1989 Selbstgespräch

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Georg Baselitz

(1938)

 


Bildhauer, Schriftsteller und Zeichner (Deutschland)

 

 


Selbstgespräch

Das sind Gedanken, die im Kopf hin-, her- und herausspringen, über einzelne Bilder von Hill, Strindberg, Munch, Nolde, Kirchner, Picasso, Larionov, Picabia, Malewitsch, zum gefragten Thema 'Expressionismus'. Die abgebildeten Bilder sind nicht die, die im Text vorkommen, was auch nicht schlecht wäre, wenn sie vorkämen, schließlich sind es nicht beliebig andere.

Die Gedanken kreisen um den Zustand vorm Bildermalen, die weiße Leinwand sozusagen und die rezeptionellen Verhältnisse danach. Bildermalen ist ein unverständliches, absurdes und willkürliches Unternehmen, was erst langweilig wird, dem bricht man alle Spitzen ab und multipliziert es im Zeitgeist.

Die Linie halten ist Rückschritt, die Rätsel bleiben, aber das Bild hinter der Leinwand ist keine Utopie mehr.

Das Wort 'Motitiv' klingt nicht gut, es soll nur als Begriff den Ausdruck 'Motiv' potenzieren, mächtiger machen. Man kann es nicht durch 'Metapher' ersetzen, obwohl eine vergleichbare Bildlichkeit, wie 'Sprung in der Schüssel' oder 'Rost am Kopf', gemeint ist.

Also, was hier auf den Bildern noch Ohren und Nasen sind und schattige Lider und Tränen vielleicht, sind dort schon Schornsteine und geborstene Fensterscheiben in roten Häusern und Asphalt kommt geradeaus nicht vor, aber Wasserfall und Vene, auch gezauste Tannen und verbogene Kiefern, Gletscherberge und Schneefelder mit schmutzigen Flecken von den Fußabdrücken fleißiger Leute, Telegrafenstangen, Schuppen und Bretterzäune, Felsen vom Wasser umspült. Die Landschaft kann rot wie Backstein sein. Viele Bilder von Nord nach Süd, bis zum Rand der Alpen, darüber hinweg nicht. In den Städten halten sich die Leute in der Mitte auf, sie verlaufen sich nördlich und südlich in der Provinz an den Rändern. Ganz ungebärdig wird es dann im Osten, wo es Russenblusen gibt. Es kommen Schnapsflaschen und Stiefel vor, Klarinette Kaffee trinkt; oder so zuckersüß wie der Flamingo ein Kaninchen frisst; so böse wie die Marmelade Morgenrot. Ein Bild ist keine Socke, doch das Loch in der Socke ist schon fast ein Bild. Das wird nun erklärt. Ein Maler bricht in Witebsk in Strohschuhen auf und kommt in Lackschuhen in Paris an, ein anderer geht in Oslo Alraunen kauend los und kommt Zigaretten rauchend in Berlin an. Kadmiumgelb auf Kobaltblau, auf Englischrot, auf Schweinfurtergrün gibt einen Quatsch. Ein Apfel auf ein Porträt, auf einen Baum, auf einen Krug, auf einen Akt, auf eine Möwe, auf ein Quadrat gibt ein Bild. Es sind mehr Sommerfrischen gemalt worden als Flugzeuge, mehr Frauen als Männer, mehr Blumen als Vögel, ach, wenn man doch Sex malen könnte, brauchte man eine Kuh nicht grün zu malen, denn es ist für die Fantasie besser, auf eine Kalkwand zu gucken als durch die Fensterscheibe auf eine Wiese. Vergleiche von Bildern mit irgendwas taugen nicht. Sieht man gewöhnlich das, was ist, sieht man von nicht gemalten Bildern gar nichts. Sind sie schließlich gemalt worden, so sieht man nie das, was man schon gesehen hat. Was man sieht, sieht man erst, wenn es gemalt wurde. Bei der Kastanienblüte wird das weniger prägnant sein als bei Napoleons Rückzug. Nur kleine Schritte der Abstraktion macht ein Kartograf mit einer Landschaft. Eine kopfbrecherische Spitzfindigkeit ist ein Bild wie Wasserfall bei Bomako, weil es kein touristischer Wanderweg, sondern ein Teppichflug durch dunkle Nacht ist. Ganz unmotiviert war Emil beim Zeichnen einer Sepikmaske, aber nicht bei der roten Wolke. Eine Metapher hätte leichtere Flügel. Wer denkt so blödes Zeug wie: ein Maler würde nur motiviert, eine Frau nackt zu malen, wenn die Nacktheit motiviert ist. Durch manches motiviert wird Kleidertragen, deshalb ist das Loch in der Socke schon ein kleines Bild. Das Motiv ist der bekleidete Fuß. Gehört der Fuß einem Maler, ist das Loch in der Bekleidung das Motitiv. Mal langsam. Ein Knochen nagender Hund ist das Motiv, das Motitiv wäre der Hund auf einem Bild von Abraham Hondius oder in Schmeils Biologiebuch, sollte es dort einen solchen Hund geben. Gibt es keinen gemalten Hund, ist er nicht mal ein Motiv, deshalb war Emil unmotiviert beim Zeichnen der Sepikmaske. Niederländische Busen, Nürnberger alte Frauen und eine grüne Kuh sind Bilder geworden, eine Sepikmaske nicht. Durch keine noch so große geografische Entfernung erlischt die Macht des Motitivs, es schleicht sich nur der Irrtum ein, sollte man wie Emil denken, der ein Motiv gefunden zu haben dachte, ohne das zu tun, was er beim Malen tun muss. Schon durch zarte Berührung macht man es richtig, können viele Dinge, wie ein niederländischer Busen, eine rote Wolke, ein Flaschentrockner, eine zerbrochene Gitarre, eine Bronzeflasche, ein Baum auf dem Kopf, zum Motitiv werden. Leuchtet kein Licht, wird nichts draus. So nicht, aber so schon, dass Maler und Betrachter vorm Bild sich als Voyeure über ein O.K. verständigen. Der Streit bricht los, es werden zwei Leute, der Haken liegt ohne Fisch auf dem Trockenen. Im ersten Zustand, als Publikum sind sie dumm, im zweiten hat der Zweite nichts zu melden, aber der andere, der auf ungeklärte Weise mit seinem sturverrückten Eifer ein Motitiv macht. Diese Bilder können doch bewegen. Sie zeigen direkter und ungefragter das, was jemandem überhaupt nur dann einfallen kann, wenn ihn niemand danach fragt, was er denn eigentlich tut. Die Bürger mussten gar nicht mehr abgemurkst werden, sie hatten sich ohnehin durch die falsche Entscheidung disqualifiziert, Bilder nicht mehr verliebt wie eine kapriziöse Frau anzugucken. Damit waren sie für die Maler gestorben. Ihre Bewunderer mussten die Maler fortan anderswo suchen. Dass sie sie bis heute nicht gefunden haben, ist schade, es fehlt so an gebildeter Unterhaltung und dem Spiel der Argumente. So also findet man ihn, den Maler, ganz ungehemmt als Abschneider, Zerstückeler, Bastler, Zerreißer und was weiß ich. Mich interessieren Gruppen nicht, auch nicht die Expressionisten. Was ist schon gut an der Durchsetzung eines Stils? Jemand, der ein Motitiv entdeckt hat und dabei ist, das Loch in der Socke zu vergrößern, ist gewöhnlich von unordentlichen Idioten umgeben, die im Schatten des Kapitäns singen. Es gibt Gruppensog und Vereine mit blödsinnigen Programmen. Im Sockenvergleich führt destruktives Verhalten zum Erfolg. Durch abgenützte Wolle, durch Verschleiß und den Druck des Zehs kam das Loch in die Socke. Damit begann es. Der eine glückliche Maler fand so sein Motitiv. Es wäre doch für eine ganze Gruppe albern, Löcher zu bohren. Je mehr Kunststopfen, desto weniger differente Textur im Gewebe, je grober gestopft wird, umso deutlicher wird der Unterschied von Originalsocke und Flickwerk, das führt zum Kunstgewerbe. Berücksichtigt werden müssen auch die Stärke des Fadens, dessen Farbe, das Geschick des Stopfers, als Faktoren des Stils. Ein Original ist durch seine Reproduzierbarkeit ein Original, nicht erst, sondern, sondern.

Um einmal die Socke mit dem Loch zu vergessen, hier ein anderes, aber analoges Beispiel. Auf einer rechteckigen Fläche, vielleicht 50cm hoch und 70cm breit, ist eine Landschaft gemalt, von Ernst Ludwig zum Beispiel. Diese Landschaft ist das Motiv, oder vielmehr ist sie als das Motiv da, nicht als das Wo, aber als das Warum. Was ist nun das Motitiv? Malt ein Kind eine Landschaft mit der gelben Sonne in der Mitte, so ist dieser gelbe Punkt in all dem Blau drum herum mindestens so groß, dass das Gelb nicht grün wird, also wird die Sonne ziemlich groß gemacht und damit wird sie sofort zum Motitiv, obwohl das Ganze viele Mängel hat. Salopp gesagt, erklären sich die Mängel durch die kleinen Verhältnisse des Kindes. Es gibt viele Landschaften mit Sonnen in der Bilderhistorie, die jeweils ein Maler motiviert hat. Die wechselseitige Abhängigkeit von Motiv und Motitiv ist auf solchen Bildern lesbar. Sie setzt sich aus verschiedenen, in der Landschaft befindlichen Teilen zusammen. All diese Sachen sind Bäume, Häuser, der Horizont, das Meer, Menschen, Größe der Sonne und der übrigen Dinge vom Gesamtverhältnis des Bildes zum Verhältnis des Gesehenen und die Farben und das Helldunkel. Kirchner malt auch eine Sonne gleich grün, sie ist ein Stück Motiv und nicht das Motitiv. Der Landvermesser mit seinem Theodoliten würde über die Missverhältnisse verzweifeln. Da ist dieser mutige junge Mann darangegangen und hat nackte junge Stadtnymphen im Gletscherbach gemalt. Das ist als exhibitionistischer Exzess sicher lächerlich, macht aber als Bild Spaß. Nach dem abgepfiffenen Spiel wird nicht ums Ergebnis geknobelt.

Ein anderes Beispiel. Ihre spitze, dürre Nase ist mehr blaugrün als rotgelb, das Flachshaar nicht geknotet, nicht geflochten, kaum so, warum auch? Ihr Scheitel wie vom Schnitzmesser gezogen unter der straffen Trachtenhaube. Weil hier Südfrankreich ist, ist Flachshaar Pechhaar, mehr schwarzblau als braunschwarz. In sechs Variationen ist sie applikationstot und stur. Kein Deut von Milch und Blut unter der Haut, nichts weist auf geschwätzige Nachbarinnen, Freundinnen oder überhaupt irgendwelches Leben oder Frausein hin. Sechs Experimente, jedes ein Ende, alle großköpfig, flach, papieren. Nicht einmal das Kleid wird gewechselt, nur die Farbe. Hier ist es wieder, das Motitiv.

Ist das nicht, doch das ist Madame Ginoux. Wie Deutschland hat auch Frankreich im Süden hohe, schroffe Berge, eine enge Passage für Wanderer aus dem Norden. Carl sagt, die schönen Germaninnen hätten ihre langen blonden Zöpfe an die Römerinnen verkauft. Das ist mal eine Geschichte, die zu denken gibt. Wie denn umgekehrt? Ist man hier so zopf- und kleiderlos nicht nackt?

Ist der Spalt im Berg, wie der Riss im Vorhang, der Pfad der ausschweifenden Fantasie, die Leine zieht und sich in die Ferne träumt? Statt Südsee- oder Tunisreise ist das schon möglich, denn schließlich wurde Flachshaar blauschwarz und die buntscheckige Kuh grün. Noch ein Beispiel. An der Chaussee die Apfelbäume, sind sie nicht schön, auch dann noch schön, wenn kein Maler vorbeikommt und sie zeichnet? Irgendwann kommt einmal einer vorbei und sieht die schönen Bäume, er sieht sofort die schönen Zeichnungen von Feuerbach. Nun kann er sich derart helfen und auf dem Weg weiterbringen, vorbei an den Apfelbäumen, wenn er sie absägt; da das aber nun einmal bei Malern nicht vorkommt, nimmt er statt der Säge den Bleistift, und mit ein bisschen Glück und leicht zugekniffenen Augen, die in die Zukunft blinzeln, erklärt er an Ort und Stelle, auf seinem Zeichenblock, Chaussee und Apfelbäume zum Motitiv. Lange muss man nicht raten, wie sie danach aussehen. Die Sache mit dem Naturerlebnis ist so in Ordnung gebracht worden. Es geht im Kreis herum, immer der gleiche Weg, immer dieselben Sachen. Man sollte lieber schnell den ersten Seitenwind packen, um aus der Rotation zu fliegen, sonst malt die Meditation mehr als der Maler. Piept es im linken Ohr, kommt Besuch; krabbelt es in den Fingern, ist Geld angesagt, habe ich gelernt. Fliegen die Schwalben hoch, gibt es schönes Wetter, und wenn das Käuzchen ruft, stirbt der Nachbar. Das ist recht bedrohlich.

Damals, sogar noch, als Karl May in Radebeul im Schneegestöber saß und Indianergeschichten schrieb, war viel Bewegung unter den Leuten und auch die Dinge flüchteten in neue Arrangements. Die Sepikmaske fand die Calla, die grüne Kuh eine blaue Wiese, das Eisenbahnbillett ein Zahnrad auf dem Auge. Zigeunermädchen mit kantigen Hüften lehnten zwischen Ginsterbüschen an Bäumen aus Leimfarbe. Manche trieb es hoch hinauf in die Berge, andere zu Segelbooten und Möwen, noch andere drückten lauschend ihre Ohren an die Telegrafenstangen.


Derneburg, April 1989