1938 Über meine Malerei

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MAX BECKMANN

Über meine Malerei (1938)

Vortrag, gehalten in den New Burlington Galleries, London, 1938

 

 

"Verehrte Damen und Herren!

 

Es ist mir außerordentlich leid, mich nicht in englischer Sprache ausdrücken zu können. Aber vielleicht kann ich das später einmal nachholen. - Als Voraussetzung meines Versuchs einer Erklärung (das heißt a priori einer fast unmöglichen Erklärung) möchte ich als erstes betonen, niemals in irgendeiner Form mich politisch betätigt zu haben. Ich habe nur versucht, mein Weltbild so intensiv, wie es mir möglich war, zu realisieren.

 

Malerei ist eine schwere Sache und fordert den Menschen mit Haut und Haaren. So bin ich vielleicht blind an vielen Dingen des realen und politischen Lebens vorbeigegangen. Allerdings nehme ich an, dass es zwei Welten gibt: Die Welt des Geistes und die der politischen Realität. Beide sind streng gesonderte Funktionen der Lebensmanifestation, die sich wohl manchmal berühren, aber im Prinzip grundverschieden sind. Welche wichtiger sind, muss ich dem Zuhörer überlassen. Worauf es mir in meiner Arbeit vor allem ankommt, ist die Idealität, die sich hinter der scheinbaren Realität befindet. Ich suche aus der gegebenen Gegenwart die Brücke zum Unsichtbaren - ähnlich wie ein berühmter Kabbalist es einmal gesagt hat: "Willst du das Unsichtbare fassen, dringe, so tief du kannst, ein - in das Sichtbare." Es handelt sich für mich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen und diese Realität in Malerei zu übersetzen. - Das Un-sichtbare sichtbar machen durch die Realität. - Das mag vielleicht paradox klingen - es ist aber wirklich die Realität, die das eigentliche Mysterium des Daseins bildet!

 

Entscheidend hilft mir dabei die Durchtastung des Raumes. Höhe, Breite und Tiefe in die Fläche zu übertragen, so dass aus diesen drei Raumgegebenheiten sich die abstrakte Bildfläche des Raumes gestaltet, die mir Sicherheit gibt gegen die Unendlichkeit des Raumes. Meine Figuren kommen und gehen, wie sie mir Glück und Unglück bieten. Ich aber suche sie festzuhalten in der Entkleidung ihrer scheinbaren Zufälligkeit. Das einmalige und unsterbliche Ego zu finden: in Tieren und Menschen, in Himmel und Hölle, die zusammen die Welt ergeben, in der wir leben.

 

Raum - Raum - und nochmals Raum -die unendliche Gottheit, die uns umgibt und in der wir selber sind. Dies suche ich zu gestalten durch Malerei. Eine Funktion, die grundverschieden von Dichtung und Musik, für mich aber vorherbestimmte Notwendigkeit ist. Kommen geistige, metaphysische, irdische und unirdische Geschehnisse in mein Leben, so kann ich sie nur auf dem Wege der Malerei festhalten. Entscheidend ist nicht der Gegenstand, aber seine Übersetzung mit den Mitteln der Malerei in die Abstraktion der Fläche. Ich brauche daher kaum ungegenständliche Dinge, da mir der gegebene Gegenstand bereits unwirklich genug ist und ich ihn nur durch die Mittel der Malerei gegenständlich machen kann. Ich bin oft - sehr oft allein. Das Atelier in Amsterdam, ein großer alter Tabakspeicher, füllt sich aufs neue mit Figuren aus alter und neuer Zeit, und immer spielt das Meer von nah und weit durch Sturm und Sonne in meine Gedanken. Dann verdichten sich die Formen zu Dingen, die mir verständlich erscheinen in der großen Leere und Ungewißheit des Raumes, den ich Gott nenne.

 

Der konstruktive Rhythmus der Kabbala hilft mir manchmal dabei. Wenn meine Träume über Oannes und Dagon zu den letzten Tagen der versunkenen Kontinente unserer Planeten wandern. Nichts anderes ist mir die Straße mit dem Mann, der Frau und dem Kind, der Aristokratin oder Prostituierten, dem Dienstmädchen oder der Fürstin. Zwiespältige Träume - laufen sie mir durcheinander, Samothrake, Piccadilly oder Wallstreet. - Eros und Nicht-mehr-sein-Wollen, alle diese Dinge bestürmen mich wie Tugend und Verbrechen, Schwarz und Weiß. - Ja: Schwarz und Weiß, das sind die beiden Elemente, mit denen ich zu tun habe. Das Glück oder Unglück will es, dass ich nicht nur weiß, nicht nur schwarz sehen kann. Eins allein wäre viel einfacher und eindeutiger. Allerdings wäre es dann auch nicht existent. Aber trotzdem ist es doch der Traum vieler, nur das Weiße (nur das gegenständlich Schöne) oder nur das Schwarze (das Hässliche und Verneinende) sehen zu wollen. Ich kann nicht anders, als mich in beidem zu realisieren. Nur in beidem, Schwarz und Weiß, sehe ich Gott als eine Einheit, wie er es sich als großes, ewig wechselndes Welttheater immer wieder neu gestaltet.

 

So bin ich denn, fast ohne zu wollen, von formalen Prinzipien auf transzendente Ideen geraten. - Eine Angelegenheit, die durchaus nicht mein "Fach" ist. Trotzdem schäme ich mich dessen nicht.

 

Nach meiner Ansicht sind alle wesentlichen Dinge der Kunst, seit Ur in Chaldaea, seit Tel Halaf und Kreta, immer aus dem tiefsten Gefühl für das Mysterium des Seins entstanden. Ein "Selbst" zu werden, ist immer der Drang aller noch wesenlosen Seelen. Dieses "Selbst" suche ich im Leben - und in meiner Malerei.

 

Kunst dient der Erkenntnis, nicht der Unterhaltung, der Verklärung oder dem Spiel. Das Suchen nach dem eigenen Selbst ist der ewige, nie zu übersehende Weg, den wir gehen müssen. Es gibt natürlich auch hierfür andere Wege: Literatur, Philosophie oder Musik. Meine Ausdrucksform ist nun einmal aber die Malerei. Belastet - oder begnadet - mit einer furchtbaren vitalen Sinnlichkeit, muss ich die Weisheit mit den Augen suchen. Ich betone besonders Augen; denn nichts wäre lächerlicher und belangloser als eine zerebrale gemalte Weltanschauung ohne den schrecklichen Furor der Sinne für jede Form von Schönheit und Hässlichkeit des Sichtbaren. Wenn sich aus meiner Form, die ich für dieses Sichtbare gefunden habe, sogenannte literarische Themen ergeben (das wären also Porträts, gegenständliche Kompositionen oder Landschaften), so sind sie alle entstanden aufgrund der Voraussetzung der Sinne, in diesem Falle der Augen, und jedes zerebrale Thema ist noch einmal umgewandelt in Form, Farbe und Raum.

 

Alles Zerebrale und Transzendente bindet sich in der Malerei mit einer ununterbrochenen Arbeit des Sehens. Jeder Ton einer Blume, eines Gesichts, eines Baumes, einer Frucht, eines Meeres oder eines Berges wird gierig notiert von der Intensität meiner Sinne, zu denen dann auf mir selbst nicht bewusste Art die Arbeit meines Geistes und letzten Endes die Kraft oder die Schwäche meiner Seele kommt. Dieses ursprüngliche und unveränderliche Kraftzentrum, welches Geist und Sinne erst fähig macht, persönliche Dinge auszusagen. Die Kraft der Seele ist es, die den Geist und die Sinne zu dauernder Turnübung zwingt, um die Anschauung des Raumes zu erweitern.

 

Etwas davon ist vielleicht in meinen Bildern vorhanden.

 

Das Leben ist immerhin schwierig; ich glaube, diese Neuigkeit dürfte nun doch schon allgemein bekannt sein. Diesen Schwierigkeiten mich einigermaßen zu entziehen, übe ich den reizenden Beruf eines Malers aus. Ich gebe zu, es gibt einträglichere Methoden, um den sogenannten Schwierigkeiten des Lebens zu entgehen. Ich leiste mir nun einmal diesen Luxus. Eh bien - denn ein Luxus ist es selbstverständlich, Kunst zu machen und in dieser Kunst auch noch seine eigene Meinung haben zu wollen. Oh, mein Gott, nichts ist luxuriöser, aber es ist Sport, und ich hoffe, ein guter Sport; für mich jedenfalls einer der wenigen, die dieses recht schwierige und manchmal recht kümmerliche Dasein einigermaßen interessant machen. Liebe, in animalischem Sinne, ist eine Krankheit, aber eine lebensnotwendige, die zu überwinden ist. Politik - ein recht scherzhaftes Spiel, nicht ohne Lebensgefahr, wie man mir versichert hat, aber wohl zeitweilig unterhaltend. Gut Essen und Trinken - nicht zu verachtende Angewohnheiten, meistens mit schlechten Folgen. Um die Welt segeln in 91 Stunden - sicher sehr anstrengend - wie auch Auto-Flugzeug-Rennen oder eine Atomzertrümmerung. Am anstrengendsten aber ist die Langeweile, ein Grund, wie ich befürchte, aus welchem sich die hochachtbare Versammlung auch hier vereinigt hat und wie man sich anderswo zu ähnlichen Zwecken vereinigt.

 

Nun ja, das wissen wir. So lassen Sie mich denn teilnehmen an Ihrer Langeweile und Ihren Träumen, meine sehr hochverehrten Mitmenschen, und nehmen Sie teil an den meinen, die vielleicht die Ihren sind.

 

Im Grunde ist über Kunst genug geredet, und letzten Endes ist alles unzulänglich, wenn man mit Worten seine Taten interpretieren soll. Trotzdem werden wir weiter reden und weiter malen, musizieren, uns langweilen und uns aufregen, Kriege führen und Frieden schließen, solange die Kraft der Phantasie der Imagination ausreicht. Imagination - vielleicht die göttlichste Eigenschaft des Menschen. Nun, Imagination des Raumes, das ist mein Traum. Die Abänderung des optischen Eindrucks der Welt der Objekte durch eine transzendente Mathematik der Seele. Das ist die Vorbedingung. Prinzipiell ist jede Veränderung des Gegenstandes erlaubt, die sich durch ausreichende Gestaltungskraft legitimieren kann. Ob sie Erregung - oder Langeweile im Beschauer erzeugt, das, meine verehrten Damen und Herren, bleibt Ihnen überlassen. Für mich entscheidend ist die gleichmäßige Anwendung eines Formprinzips, das bei der Veränderung des Objekts der Imagination vorgenommen wird. Das eine ist sicher: Wir brauchen die Übersetzung des dreifachen Raumes der Welt der Objekte in den zweifachen der Bildfläche. Wird die Bildfläche nur mit einem zweifachen Raumerlebnis gefüllt, so entsteht Kunstgewerbe oder Ornament. Sicher kann man sich auch daran ergötzen. Mir selber ist es langweilig und gibt mir nicht genügend visuelle Sensation.

 

Höhe, Breite und Tiefe in die zweidimensionale Fläche zu verwandeln, ist mir stärkstes Zaubererlebnis, aus dem mir eine Ahnung jener vierten Dimension entsteht, die ich mit meiner ganzen Seele suche.

Prinzipiell bin ich immer dagegen gewesen, dass der Künstler über sich und seine Arbeiten schreiben oder reden soll. Nicht Eitelkeit oder Erfolgsgier zwingt mich heute, einmal selbst das Wort zu nehmen über Dinge, die sonst nicht auszusprechen sind für mich. Die Welt aber ist in eine derartige, auch künstlerische Katastrophensituation hineingeraten, dass sie mich, der ich fast dreißig Jahre als absoluter Einsiedler gelebt habe, zwingt, aus meinem Gehäuse hervorzutreten und die paar Ideen auszusprechen, die ich mühsam im Lauf der Jahre erkämpft habe. Ich fahre also in der Formulierung meines künstlerischen Realisationsversuches fort:

 

Die größte Gefahr, die uns Menschen allen droht, ist der Kollektivismus. Überall wird versucht, das Glück oder die Lebensmöglichkeiten der Menschen auf das Niveau eines Termitenstaates herabzuschrauben. Dem widersetze ich mich mit der ganzen Kraft meiner Seele. Die Individualisierung des künstlerisch darzustellenden Objekts durch das Gefühl der Sympathie und Antipathie ist notwendig und dient zur Formbereicherung. Mit dem Ausschalten der menschlichen Beziehungen untereinander in der künstlerischen Darstellung entsteht jenes Vakuum, unter dem wir mehr oder weniger alle leiden. Die individuellen Formveränderungen aller Einzelheiten des darzustellenden Objekts sind unerlässliche Mittel zur Darstellung gesammelter körperlicher Volumen. Das heißt: Der Kontakt des Mitgefühls für den Mitmenschen muss wieder hergestellt werden.

 

Um diese Dinge zu unternehmen, gibt es natürlich viele Wege. Mir dient in sehr wesentlicher Weise das Licht als Gliederung der Bildfläche einerseits und zur tieferen Durchdringung des Objekts andererseits. Da wir immer noch nicht wissen, was dieses "Ich" wirklich ist, dieses Ego, das dich und mich, jeden in seiner Art bildet, müssen wir tiefer und tiefer in seiner Entdeckung vordringen. Denn das "Ich" ist das größte und verschleiertste Geheimnis der Welt. David Hume und Herbert Spencer haben das "Ich" auf eine Reihe von Vorstellungen zurückgeführt, an deren Ende sie nichts finden können. Nun, ich glaube an das "Ich" in seiner ewigen und unvergänglichen Form, dessen Wege in unbegreiflicher Art unsere Wege sind. Aus diesem Grunde interessiere ich mich für das Individuum, das gesamte sogenannte Individuum, und suche es auf jede Weise zu ergründen und darzustellen. Was bist du? Was bin ich ? Das sind die Fragen, die mich unaufhörlich verfolgen und quälen, aber vielleicht auch zu meiner künstlerischen Arbeit beitragen. Schön und wichtig ist mir, als Maler, natürlich die Farbe, als seltsamer und großartiger Ausdruck eines unbegreiflichen Spektrums des Ewigen. Ich brauche sie auch zur Bereicherung der Bildfläche und zu tieferer Durchdringung des darzustellenden Objekts. Sie bestimmt bis zu einem gewissen Grade meine seelische Grundhaltung, ist aber der Licht- und vor allem der Formbehandlung nachgeordnet. Ein Überwiegen des farbigen Elements auf Kosten der Form und der Raumbehandlung wäre der Anfang zu einer zweifachen Bearbeitung des Raumes in der Bildfläche und nähert sich daher dem Kunstgewerbe. Reine Lokalfarbe und gebrochene Töne müssen gleichzeitig verwendet werden, da eins das andere erst richtig zur Geltung bringt.

 

Doch das alles sind Theorien, und Worte sind zu mangelhaft, um künstlerische Probleme wirklich zu definieren. Was mir vorschwebt und was ich realisieren möchte, kann ich vielleicht besser in Form einer Art von trunkener Vision verwirklichen. Eine meiner Figuren, vielleicht aus der "Temptation", sang mir in einer Nacht dies sonderbare Lied: Füllt aufs neue eure Kürbisse mit Alkohol und gebt mir selbst den größten. Feierlich will ich euch die großen Lichter, die Riesenkerzen anstecken. Jetzt in der Nacht. - In der tiefen schwarzen Nacht.

 

Wir spielen Verstecken, wir spielen Verstecken über tausend Meere. Wir Götter, wir Götter in Morgenröte, um Mittag und in schwarzer Nacht. Ihr seht uns nicht - ihr könnt uns nicht sehen, doch seid ihr ich. Drum lachen wir so schön - in Morgenröte, um Mittag und in schwarzer Nacht. Sterne sind unsere Augen, Weltnebel unsere Bärte, Menschenseelen unser Herz. Wir verstecken uns, ihr seht uns nicht, das wollen wir gerade - in Morgenröte, um Mittag und in schwarzer Nacht.

 

Ohne Ende sind unsere Fackeln, silbern, glührot, purpurn, violett, grünblau und schwarz. Wir tragen sie im Tanze über die Meere und Gebirge, über die Langeweile der Welt des Lebens. - Wir schlafen - und die Gestirne kreisen im dumpfen Traum. Wir wachen - und die Sonnen treten an zum Tanz über Bankiers und Schafe, über Huren und Fürsten der Welt.

So ähnlich sang und sprach noch lange die Figur aus meiner "Temptation" zu mir, der sich gerade bemühte, aus dem Quadrat der Hypotenuse eine bestimmte Konstellation der Hebriden zu den roten Giganten und der Zentralsonne zu bestimmen. Nun, ich war erwacht und träumte ein bisschen weiter. Immer wieder trat die Malerei als einzig mögliche Realisation der Einbildungskraft vor meine Augen. Ich dachte an meinen großen alten Freund Henri Rousseau, diesen Homer in der Portiersloge, dessen Urwaldträume mich manchmal den Göttern näher gebracht hatten, und grüßte ihn ehrerbietig im Traum. Neben ihm sah ich William Blake, diese edelste Emanation des englischen Genius. Er winkte mir freundlich zu mit einer überirdischen Väterlichkeit:

 

Habe Vertrauen zu den Dingen, sagte er, lasse dich nicht schrecken von all dem Entsetzlichen der Welt. Alles ist eingeordnet und richtig und muss seinen Weggehen, um Vollkommenheit zu erreichen - eine größere, nie ganz zu erreichende Vollkommenheit. Suche diesen Weg - und du wirst die grenzenlose Schönheit der Schöpfung aus dem eigenen "Ich" immer tiefer verstehen, immer mehr lieben, und immer losgelöster werden von all dem, was dir jetzt noch jämmerlich, traurig oder schrecklich ist.

 

Ich erwachte - und sah mich in Holland, inmitten einer grenzenlosen Verwirrung der Welt. Aber mein Glaube an eine endliche Befreiung und Erlösung von allen Dingen, die mich quälten und erfreuten, war neu gestärkt, und ruhig legte ich meinen Kopf wieder in die Kissen. Um zu schlafen und weiter zu träumen."

 


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