Leonardo da Vinci

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Zur Weiterentwickelung historischer Bauformen.

(Nach einem Vortrage des Hrn. Professor  J . 0 t z e n   im Architekten-Verein zu Berlin.)

 

Eine nur annähernd erschöpfende Behandlung des vorliegenden Themas, welches ja gewissermaßen das Programm der ganzen Geschichte der Baukunst umfasst, würde einen so großen Aufwand an Zeit, ein so weit greifendes Eingehen auf die zahlreichen Bedingungen des Kunstschaffens der Völker erfordern, dass die Beschränkung auf ein kleines, engbegrenztes Gebiet der Formenwelt von selbst zur Nothwendigkeit wird, wenn es sich darum handelt, dem Gegenstande, und wäre es auch nur bezüglich der wesentlichsten Gesichtspunkte, in einem einzigen kurzen Vortrage gerecht zu werden. Selbst an die Aufgabe, eine einzelne Kunstform durch alle Zeiten hindurch zu verfolgen, kann man nicht ohne ein großes Rüstzeug von Gelehrsamkeit heran treten; denn alle die Momente, welche die Kunstgeschichte überhaupt beeinflussen: das Klima und die Bodenverhältnisse des Landes, die Religions-Anschauung, die politische Stellung, das wirthschaftliche und gesellschaftliche Leben, das technische Wissen und Können und die besondere künstlerische Begabung der Völker kommen dabei in Betracht. Ja, zum rechten Verständniss der Formen reicht die Kenntniss aller dieser Umstände und Verhältnisse nicht einmal aus; die bloße Gelehrsamkeit ist nur als ein vortreffliches Hilfsmittel zu betrachten, – als Haupterforderniss muss noch die eigene Künstlerschaft, das richtige

Kunstempfinden des Forschers hinzu treten.

Was die Weiterentwickelung überkommener Bauformen im allgemeinen betrifft, so sind die dazu erforderlichen Bedingungen heute in einem Maaße gegeben, wie niemals zuvor. Denn während in alter Zeit die Verbreitung der Formenkunde wesentlich durch persönliche Uebertragung vor sich ging und die Fortbildung der Formen immer nur auf dem Einflusse einzelner kraftvoller Persönlichkeiten beruhte, die durch ihr künstlerisches Schaffen bestimmend wirkten, wenngleich auch ihnen ein immerhin nur eng begrenztes Wissensfeld zu Gebote stand, ist uns heute durch die vielseitigste Forschung eine umfassende Kenntnis aller   Zeiten und ihrer Kunstthätigkeit vermittelt und durch die mannichfaltigsten Hilfsmittel die reichste Gelegenheit gegeben, uns mit den Formenschätzen aller frühern Kunstepochen vertraut zu machen. Demgemäß fordert heute denn auch nicht, wie einstmals, nur eine einzige Kunstrichtung zur Nachfolge auf, sondern die verschiedensten Richtungen üben ihren Zauber aus und finden ihre Gemeinde. Auch hinsichtlich der Baustoffe, welche ja ebenfalls von großem Einflusse auf die Formenbildung sind, war man in alter Zeit örtlich an eine knappe Auswahl gebunden, ja meist auf den einen oder anderen fast ausschließlich beschränkt. Hingegen verfügen wir heute nicht nur über alle ehemals gebräuchlichen, sondern außerdem über mancherlei neue Stoffe

und besitzen dabei eine Menge von Hilfsmitteln der Bearbeitung, von denen die Meister der früheren Zeitläufte nicht einmal eine Ahnung besaßen. – Wenn demnach in der Jetztzeit alles einer Weiterentwickelung der auf uns gekommenen historischen Bauformen günstig zu sein scheint, so kann es sich nur darum handeln, ob das, was heute in dieser Hinsicht geschieht oder in der nächsten Zeit geschehen wird, einstens als ein Fortschreiten oder als ein Rückwärtsschreiten wird angesehen werden müssen. Nur eine dieser Bewegungen kann sich thatsächlich vollziehen, da nach den in der Geschichte von jeher giltigen Gesetzen ein Stillstand nicht denkbar oder vielmehr schon gleichbedeutend mit Rückschreiten ist.

Um den Vorgang der Weiterentwickelung historischer Bauformen innerhalb bestimmter und im Sinne der Eingangsworte eng gezogener Grenzen zu verfolgen, sei unter den zahlreichen der Kunstgeschichte angehörigen Formengebieten dasjenige der n o r d i s c h e n   B a c k s t e i n - A r c h i t e k t u r   als besonders geeignet heraus gegriffen, indem dasselbe durchaus klar zu überschauen und sowohl seiner geschichtlichen Umgrenzung nach als auch hinsichtlich der Ueberlieferungen, auf welchen es sich aufbaut vollständig bekannt ist.

Die Entstehungszeit der ersten hier in Betracht kommenden Backstein-Bauwerke fällt mit der Mitte des 12. Jahrhunderts zusammen, also mit einer Zeit, in welcher das westliche und südliche Deutschland bereits 1 ½ Jahrhunderte der Entwickelung der romanischen Kunst hinter sich hatten. Indem damals mit dem Deutschthum das Christenthum und sein künstlerischer Besitz in die nordöstlichen Gegenden vordrang, trat an die zur Herstellung von Kirchen- und Klosterbauten berufenen Baumeister die Nothwendigkeit heran, in der Formbildung mit einer noch ganz unentwickelten Technik sich abzufinden und vor allem den vorhandenen Baustoffen sich anzupassen. Es galt, die hierher verpflanzten Errungenschaften des Südens und Westens, die im Haustein bereits ausgebildeten Formen den Verhältnissen entsprechend um-, bezw. weiter zu gestalten. Diese Zwangslage der Meister giebt sich in ihren Werken deutlich zu erkennen: überall bemerken wir in der nordischen Backstein-Architektur eine schwankende Formgebung, einen Mangel an stetigem Fortschreiten. Zu den durch das neue Material bereiteten Schwierigkeiten kam hinzu, dass der Backsteinbau sich mit großer Schnelligkeit über weite Gebiete ausbreitete, ein Umstand, der ebenfalls sehr dazu angethan war, eine stetige und einheitliche Formausbildung zu verhindern. Dagegen ist aber auch, zufolge des häufigen Wechsels der Bedingungen, unter denen die Meister jenes Kunstgebietes ihre Erfindungen gestalten mussten, der Formenwechsel ein sehr reicher und die Formen-Entwickelung eine sehr schnelle. Allerdings ist die eigentliche Blüthezeit der nordischen Backstein-Baukunst nur von kurzer Dauer gewesen und das Absterben rasch eingetreten, indem schon zu Ende des 14. Jahrhunderts eine mehr spekulative Richtung zu überwiegen begann. Nichtsdestoweniger ist die schöpferische Arbeit jener Zeit eine ganz gewaltige, eine so fruchtbare gewesen, dass sie nie in einer andern Kunstepoche übertroffen worden ist. Trotz aller widerwärtigen Umstände haben die Meister jenes Jahrhunderts der Blüthe in dem zum Ausdruck der mitgebrachten Formensprache erst umzugestaltenden Material eine Fülle so origineller und abgerundeter Werke geschaffen, dass wir zu aufrichtiger Bewunderung alle Ursache haben. Leider ist aber selbst heute noch nicht diejenige Begeisterung für jene Schöpfungen vorhanden, welche sie verdienen und welche ihnen namentlich in Deutschland entgegen gebracht werden müsste, da sie doch im besten Sinne National-Eigenthum sind. Noch immer geht der allgemeine Zug unserer Kunstjünger nach dem Süden und verhältnissmäßig wenige nur widmen sich der Pflege und Fortentwickelung des so überaus dankbaren Formengebiets der nordischen Backstein-Architektur.

In welcher Weise sich unter den angedeuteten Umständen die Weiterentwickelung eines Baugliedes im einzelnen vollzogen hat, sei beispielsweise an einer der wichtigsten Formen, an denjenigen des F e n s t e r s   ausführlicher erläutert. Die geschichtliche Entwickelung der Fensterform als K o n t u r   ist die, dass auf das rundbogig geschlossene Fenster der romanischen Zeit, welches nur geringe Höhe hatte, das im Rund oder stumpfen Spitzbogen geschlossene, an Höhe zunehmende Fenster der Uebergangszeit folgt; in der Frühgothik wie in der Blüthezeit, welche den schlanken bezw. einen ermäßigten Spitzbogen verwenden, tritt eine weitere Vermehrung der Fensterlänge ein und in der Spätzeit der Gothik, in welcher der Spitzbogen immer stumpfer sich gestaltet, wird dieselbe bis ins Ungemessene gesteigert. Während die allgemeine Erscheinung des Fensters diesen Umwandelungen unterliegt, vollzieht sich auch eine entsprechende Entwickelung der  F e n s t e r l a i b u n g .

An dem alten romanischen Fenster bot die Herstellung des obern, kugelförmigen Theiles der Laibung bei Anwendung des Backsteins erhebliche technische Schwierigkeiten, die man zwar bei reicheren Mitteln durch sorgfältig geschnittene Steine, unter beschränktern Verhältnissen aber dadurch überwand, dass man entweder nur den kugelförmigen Theil oder aber auch die ganze Laibung mit einem rauen Kalkputz überzog, während sie Ecken in Formsteinen hergestellt wurden. Der nächste Schritt ist die Verwendung eines die Fensterform umrahmenden Eckrundstabes und bringt das in ihr pulsirende Gefühl für organische Gestaltung dadurch zum Ausdruck, dass die tragenden und belastenden Theile tektonisch durch Kapitelle, Basen usw. getrennt werden. Ebenso wächst der Reichthum an solchen Stäben und als wichtigster Schritt in der Entwickelung einer echten Backsteinform tritt die A b s a t z b i l d u n g   des Profils in den Intervallen des halben Steines auf. Im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts, also in der besten gothischen Zeit des Backsteinbaues, ändert sich die Profilirung der Laibung ganz bedeutend, indem die vorspringenden Kanten jener Treppenabsätze nur Profilirungen erhalten anstatt der Säulchen, und zwar Profile stumpfen und rundlichen Charakters. Diese Formen werden in den folgenden Zeitabschnitten, in denen es schon mehr und mehr auf reichere Wirkung ankommt, weiter ausgebildet zunächst noch in mäßigen Grenzen, indem die Rundstäbe wohl in lanzettförmig profilirte Glieder ausgestaltet werden, zwischen welchen die Kehlungen tiefer hervor treten – dann aber nach und nach ins Ueppigere gehend, indem die Stäbe sowohl reichere und freiere Gestaltung zeigen, als auch ziemlich stark hervor springen.

Immer aber erscheinen diene Profilirungen noch charakteristisch und mit künstlerischem Verständniss für die Schattenwirkung angeordnet. In der Zeit des Verfalles aber verschwindet dies mehr und mehr und macht einer charakterlosen Formenhäufung Platz, die sich endlich mehr und mehr wieder dem Ausgangspunkt, der Schräge, nähert, in einigen Bezirken Schlesiens sogar in der Regel darin wieder aufgeht.

Aehnlich ging es mit der A u s f ü l l u n g   d e r   F e n s t e r ö f f n u n g .  Das alte romanische Fenster zeigte keinerlei steinerne Ausfüllung. Bald aber wurden, scheinbar im Anklang an römische Ueberlieferungen, in den lichten Raum zwei durch einen Pfeiler oder auch eine kleine, mit einfachem Kapitell geschmückte Säule gekuppelte Bögen eingefügt. Auch wurde wohl die Wirkung durch Bildung einer als ein Ganzes zu betrachtenden Fenstergruppe erhöht, indem man zu beiden Seiten eines höheren und breiteren Mittelfensters je ein niedrigeres und schmäleres Seitenfenster anordnete. Im Fortschritte der Uebergangszeit erscheint das in größeren Abmessungen angelegte Spitzbogen- Fenster schon durch zwei innere spitzbogige Abtheilungen gegliedert, in deren oberen Zwickel ein Rundfenster eingesetzt ist und deren Trennungssäule schon ein reicheres Kapitell, sowie eine entwickelte Basis zeigt.

 

Nicht wenig hat die bei den Nebengebäuden der Klöster wohl gestattete größere Freiheit zur Hervorbringung mancher reizvollen Form beigetragen; so findet man z. B. bisweilen diejenige eines breiten, rundbogig abgeschlossenen Fensters, dessen Licht in 3, 4 oder 5 schlanke spitzbogige Abtheilungen zerlegt ist, in deren Zwickel wohl noch kleine Rundfensterchen eingefügt sind, – eine Form, welche allerdings als das Weitgehendste zu betrachten ist, was die Uebergangszeit in der Fenstertheilung hervor gebracht hat.

Besonders viel Anregung zur Formen-Umbildung ergab sich aus der Schwierigkeit, das im Haustein ausgebildete g o t h i s c h e   M a a ß w e r k   im Backstein-Material herzustellen. Hier war die Technik, besonders bei größeren Fenster-Verhältnissen, an eine Grenze gelangt; man war genöthigt, die noch recht wohl aus einem einzigen Haustein zu fertigenden größeren Theile in kleinere zu zerlegen. Dabei wurde meistens das Verfahren angewandt, das Maaßwerk zwar in größeren Stücken aus dem Ziegelgute zu formen, dann aber diese in lufttrockenem Zustande zu zerschneiden, um die so gewonnenen kleineren Theile nach erfolgtem Brande beim Aufbau des Fensters mit Mörtel zusammen zu fügen. Den ganzen frühgothischen Zeitraum finden wir mit dergleichen Lösungsversuchen der mannichfachsten Art ausgefüllt, ohne dass diese fördernd auf den Entwickelungsgang des Backsteinbaues einwirkten und einwirken konnten.

Erst mit der Aufnahme der vorhin angedeuteten Pfostentheilung und deren Zusammenfügung durch kleine Spitzbogen erscheint ein echtes Backsteinmotiv und es wird dieses von der Mitte des 14. Jahrh. an herrschend. Seine Ausbildung ist nicht immer dieselbe geblieben. In der Frühzeit finden sich Beispiele einer tektonisch verschiedenen Behandlung von Bogen und Pfosten. Erstere zeigen leichte zierliche Profile, letztere schwere Rundstäbe und beide sind durch Kapitell-Bildungen getrennt. Jedoch ist diese reizvolle Behandlung nicht beibehalten, sondern bald durch schlecht durchgeführte Profile ersetzt worden. In der Zeit des Verfalls verkümmern selbst die verbindenden Bögen und eine rohe Theilung der Oeffnung ist das letzte Ergebniss.

Bei der modernen  W i e d e r - A u f n a h m e   d e s   B a c k s t e i n b a u e s ,  beginnend mit der Romantik der Münchener Schule, ist an die verschiedensten Abschnitte der geschichtlichen Entwickelung desselben angeknüpft worden. In Folge dessen wichen die einzelnen Formenbildungen sehr erheblich von einander ab und der Streit der Meinungen über die Echtheit der einen oder andern Richtung war sehr lebhaft.

Ueber solche Verschiedenheit der Ansichten darf man heute hinweg sehen, indem zugegeben werden muss, dass für fast jede Anschauung ein geschichtlicher Beweis der Echtheit geführt werden kann. Das Wesentlichste, was bei einem echten und rechten nordischen Backsteinbau nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die Vorschrift, dass man über gewisse Verhältnisse nicht hinaus gehen darf, weil sonst das Material nicht mehr passt. Denn wenn auch die heutige Technik dem Backstein- Material fast jede Form geben kann und die Grenzen der Materialstilistik für den gebrannten Thon schwer  a l l g e m e i n   fest zu legen sind, so gebietet doch das elementare Wesen des Backsteins der Konstruktion und der ästhetischen Formgestaltung gewisse Grenzen: der Backstein muss eben Backstein bleiben und darf nicht den Haustein nachahmen wollen.

An zahlreichen Beispielen (die der Redner durch Tafelskizzen vorführte, deren Wiedergabe wir uns aber hier leider versagen müssen) lässt sich unschwer nachweisen, wie hinsichtlich der Fenster und Rosen in modernen Schöpfungen des Backsteinbaues Weiter-Entwickelungen stattgefunden haben. So z. B. an den schwierigen Konstruktionsstellen des Zusammenschnitts der Profile des Pfostenwerks – wie diese durch tangentiale Verbindungen vermieden werden können und worin deren

Vorzüge und Vortheile bestehen. Ferner wie die ästhetischen und konstruktiven Konflikte der Durchdringungen durch Verknüpfungssteine sich lösen lassen und wie die Anlehnung an die großen Fenster und Rosenmotive des Hausteins zu neuen und interessanten Entwickelungen im Geiste echter Backstein-Bildungen Veranlassung geboten haben.

In ähnlicher Weise lassen sich die Entwickelungs-Momente der Profile in Anlehnung an Motive des Uebergangsstils nachweisen, auf welche namentlich auch die Nothwendigkeit doppelter Verglasung von Einfluss gewesen ist. Nicht unwesentlich sind endlich noch die Abänderungen, welche in Betreff der freien Endigungen und Sohlbänke gegenüber den historischen Vorbildern an modernen Backsteinbauten sich ausgebildet haben.

Gleichwie in Obigem bezüglich der als Beispiel heraus gegriffenen Bauform des Fensters der Einfluss des Materials und der sich ändernden Zeitbedürfnisse dargethan wurde, so lassen sich in entsprechender Weise alle andern Formen einer Untersuchung unterziehen. Dergleichen Studien haben einen unverkennbaren Werth, indem sie nicht allein unsere Kenntniss der Formen ihrer inneren Bedeutung nach erweitern und befestigen, sondern auch im besonderen lehren, in welcher Weise und auf Grund welcher Verhältnisse die Weiter-Entwickelung der Bauformen in früherer Zeit stattgefunden hat und heute noch vor sich geht, beziehungsweise unter welchen Bedingungen und in welchen Grenzen eine Umbildung historischer Formen gerechtfertigt ist und wann sie als Ausfluss von Willkür und Laune nur Anspruch auf beschränkte Dauer hat.

 

Vielleicht wird durch Vorführung dieses Beispiels die Anregung gegeben, solche Betrachtungen auch auf andre Gebiete zu erstrecken, um wenn möglich wenigstens im Einzelnen sich eine klare Uebersicht des Weges zu bewahren, den wir im Kunstleben unserer Zeit einschlagen.

Mg.

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Otzen, Johannes: Zur Weiterentwickelung historischer Bauformen. In: Deutsche Bauzeitung: 21. (1887). Nr. 27; S. 159–161