Jahrhunderte hindurch im Volke für eine Architektur gegeben hat, die unbeeinflusst von Kulturformen aus Kirche, Hof und Stadt als reine Volkskunst angesprochen werden kann, so bleiben nur die Bauernhäuser aller europäischen Volksstämme übrig. Und so ist es mehr oder weniger bis auf den heutigen Tag.

 

Hier möchten wir jedoch ein mögliches Missverständnis bei Zeiten verhindern. Fern sei es von uns, die Schönheit und Majestät alles dessen herabsetzen zu wollen, was der romanische Stil allerorts geschaffen hat. Es lag mir nur daran, zu zeigen, an wie wenigem oft das hängt, was man uns später als gewaltige, historisch-künstlerische Notwendigkeit hinstellt.

Gab es je eine Formenrichtung, der man scheinbar mit mehr Recht den Namen Stil, Volkskunst zugeschrieben hat, wie der gotischen Periode? Und doch, wer wagt es jetzt noch angesichts der Resultate der Forschungen der letzten 20 Jahre zu leugnen, dass das Gotische in seinen charakteristischen Formen und Konstruktionsprinzipien das Werk ganz weniger Baumeister gewesen ist, die auf einem geographisch winzigen Gebiete innerhalb kaum zweier Menschenalter alles Wesentliche entwickelten, das später in ganz Europa durch Jahrhunderte millionenmal kopiert, variieund zur sogenannten Volkskunst erweitert wurde?

Die Renaissance gilt allgemein als der höchste und stärkste Ausdruck der italienischen Volksseele des Mittelalters und in fast allen Gebieten trifft das auch zu, so in der Politik, in der Malerei, Plastik etc. Man nimmt aber auch an, dass, weil tausende und abertausende von Künstlern und Handwerkern durch Jahrhunderte hindurch die Formen der Renaissancearchitektur und des Barocks bildeten, eben diese Bau- und Verzierungsart der spontane und notwendige Ausdruck der Volksart gewesen sei.

 

Der Renaissancestil, ich rede ausdrücklich von ihm als architektonischem und ornamentalem Stile, ist keine historische oder völkische Notwendigkeit gewesen, sondern er ist, ähnlich wie der romanische Stil gleich am Anfange von ganz wenigen Leuten in die Welt gesetzt worden. Welche Ironie liegt in dem Worte: Renaissance-Architektur, Wiedergeburts-Stil. Die so genannte Architekturperiode ist gar keine Wiedergeburt gewesen, sondern eine ebensolche Ausgrabung und Wiederaufwärmung, wie wir sie vor 40 Jahren bei uns erlebt haben. Es ist nicht wahr, dass die Renaissancearchitektur der spontane Ausdruck der italienischen Volksseele gewesen ist.

Und frägt man, wie konnte das sein, wenn es nicht die natürliche Formenrichtung der Volksseele war, so kann ich nur wieder fragen: Entspricht der Empirestil unserer deutschen Volksseele oder entspricht das VAN DE VELDE-Ornament unserer deutschen Volksseele? Durchaus nicht, und doch sind sie Mode; jeder kleinste Schreiner, wenigstens in den grossen Städten, beeilt sich, jene Formen nachzumachen. Genau so haben es die Herren damals auch gemacht, statt wie DONATELLO, BRUNELLESCHI original aus den Tiefen ihrer raumgestaltenden und formengebenden Natur heraus zu schaffen. Es war schon damals bequemer, nach vorhandenen Vorlagen zu schaffen, als mit Mühe aus sich heraus. Jetzt haben wir die 1000 Vorlagenwerke, damals war es das Stillehrbuch des Vitruv, der selber die Griechen nicht richtig verstanden hatte; und wir möchten aus psychologisch- ethnologischen Gründen geradezu folgenden Satz aufstellen (ohne uns jedoch im Wahne zu wiegen, damit vorderhand allgemeine Zustimmung zu finden): die Renaissancearchitektur brauchte nicht zu sein; es hätte ebensogut und besser etwas ganz anders entstehen können. In der Malerei war das ja der Fall. – War die Malerei des vierzehnten, fünfzehnten Jahrhunderts eine Wiederaufwärmung der griechischen Wandmalerei? Sie war es nicht. Glückliche Malerei! Man hatte noch keine alten pompejanischen Wandfresken aufgefunden, man hatte nichts zum Kopieren, wie später zur Empirezeit. Man musste aus sich heraus schaffen, und man schuf. Malte BOTTICELLI im Renaissancestil oder TIZIAN im Renaissancestil? Hatten sie nicht vielmehr Botticelli-Stil und Tizian- Stil? Warum war das nicht auch so in der Architektur und im Mobiliar? Warum schufen da alle in derselben Art, im selben Stil? Wir werden die fast banalen und in ganz gewöhnlichen bürgerlichen Verhältnissen liegenden Gründe hierfür später näher zu beleuchten haben. Augenblicklich lassen Sie mich jedoch auch hier ein mögliches Missverständnis beseitigen. Nicht das wollen wir behaupten, dass die Werke einzelner, wie ALBERTI oder PALLADIO nicht schön gewesen seien. Aber sie waren aus zweiter Hand schön, sie waren Spiegelwerke, Echowerke, sie waren nicht urwüchsig, nicht notwendig, nicht innerlich aus der Natur und der Seele eines schöpferischen Geistes gezeugt. Das, was jene Bauperiode zum Teil so ergreifend macht, ist nur derselbe Geist der Energie, der Wucht, der Majestät, den wir auch in dem übrigen politischen Leben der Zeit finden, also Züge, die man fast als ethische bezeichnen möchte, nicht aber als schöpferisch neue Formengebung. Und konnte man bei den Anfängen der romanischen und gotischen Bauperioden von einem segensreichen Einflusse einiger Weniger auf ihre Nachfolger reden, so können wir aus der Entwickelungsgeschichte der Renaissancearchitektur den unheilvollen Einfluss der Wenigen auf die Vielen durch Jahrhunderte hindurch verfolgen und daraus für uns die Lehre ziehen, was wir am Amfange einer neuen Bauperiode um jeden Preis vermeiden müssen.

Wir haben gesehen, dass wir wenig Veranlassung haben, die Architektur und das Kunsthandwerk dieser letzterwähnten Zeiten sehnsüchtig und wie hypnotisiert zu bewundern, auch trotzdem vieles daran schön ist und dass wir besser thun, solchen Völkern nachzusinnen, die verhältnismässig Ursprüngliches schufen, wie z. B. die ersten Griechen und die Gotiker, oder noch weiter zurück, etwa die alten Wikinger, ja sogar die Wilden der Südseeinseln.

Doch auch das ist um keinen Preis so zu verstehen, dass wir nun diese Stile uns zu eigen machen sollten. Nein, sondern nur so sollen wir schaffen wie sie schufen; unbewusst, wahr, einfach, wie es ihnen natürlich kam, ohne tausend Anregungen und Ablenkungen. Wenn ein Wilder einen Messergriff schnitzt, so schlägt er nicht ein Vorlagenwerk auf, sondern er schnitzt so lange daran herum, bis der Griff tadellos bequem in die Hand hinein passt. Dann verziert er es so, dass die Form dadurch nicht gestört, sondern betont und gehoben wird. Alles unbewusst und natürlich. So sollten wir auch arbeiten.

Wir müssen mit dem Begriffe Stil überhaupt brechen, insofern man darunter zu verstehen hat ein vererbtes und zu Tode gehetztes Motiv. Wir müssen alle Fehler vermeiden und nur das eine behalten, die Lauterkeit, die Natürlichkeit im Schaffen, die Unbefangenheit, das nicht Umfangensein von Gewohntem und Aufgedrungenem.

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht eingehen in das Reich der schöpferischen Kunst.

Wie soll das aber gelingen? Kann ein Geheimer Oberbaurat wieder ein Kind werden? Nein, er kann es nicht, er hat zu viel gelernt und zu viel im Renaissancestil gebaut. Wehe dem, der zu gut gelernt hat.

Er ist dazu verdammt, für immer zu wiederholen. Es fällt ihm nichts anderes mehr ein, er hat auch keine Zeit mehr dazu, auch keine Lust; ja es ist sogar seine heiligste Ueberzeugung geworden, dass es etwas anderes nicht mehr geben kann, als die herrlichen liebgewonnenen und souverän beherrschten Stile, jedenfalls nichts mehr, das Hand und Fuss hat, höchstens noch närrische Launen junger Grashüpfer. „Es giebt keinen Fortschritt in der Kunst, es kann keinen geben“, das ist ein Wort,

das wir auch heute noch allerorten, wo Herren, die ein gewisses Alter überschritten haben, beisammen sind, hören können.

Allerdings, in einem gewissen Sinne giebt es keinen Fortschritt in der Kunst. Wir kennen z. B. einen prähistorischen Knochen, auf dem ein Höhlenbär eingeritzt ist; der ist genau in der Art und genau so gut wie eine Skizze von FORAIN.

Ein ganz gutes Porträt von HOLBEIN, eine vortreffliche altrömische Büste und das Porträt der Dame in Weiss von HERKOMER sind alle drei unübertrefflich. Keines übertrifft das andere und insofern kann man mit Fug und Recht sagen: Es giebt keinen Fortschritt in der Kunst. Und doch: ist das Damenporträt von HERKOMER nicht fabelhaft verschieden von der Juno Ludovisi? Ist das kein Fortschritt!

Doch: es liegt der Fortschritt darin, dass es uns eine neue Art von künstlerischem Genusse verschafft, eine Erweiterung der Möglichkeiten in der Porträtkunst.

Es würde sich also in der Architektur darum handeln, eine Erweiterung der Möglichkeiten in dieser Kunst herbeizuführen und das kann nur geschehen, wenn man die Möglichkeiten neuer Raumgestaltungen, neuer Konstruktionen, neuer Formgebung, neuer Materialien und neuer Verzierungen zugiebt.

Wie verhält es sich nun damit? Worin besteht denn das Wesen dieses mystischen Begriffes der neuen Konstruktion, der neuen Formgebung? Wir wollen versuchen, es an einigen einfachen Beispielen klar zu machen, bei welchen die frische Erfindungskraft die deutsche Kopiersucht und die deutsche Bedenklichkeit schon überwunden hat.

Wir sahen kürzlich drei Stühle nebeneinander stehen, die sich zu einem Vergleiche sehr gut eigneten, allerdings nur für diejenigen Leser, welche mit uns der Ansicht sind, dass zwischen Stuhl und Bau kein Wesensunterschied herrscht. Ein altdeutscher gotischer Ratsstuhl, ein moderner englischer Damenboudoirstuhl und ein Stuhl vom Künstler X. Jener erste Stuhl ist das massigsteifste, was es geben kann; wo man ihn einmal hingestellt hat, da muss er bleiben. Urkernige Leute haben ihn einst gemacht, welche die Empfindung der Bequemlichkeit oder gar der Behaglichkeit gar nicht kannten.

Der zweite ist so leicht, und so dünn, dass die zarteste Hand ihn überall hinstellen kann. Ein winziger Sitz, eine kleine Lehne, die nur gerade hinreicht, um den Rücken einen Augenblick zu stützen, alles das so recht ein Symbol für die hastige moderne jour-fixe Stimmung, für die moderne Damenvogelseele, die nirgends verweilen kann noch mag. Diese beiden Stühle sind nun noch als sogenannte Stilprodukte zu betrachten. Durch Jahrhunderte hindurch wurden Stühle in gotischem Stile gemacht von abertausenden von Handwerkern, von denen nicht einer auf den Gedanken kam, eine andere Form zu erfinden und die nie geahnt hätten, dass einmal so ein reizendes Stühlchen gezimmert werden würde wie dies zweite, welches das Produkt einer genau nachweisbaren langsamen Verschmelzung von Empire und japanischen Stuhlformen ist, die unter dem Drucke der Nachfrage stattfand, die von den englischen Damen an die englischen Firmen nach immer leichteren Stühlen ausging. Ebenso verschieden nun wie diese beiden Stilstühle voneinander sind, ebensosehr unterscheidet sich der dritte Stuhl von ihnen, den sich der Künstler X. ausgedacht hat. Die Gesamterscheinung ist eine durchaus eigenartige. Alles an der Konstruktion giebt uns die Empfindung von energischem Leben. Die kraftvoll gebogenen Stuhlbeine tragen die breite Sitzfläche energisch,

das hintere Paar geht in die Lehne über und stützt sie energisch und dieses uralte Problem ist in verblüffend neuer Weise gelöst. Die Lehne umschmiegt den Rücken voll und breit und stützt gleichsam den ganzen Menschen und diese ihre Funktion ist ausgesprochen stark durch ihre geschwungene Form betont. Das sind zwar nun Eigenschaften, die man an behaglichen Renaissancestühlen ebenfalls findet, und doch: der Stuhl hat gar keine Aehnlichkeit mit irgend einem bestimmten Stil; er hat bloss Stil, den Stil des Künstlers X. Dieser Künstler versteht und liebt selber die kraftvolle Behaglichkeit, in ihm pulsiert energisches Leben, er liebt es, alles nachdrücklich zu betonen und hervorzuheben und siehe da: der Stuhl, als Ausfluss seiner persönlichen Phantasie, drückt den ganzen Menschen aus; er könnte nicht gerade so von irgend einem andern gemacht worden sein; er spricht, er redet förmlich, er macht die Persönlichkeit sichtbar.

Der Künstler schuf ihn auch ohne Erinnerung an andere Stühle anderer Stilperioden, er kümmerte sich gar nicht um schon vorhandene Stühle, er zeichnete ihn so, wie er es gar nicht anders konnte. Der glückliche Mann; er hatte aber auch nie auf einer Schule gesessen, er hatte nichts gelernt, sondern lebte seine Persönlichkeit ebenso frei aus, wie es der Dichter thut, dem spontan ein Lied einfällt, sein eigenes Lied und nicht eines im Stile des siebzehnten Jahrhunderts.

Es ist nun ein beliebtes Argument der alten Herren, dass dieses Ausleben der Persönlichkeit beim Bauen in alten Stilen ebenfalls stattfindet, dass die grössten Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Architekten herrschten und dass es ein thörichtes Reden sei, diese Forderung nach individuellem Sichausleben in der Form als etwas ganz Neues aufzustellen. – Das ist scheinbar ganz richtig. Das Reichstagsgebäude in Berlin sieht in der That ganz anders aus als das Reichsgericht in Leipzig. Gewiss, es hat jeder der beiden Architekten sich individuell ausgelebt. Doch haben sie es nur insofern gethan, als sie die wohlbekannten Formen der italienischen und deutschen Renaissance, die Renaissance-Raumgestaltung, den Renaissance-Hallenbau, die Renaissance-Treppen, die Renaissance-Säulenordnungen, die Renaissance-Gesimse, die Renaissance-Fenster, die Renaissance-Portale hernahmen und sie je nach ihrem individuellen Temperament und Charakter variierten. WALLOT kraftvoll-stattlich, wuchtig-üppig, HOFFMANN hingegen herb und streng.

Man stelle sich nun vor, diese zwei eminenten Künstler hätten diese beiden Gebäude mit Formen aufgebaut, die ihre eigenen gewesen wären, mit e i g e n e r   stattlicher oder strenger Raumgestaltung, mit eigenem stattlichen oder strengen Säulenordnungen, mit eigenen Gewölben und Dachformen, mit eigenen Gesims-, Fenster- und Treppenformen, die sie selber erfunden hätten, die sie nicht bloss kopiert und variiert, sondern ursprünglich geschaffen hätten! Kann es einem Zweifel unterliegen, dass die Herren sich noch ganz anders individuell ausgelebt hätten? Nein, es kann darüber kein Zweifel herrschen. Und so wie der oben erwähnte Künstler sich hier im kleinen in der Konstruktion eines Stuhles ausgelebt hat, so wird es auch im grossen der Architekt thun können, thun sollen. Die Gefühle, welche innere Raumausdehnungen uns geben können und die, so unbewusst der Betrachter auch dabei meistens ist, doch sehr stark seelisch auf ihn wirken, dürfen dem Architekten kein so unbewusster Faktor mehr bleiben wie das leider noch oft der Fall ist. Die Gefühle des weiten, des gedrückten Raumes, des erhebenden, des intimen, des heiteren, des ernsten, des prosaischen, des heiligen Raumes, das sind alles künstlerisch-architektonische Werte, in denen sich der Architekt je nach seiner eigenen starken oder zarten, strengen oder lebenslustigen, intellektuellen oder sinnenfreudigen Natur ausleben wird, geradeso wie es der Musiker in eigenen Rhythmen und eigener Dynamik und Melodik es thut, nicht weil er einen heiteren oder ernsten Stil wählt, sondern weil er, der Architekt, so ist, weil es ihm so einfällt oder weil er diese Stimmung bewusst erzeugen will. Und in den konstruktiven Möglichkeiten der Bauten, in den Formengebungen, deren Mannigfaltigkeit so ungeahnt gross ist wie die der Pflanzen auf dem Felde, die alle auf denselben Boden wachsend und dieselben Funktionen ausübend doch endlos verschieden sind, in dieser Formengebung, sagen wir, hat sich schon das Kunsthandwerk verblüffend vielgestaltig geoffenbart und wird auch die Architektur ihre göttlichsten Wirkungen dereinst ausüben, und in der Art und Weise, in der sich jeder in diesen Dingen ausleben wird, wird seine Bedeutung und sein Stil liegen. Daraus ergiebt sich folgerichtig die Konsequenz, dass es keinen einigen, einzigen Stil der Zukunft in der Architektur geben kann, sondern wie in der Musik, der Litteratur, mehrere, viele, ebensoviele, wie es ausgeprägte Persönlichkeiten geben wird, und dass das Wort Stil in der Zukunft jedenfalls auf geraume Zeit hinaus als durchgeführte persönliche Art wird definiert werden müssen.

 

Fragen Sie uns nun, wie das gelingen soll, so können wir nur auf das der Architektur verwandteste Gebiet hinweisen, auf das Gebiet der Gebrauchsgegenstände, des Kunsthandwerks, der Nutz- und Zierkunst, um die Lösung zu finden. Wir sehen hier eine Reihe von Männern, nicht bloss im Auslande, sondern sogar in unserem lieben Vaterlande (das bis jetzt so oft schwankte zwischen allzubedächtigem Nachrücken oder allzuhastigem Kopieren), welche zum Teil das verwirklicht haben, wovon wir reden. Sie haben Mobiliar, Tapeten, Glas, Schmuck, Porzellan, Textilarbeiten, Beleuchtungskörper und Unzähliges mehr geschaffen, das, losgelöst von jeglicher Stilreminiscenz, ganz frei eigenartig, mit einem Worte, persönlich ist, zeitgemäss und schöpferisch.

Und wie fingen sie das an? Nun, sie fingen eben einmal an.

Und hierin, in dieser scheinbar geringfügigen Thatsache liegt der eigentliche Kern des Fortschrittes. Alle möglichen Einfälle und Ideen schwirrten schon lange durch ihr Haupt, wie durch das unzähliger anderer Menschen. Sie aber liessen es nicht dabei bewenden, diese Ideen zu haben, davon zu reden oder argumentativ theoretisch darüber in Ateliers und Kneipe zu spekulieren, sondern sie setzten sich eines Tages hin und fingen an. So unglaublich und kindlich das klingen mag, so entspricht es dennoch der Wahrheit.

Was kein Fachmann, kein Lehrer, kein Gewerbetreibender, kein Professor, kein Historiker für angängig hielt, was auch keiner fertig gebracht hätte oder fertig bringen konnte, das vollbrachte hier die einfache kindliche, freudige und vor allem unbewusste Kühnheit von Künstlernaturen, die, um das landläufige Spottwort zu gebrauchen, „nichts gelernt hatten.“

Brauchen wir ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die ganze schöpferische, dekorative, struktive, ornamentale Bewegung der letzten sechs Jahre, die ganze Befreiung und Umwälzung und Gährung im Kunsthandwerke auf dem Kontinent von Männern ausgegangen ist, die ganz ausserhalb des Gewerbebetriebes standen, die unbeeinflusst, nicht gehemmt durch gelernten, aufgedrungenen Stilballast mit jungfräulicher Phantasie an die schöpferische Wiedergeburt des in Stauung geratenen Kunstgewerbes herangingen? ECKMANN war Illustrator, OBRIST kam von den Naturwissenschaften und der Plastik her, RIEMERSCHMID war Landschafter, VAN DE VELDE Impressionist, PANKOK Landschafter und Porträtist, SCHMUZ-BAUDISS war Maler, ERLER war Illustrator und Porträtist und so könnten wir noch andere genug anführen, welche die Behauptung, die wir wiederholt aufstellten, bekräftigen können, dass nur von unbeteiligter Seite her, nur von „Reinen Thoren“ die Wiedergeburt einer ins Stocken geratenen Geistes- und Kunstrichtung leicht und rasch erfolgen kann. Liegt doch darin das grosse Geheimnis der indirekten Regeneration alles Geisteslebens überhaupt, ein Geheimnis, dessen Lehren, so oft sie sich auch schon zeigten, doch immer wieder in den Wind geschlagen worden sind. Wir haben Parallelen genug auf anderen Gebieten, deren Erwähnung aber hier zu weit führen würde. Wohl dem, der Begabung und Trieb zu etwas hat und darin keinen offiziellen Schulunterricht erhalten hat. (Man beachte das Wort offiziell). Er hat noch einige gute Karten in der Hand. Hat er noch dazu Charakter, d. h. Arbeitskraft, Ausdauer, Besonnenheit, Wille, so steht ihm der Himmel der schöpferischen Kunst offen. Allerdings auch n u r   dann. Diese alle, die wir eben erwähnten, fingen vor Jahren, so verblüffend dies auch denen scheinen mag, die nur die ausgereiften fertigen Werke sehen, die in den Ausstellungen oder in Reproduktionen zu erkennen sind, wie die Kinder an, Möbel, Beleuchtungskörper, Muster, oft auf beliebigen Fetzen Papier zu skizzieren. Oft genug war es ein Stammeln, oft waren es unbeholfene Sachen. Manchmal zaghaft, manchmal allzu kühn, aber eigenes Gewächs. Da sie aber keine Kinder waren, sondern Männer, so half ihnen ihre Urteilskraft, ihre Beobachtungsgabe, ihr Nachdenken, diese jetzt so verpönte Gabe, dazu, diese unbewussten Spiele der Phantasie zu ernsten Leistungen im Laufe weniger Jahre auszureifen und zu verdichten und zwar so sehr, dass sie jetzt auf viele Beschauer den Eindruck von etwas ganz selbstverständlichem machen, über das man sich, wir hätten fast gesagt, leider, kaum noch wundert.

Wir wissen, dass es noch Menschen genug giebt, welche diese Entstehungsgeschichte der Wiedergeburt unsers Kunstgewerbes nicht recht glauben können und lieber nach den abgelegensten und uns produktiven Künstlern geradezu widersinnig vorkommenden Gründen für diese Erscheinung suchen; und angesichts des Umstandes, dass sie den Moment des Entstehens verpassten und jetzt nur noch die fertige Thatsache konstatieren können, dass „alle Welt“ jetzt „moderne Muster macht“, sind sie vielleicht zu entschuldigen. Uns aber, die wir die seligen Zeiten des jungen ungehemmten schöpferischen Schaffens selbst erlebt haben, uns drängt es dazu, der ganzen Jugend durch all das Stimmengewirr von Lehrern, Kritikern, Käufern, Fachleuten, Dekadenten und Kollegen laut und freudig zuzurufen Glaubet  u n s , denn w i r   sind die Wissenden und wir sind diejenigen, welche auch so handeln, wie sie reden.

Fanget an, traut es euch zu und arbeitet, denn das alles ist nur der Anfang der Dinge. Es giebt einen Fortschritt in der Kunst, es giebt eine schöpferische Kraft, es giebt eine gewaltige Zukunft.

Die ganze psychische Erfahrung von uns allen hätte keinen Heller produktiven Lehrwertes, wenn man uns n i c h t   glaubte, wenn das deutsch-bürgerliche Bedenklichkeitswort „ja, – aber“ auch hier wieder jeden Fortschritt im Unterrichte der Zukunft erstickte, wie es ihn so oft schon erstickt hat.

Wer hätte vor vier Jahren geglaubt, dass RIEMERSCHMID, der Maler, der Kolorist des Bildes auf Seite 333, dereinst ein so einwandfreier Möbelkonstrukteur, ein so feiner Inneningenieur werden würde? Und dennoch, auch er wuchs heran, wie ich es schilderte. Er versuchte, dachte nach, versuchte wieder und machte es besser. Er gab sich rückhaltlos seinen Einfällen hin und nur den seinen. Er schaute nicht links, nicht rechts, er kümmerte sich nicht um andere, nicht um Zeitschriften noch Schaufenster, er liess sich nicht irre machen, verwertete Kritiken in besonnener Weise und arbeitete, arbeitete, arbeitete. Wie blieb er eigenartig? Er stellte sich die Regel und befolgte sie dann. Und wie er's musste, so konnt' er's.

Wir glauben es kaum nötig zu haben, ausführlich auf jede einzelne Abbildung dieses Heftes, das ausschliesslich Arbeiten RIEMERSCHMID'S enthält, einzugehen. Sie sprechen für sich selber. Auch über den rein äusserlichen, einfachen Lebens- und Entwicklungsgang des Künstlers sind nur kurze Angaben nötig. Einer alten Münchener Familie entstammend, widmete er sich zuerst der Landschafts- und Figurenmalerei. Auf das eifrige Aktzeichnen legte er stets besonderes Gewicht und schon früh zeigte sich hier seine Vorliebe für das Struktive (Abbildung Seite 330 u. 331) und die Linie, mehr als es gewöhnlich bei Malern der Fall ist. Den eigenartigsten Ausdruck fand sein Farbensinn in dem „Garten Eden“ (Abb. Seite 333), das sich im Besitze der Dresdener Galerie befindet. Kurze Zeit hindurch interessierte er sich für das Plakatwesen, ohne dass uns jedoch hier seine eigene Art zum Durchbruch gekommen zu sein scheint.

Ganz unmerklich hatte er unterdessen angefangen, gleichsam zum Zeitvertreib im eigenen Heime Kindermöbel und anderes derartiges zu zeichnen. Die erste Kundgebung nach aussen erfolgte jedoch im Jahre 1897, wo er seine erste ausgesprochen persönliche kunstgewerbliche Arbeit (ein Buffet in Eibenholz) im Glaspalaste ausstellte. Seitdem ist er ununterbrochen auf diesem Gebiete thätig. Im Jahre 1898 beteiligte er sich an der Gründung der Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk in München und in Mitwirkung mit ihnen entstanden die meisten bisherigen Arbeiten: Mobiliar, Beleuchtungskörper, Tapeten etc.

Auf der Weltausstellung in Paris 1900 betrat er mit seinem in Stuck ausgeführten Fries (Seite 351) auch ornamental einen neuen Weg. Sehr bald schon wandte er sich der Architektur zu, und durch den glücklichen Umstand, sein eigenes Haus bauen zu können, konnte er die nötige Erfahrung sich aneignen, um schwerere Aufgaben nicht bloss künstlerisch, sondern auch fachmännisch lösen zu können. Sehr interessant ist es zu sehen, dass die eigene Art des Künstlers hier zuerst verhältnismässig wenig hervortritt. Beim Herantreten an eine neue Aufgabe versucht RIEMERSCHMID sich erst über die grundlegenden Notwendigkeiten einer solchen Aufgabe klar zu werden. So fängt er oft mit schier unpersönlichen, verstandesmässigen, rein technischen Grundformen an. Nie kopiert er schon Vorhandenes, aber nicht immer fängt er als reiner Künstler an, sondern oft zuerst als Konstrukteur und Techniker, wie z. B. bei dem Hause auf Seite 340, um erst später, Herr über das Notwendige, Geber des Ueberflüssigen, der Anmut zu werden. So ging er auch bei der nächsten Aufgabe vor, die ihm ein gütiges Geschick zu teil werden liess, nämlich dem neuen Münchener Schauspielhause, das als erstes in Deutschland in modernem Charakter gebaut wurde. Dieses Werk ist nun nicht speziell deswegen beachtenswert, weil es „modern“ ist (wir hoffen sogar, dass man in diesem ausgesprochen ruhigem Bau das, was mit diesem Wort leider nur zu oft in der Vorstellung verbunden wird, vergebens suchen wird), sondern deswegen, weil das Moderne hier nicht bloss angestrebt worden ist, sondern gelungen ist.

 

Von der Raumwirkung, der Farben- und Stimmungswirkung, welche der Beschauer abends hier empfindet, können die Abbildungen auch nicht entfernt eine Vorstellung geben. Es genüge, die Hoffnung auszusprechen, dass jetzt moderne Dramen geschrieben werden mögen, bei deren Anhören man den Abstand zwischen ihnen und dem Bühnenhause nicht allzustark empfinde. Mehr zu sagen, verbieten uns die eigenen Anweisungen des Künstlers, in denen er uns bat, von jeglichem Lobe in dieser Besprechung absehen zu wollen. Wir können es uns aber nicht versagen, auch noch diese letzte Thatsache indirekt als Bekräftigung dessen zu verwerten, was wir schon früher über das Sichtbarwerden der Persönlichkeit in den Werken eines Künstlers auszuführen versuchten. Neben dem Momente der anmutigen Kraft, der wohlthuenden Harmonie der Verhältnisse und Linien, die sich bei den Räumen des Schauspielhauses bis zur Schönheit steigern, finden wir in seinen Arbeiten folgende Eigenschaften: Klarheit, struktiv-logische Vernünftigkeit, eine hie und da sogar bis an die Grenzen der Nüchternheit gehende, sie aber nie überschreitende Einfachheit, trotzdem aber auch Sinn für eine gewisse fröhliche Bequemlichkeit. Wir sehen Liebe zur abwechslungsvollen Erfindung, eine Abneigung jedoch gegen Phantasie und gegen jede über das Mass des ihm unbedingt nötig Scheinenden hinausgehende Ausdrucksstärke der Formen und Linien, eine vornehme Bescheidenheit und eine grosse Selbstbeherrschung und Zucht. Und die Mehrzahl dieser Eigenschaften finden sich wieder in der Persönlichkeit des Künstlers so wie sie uns im direkten Verkehre des täglichen Lebens entgegentritt.

Es ist zuzugeben, dass nicht oft eine solche Uebereinstimmung von Sein, Erscheinen und Wirken anzutreffen sein wird wie hier und dass ein solches restlos aufgehendes Paradigma für die Möglichkeit eines durchgeführten persönlichen Charakters in der künstlerischen Leistung einen besonders wertvollen Fall darsellt. Um so überzeugender aber muss er auf den wirken, der den geheimnisvollen tiefen Gründen des schöpferischen Vorganges im Geistesleben nachzuspüren den Trieb in sich fühlt.

Was nun für die Allgemeinheit aus diesen und verwandten Fällen hervorgehen muss (ich nenne nur VAN DE VELDE und PANKOK, die einen ähnlichen Weg von der Malerei zum Handwerk und von da zur Architektur zurückgelegt haben), das ist die überraschende und vielversprechende Thatsache, dass einige wenige Männer dadurch, dass sie, schon frei anfangend und sich selbst frei vom Nachahmen anderer haltend; ihren schöpferischen Eingebungen treu blieben und sie durch Arbeit und Nachdenken zur Reife brachten, ihrer Zeit einen stärkeren Stoss nach vorne geben konnten, als zehnmal so viele Jahre Kopierkunst es vermocht hatten und dass diese Erscheinung auch auf dem Gebiete der Architektur anfängt Gestalt zu gewinnen.

Zum erstenmale seit Jahrhunderten steht also Deutschland im Begriffe, etwas Eigenes in der Architektur in die Welt zu setzen.

An unserer Jugend nun ist es, zu zeigen, dass die herrlichen Quellen der deutschen Erfindung und der Phantasie noch in ihr vorhanden sind, und nur verborgen waren und erdrückt von dem schweren Gestein des Herkommens und der unseligen Hypertrophie des Unterrichts. Traut es euch zu, hebt den Bann, arbeitet mit Feuer und mit Geduld und zeiget, was ihr erfindet.

 

Gewiss, wir sind nicht so wahllos optimistisch zu glauben, dass jeder dritte Mann ein schöpferisches Genie sein wird. Und ebensowenig geben wir uns dem Wahne hin, dass jemals alles, was da Künstler heisst, eo ipso eine gottbegnadete Rasse darstellen wird. Durchaus nicht. Wandeln doch neben dem Poeten noch ganz gewöhnliche Menschen hier auf Erden, auch Dachse, Käfer und Infusorien. Nicht alle können dichten. So werden auch fernerhin viele tüchtige Leute in den bewährten Stilen weiterbauen. Was wir aber auf Grund von jahrelanger Beobachtung rundweg behaupten können ist dies: Dass die Anzahl kreativer Talente unvergleichlich grösser ist als die alten Herren es glauben und als unsere zaghafte Jugend es selber glaubt!

Hat unser Volk nicht in ungeahnter Fülle und Mannigfaltigkeit die schönste Musik der Welt gezeugt? Und basiert nicht auch sie auf Rhythmik, Melodik, Konstruktion, Dynamik, Aufbau? Schon sind Anfänge vorhanden, hier und da erscheinen einzelne Skizzen, die neue Kraft verraten, doch noch allzu oft schimmert der verkappte Kompromiss hindurch und nur wenige bleiben sich treu wie es zum Teil BRUNO SCHMITZ vermocht hat. Aber arbeiten gilt es, arbeiten und kämpfen, denn noch viele Jahre werden vergehen, ehe auf der ganzen Linie die Parole gilt: Schöpferisch währt am längsten.

Und prüfen gilt es, läutern und sichten, denn an Gefahren und Verführungen fehlt es nicht. Müssen wir doch geradezu davor warnen, sich nun von diesen eben als Führer genannten Männern gerade so hingebend beeinflussen zu lassen, wie man es früher mit den bewährten Stilen that. Liegt doch gerade hierin der wahre Grund für die so oft wahrgenommene und als rätselhaft erklärte Thatsache des nur sporadischen Auftauchens genialer Perioden. Es geschieht leider allerorts mit einem fast beängstigenden Eifer und schon hat z. B. das Imitieren des noch dazu vollkommen missverstandenen belgischen abstrakten Linienornaments zu einer der läppischsten Verzierungsmoden geführt die wir jemals erlebt haben. Und in ihren eigenen Reihen wird die Jugend ihre schlimmsten Feinde finden, die Kollegen nämlich, die um jeden Preis etwas Neues machen wollen und das ernste Ringen anderer in Misskredit bringen, noch ehe es zu Kredit gekommen ist.

Wahrlich, an Gefahren und an Beeinflussungen fehlt es nicht und mehr als je zuvor heisst es jetzt: Künstler Deutschlands, wahret eure eigene schöpferische Kraft. Doch seien wir getrosten Mutes: Auf die Dauer hat noch stets der kernige Geist des deutschen Hartkopfes gesiegt, und auch hier wird die Jugend, wenn nötig, über sich selber siegen.

Doch damit dies herrliche Ziel wahrhaft deutscher Bauweise überall erreicht werde, sind die Künstler auf die Mitwirkung des ganzen übrigen Volkes angewiesen.

Der wahre Grund, weswegen seit Jahrhunderten die Architektur keinen Fortschritt zu verzeichnen hat, der sich nur entfernt mit dem übrigen Kulturleben vergleichen lässt, ist mit dem einen Worte eines Künstlers bezeichnet, das wir einmal zu hören Gelegenheit hatten: „Die niederträchtige Abhängigkeit“.

Der Maler malt sein Bild, wie es ihm passt, verhungert vielleicht, aber: er kann es malen. Welcher junge Architekt kann sich ein Haus, eine Kirche bauen? Er kann nur Skizzen, Entwürfe machen und das sollte er allerdings mehr thun und öfters zeigen, als es bis jetzt geschieht. Von einem Magistrat, von einer Regierung, von Geschäftsleuten ist eine Initiative schlechterdings nicht zu erwarten. Sind sie doch selber abhängig von unzähligen Faktoren. Tausende von Aufgaben jedoch harren nur des erlösenden Hauches der wagemutigen Privat-Initiative von Männern und Frauen, die weiter hinaus denken als nur auf den Augenblick oder auf die nächsten zwei Jahre. Von welcher Seite soll denn die Erlösung kommen, wenn nicht von dieser? Und selten war die Zeit so günstig wie jetzt, wo dank der rührigen Initiative mächtiger Vereinigungen die nähere Umgebung so vieler unserer Grosstädte der Spekulation mit Zinskasernen entrissen und der Bebauung mit menschenwürdigen Heimstätten wiedergegeben worden ist. In diesen Anlagen kommen wenigstens die praktischen Vorbedingungen oft dem Ideale sehr nahe, das Generationen schon vergeblich ersehnten. Nützen wir doch im neuen Jahrhundert die günstige Konjunktur aus, zeigen wir uns des sozialen Fortschrittes würdig, indem wir nun auch diese Heime echt, wahr, zeitentsprechend und individuell bauen, auf dass wir selber Freude daran haben und unsere Nachkommen ein Denkmal hinterlassen, nicht dessen, was wir mit Vorliebe nachgeahmt haben, sondern dessen, was wir und wie wir am Anfang des neuen Jahrhunderts selber waren. Wenn wir das thäten, so würde ein Treiben und Spriessen sondergleichen entstehen, endlich eine wahre Wiedergeburt.

Wir würden Villen-Kolonien von individuellen Heimen haben, und weiterhin Häuser und Schlösser, aus denen Persönlichkeiten zu uns sprechen würden, Persönlichkeiten der Architekten, aber auch der Bauherren. Hier eine einfache Strenge, eine herbe Umrisslinie, eine intellektuelle Betonung des Konstruktiven, dort bewegte Formen, reichgegliederte Bauteile, überschüssige Kraft in allen Profilen und in allen Gliederungen. Und nicht zufällig würde alles so erscheinen, weil gerade dieser oder jener strenge oder üppige Stil gewählt wurde, sondern weil es die Erbauer bewusst so gewollt haben. Es würde jeweils anders sein und es würde jeweils gut sein, weil es wahrer Ausdruck des Menschen sein würde, das heisst in diesem Fall, der an Zweckgebilden sichtbar gewordenen Persönlichkeit.

Wenn dies einst geschehen wird, wird die Angst vor diesem Novum schwinden, grosse Firmen werden sich an wahre Künstler wenden. Ein Geschäft nach dem andern wird nicht bloss wie jetzt zweckmässig bauen, um dann alles wieder durch missverstandene sogenanntmoderne Verzierungen zu vernichten, sondern wird das Zweckmässige auch dem Wesen der Sache nach beleben und verzieren. Allmählich werden die Stadt nachfolgen und der Staat, welche berufen sind, in der Zukunft

das höchste und erhabenste in der neuen Art zu leisten. Gewiss würden sich in vielen Fällen gemeinsame, stets wiederkehrende Grundformen an den Bauten vorfinden, und wie das einst im Mobiliar der Fall sein wird, so wird wohl auch in der Architektur das eintreten, dass man bei der ungeheuren Verbreitung gewisser zweckmässiger Grundformen von einer gewissen scheinbaren Volkskunst dereinst wird reden können. Allein das liegt noch und soll noch in weiter Ferne liegen. Vorerst aber hoffen wir von ganzem Herzen, dass die Städte, weit entfernt davon, es sich zur Aufgabe zu machen, das ganze Ansehen der Strassen rein äusserlich einheitlich zu gestalten, indem sie einen Stil für mehr oder weniger Alles kultivieren, ihre vornehmliche Aufgabe darin finden werden, das Gebäude jeweils in dem Charakter aufzuführen, welchen sein inneres Wesen erheischt und sich um die sogenannte Einheitlichkeit der Gesamterscheinung, die ja auch jetzt nicht im geringsten vorhanden ist, keine allzugrosse Sorgen zu machen. Sie wird sich von selber einstellen. So wird man ein Schulhaus, ein Arbeitsamt, einen Justizpalast in einem Charakter ausführen lassen, der den innern praktischen Bedürfnissen, aber auch dem geistigen Wesen solcher ernster Arbeitsstätten entspricht, statt dazu den üppigen lebenslustigen Stil des Rokoko zu wählen, wie es bei uns leider schon geschehen ist. Aber nicht bloss das; sie wird diese Aufgabe dem Künstler überweisen, dessen ganze Art, dessen ganzes angeborene Wesen solchem einfachen, strengen Bau, der nichts Ueberflüssiges duldet, am meisten entspricht, nicht aber dem, der dieses bloss aus Nüchternheit und Dürftigkeit der Erfindung fertig bringt.

Ein Rathaus aber, eine Festhalle, solche Bauten werden das stattliche Selbstbewusstsein des Bürgers, seine Lebensfreude, seine Munificenz reichlich zum Ausdruck bringen dürfen und werden nur von solchen Künstlern ausgeführt werden, die schon den Beweis geliefert haben, dass sie in ihrem eigenen reichen und phantasievollen Naturell jene Bürgereigenschaften selber besitzen, die sie zum Ausdrucke bringen sollen, nicht von solchen, die, prunkhafte Bauten der Vergangenheit kopierend, die scheinprächtigste Fassade zu dem geringsten Preise zu liefern versprechen.

So viele Zwecke vorhanden sein werden und so viele Persönlichkeiten man zu ihrer Lösung heranziehen wird, so viele Stile wird es dereinst geben in jener deutschen Stadt des zwanzigsten Jahrhunderts, die wir alle mit der Seele suchen.