1985 Das Rüstzeug der Maler

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Georg Baselitz

(1938)

 


Bildhauer, Schriftsteller und Zeichner (Deutschland)

 

 


Das Rüstzeug der Maler

Eine Frage und eine Antwort darauf. Sind die Maler noch diejenigen Maler, die die große Höhle bemalen? Malen sie den Büffel an die Wand als den Hunger, den Adler als die Freiheit, die Frau mit dem dicken Hintern als die Liebe? Malen sie den Büffel als das Tischleindeckdich? Haben sie die Höhle inzwischen verlassen, sich aus der Gemeinschaft gestohlen und die allgemeinen, verständlichen Vereinbarungen vergessen, weil der Zauber den Hunger nicht stillt, das Fliegen nicht klappt und auch die Sehnsucht nach Liebe die Liebe nicht bringt? Haben sie die Höhle mit einem anderen Platz vertauscht? Die Propagierung über die Bedürfnisse 'Was braucht der Mensch' nährt sich aus Sehnsucht nach Freiheit und Todesangst und verführt zu einem anderen Weg, abseits von der Bahn der Maler. Die hellen Köpfe, Überflieger, Neuerer, Aktivisten, voran die Verrückten und die Feuerköpfe, sind in ihrem eigenen Schädel geblieben. Sie rufen mutige Devisen: Bilder sollen im Halse stecken bleiben, man soll die Augen vernageln und Herzen in die Zange nehmen. Fischgräte, Bombennacht und Trennung. Also, man sitzt noch beisammen ums Feuer, wärmt sich die Malstuben, ist satt und verliebt. Auf den zerborstenen Leinwänden sind die prächtigen Ornamente voll wirrer Linien und üppiger Farben, kristalline Galerien hängen über den Rahmen. Alles, was aufrecht stand, das Stillleben, ist umgeworfen worden, die Landschaft ist gepackt und entwurzelt worden, die Interieurs wurden zerwühlt; zerkratzt und durchbohrt wurden die Porträts. Die Malerei wurde die Musik. Der Surrealismus hat gesiegt. Alle haltbaren Sachen sind aus den Bildern geflogen. Jetzt geht der Ton durch die Wände, die Linie steht Kopf. Sind die Maler nun unglücklich und frieren? Sie tanzen und feiern Feste mit Freunden, sie laden die Väter ein und trinken Capri mit ihnen. Ein schwarzes Bild ist weiß wie der Himmel. Die Farben glühen in der dunklen Höhle. Licht ist überflüssig. Überhaupt ist alles ganz anders. Den Apparat Venus, den Zeus, die Engel, Picasso haben die Maler erfunden, wie eben auch den Stier, das Brathuhn, das Liebespaar. Die Birnbaumpalette wurde zum Eimer, der Pinsel zum Messer, zum Beil und Knüppel. Die größten Bilder sind größer und die kleinsten kleiner denn je. Einer hat ein Bild von fünf Zentimetern gemalt. Ein Chinese ist im Handstand über die Leinwand gelaufen. Ein Norweger hat einen Birkenwald von 68 ha Größe auf 4 cm2 Leinwand gemalt.

So will ich ja nicht weiterreden. Die Hygiene, ich meine die Religion wird eingesetzt. Eine Sache ist Disziplin, eine andere die Bildung und auch die Meditation. Der Rausch wird zur Vorbereitung oder zur Stabilisierung der Haltung benützt. Manche essen gut, andere reinigen sich durch Fasten. Wenn ich denke, das Rumfuhrwerken, die Konfusion bringe nichts, sondern zack, zack, macht mein Freund zwischen New York und Köln die besten Bilder in der Hosentasche, wo er eigentlich den Kanarienvogel sitzen hat. Sieht man mehr von der Welt, wenn man auf eine Leiter steigt, sieht man noch mehr, wenn man sich flach auf den Acker legt und die Nase in die Erde steckt? So und so. Der Unterschied zwischen einem deutschen und einem italienischen Apfelbaum ist gewaltig groß. Ich habe in der Toskana im Garten Fotos gemacht von solchen Bäumen. In Deutschland zu Hause war dann meine Aufregung groß über diese Exoten-Apfelbäume, unmalbar diese Märchenbaumerfindungen. Ich bin dahinter gekommen, ich wollte gar keinen Apfelbaum malen. Ich saß noch unter der Mutter und hatte nur die Nase rausgesteckt. Die Welt hat sich nicht geöffnet, das Geheimnis blieb verborgen im Ding, nun aber war die Verwirrung da. Das ist eine Erfahrung, nur eben nicht die, die durch Verschiebung des Horizontes bildet. Die ersten 'la Ia'-Laute und Punkt, Punkt, Komma, Strich sind sehr vehemente Schöpfungen für den, der sie macht. Das ist keine Theorie. Ich habe Fidelio komponiert, ich weiß genau, dass ich als Sechsjähriger das Stück dirigiert habe, Hund und Hase habe ich mit acht Jahren gemalt und mit "AD" signiert. Das eine Aquarell liegt in der Wiener Albertina, der Hund ist verloren gegangen. Um mich zu erinnern, vielleicht auch um meine Vergangenheit zu errichten, habe ich zum Beispiel 1969 den Wald gemalt, denn ich bin überzeugt, dass die Jagdpause im Wermsdorfer Wald in der Schule in Sachsen von mir im 8. Schuljahr gemalt wurde. Das Bild ist kleiner als die Erinnerung. Vor mir auf dem Tisch steht eine silberne Thermoskaffeekanne mit warmem Kaffee darin. Mit dieser Kanne könnte ich überhaupt nichts anfangen, wenn ich mich darin nicht spiegeln würde. So fällt mir mein Selbstbildnis mit der großen Hand im Vordergrund ein - hängt in Wien. Dort ist richtiger Surrealismus nur deshalb, weil ich wiederum genau weiß, ich hatte zu der Zeit hellblonde kurze Haare und nicht diese dunklen Locken. Mein lang gehegter Plan ist, Bilder hinter der Leinwand zu malen. Ich will mich nicht hinter der Leinwand verstecken, sondern aufrecht davor stehen. Das Rüstzeug des Malers sind für diesen Malakt zu kurze Arme. Die Anatomie versagt. 1993 hat ein Maler sicher einen Arm um 50 cm länger und macht dieses 'Hinter-der-Leinwand-Bild'. Das bin ich. Deshalb male ich heute, am 16.XI. 1985, diesen Futurismus und signiere mit Datum 1993. Alles was hinter dem Maler liegt, liegt auch vor ihm. Seit ich damals auf einem zugefrorenen See hart mit dem Kopf auf das Eis fiel, ist mir ein singender Ton im Schädel geblieben. Das war ein völlig unproduktiver Akt, der die These der nicht reproduzierbaren Erfahrungen bestätigt. Erst jetzt nämlich verschwand aus meinem Kopf dieser Ton, wurde ausgelöscht, als ich nach dem Paukenwirbel in Bruckners 2. Sinfonie den liegen gebliebenen Ton hörte. Wie bei einer psychischen Interferenz sauste die Luft aus dem Ohr. Solche Akte (Eisstürze) gehören nicht zum Rüstzeug des Malers. Hier hat die Natur etwas anderes vor. Angenommen man malt einen Apfelbaum, inzwischen wird es dunkel, wird Nacht, man hört auf zu malen. Anderntags malt man über diesen Apfelbaum ein Stillleben. Hat man das Ziel aus dem Auge verloren? Am dritten Tag malt man darüber ein Porträt, so malt man beliebig lange ein Ding über das andere. Kommt jetzt jemand und fragt "Was tust du da?", ich würde sofort antworten, ein ..., denn so mache ich es. Niemand zwingt den Maler in jene Gesellschaft, deren Doktrin die verlogenen Bilder fordert, auf denen der Gute dem Bösen Beispiele politischen Irrsinns ins Bilderbuch zeichnet. Wenn ich ein Tischleindeckdich male, esse ich es selber leer. Meine Frau streicht mir sanft über den Kopf. Das Bild wird nicht fertig, liebe Frau, sollte der Maler vorher von der Leiter fallen. Die weiße Kontur entzündet einen schwarzen Hintergrund. Die spanischen Maler sind gute Beleuchter. Der Erfinder des großen Theaterbühnenscheinwerfers ist Velazquez. Ich bin bei seiner Beleuchtungsprobe weggelaufen. Bei so gebündeltem Licht wird mir schwindlig. Vielleicht war das Weglaufen ein Fehler, denn nun fehlt mir dieses Rüstzeug. Ich muss den Farbbrei mit einem Seil zusammenziehen. Wie Schlangen liegen die Seilenden in der Sonne, die schwarze Natter liegt obenauf, auf dem Stillleben. Dort auf dem Bild wird, wo es wichtig ist, scharf gezeichnet und wo es ebenso wichtig ist, verschwimmt die Linie, sie schlingert und verschwindet im Dunkel. Ich lüge nicht - gerade sehe ich Marat in der Badewanne, das Bild von David. Eigentlich sehe ich den Arm mit der Feder in der Hand besser, das Armpendel, die Stunde schlägt, die neue Zeit. Dieser Arm mit Hand ist von Rosso, jenes Bild, auf dem hinten Moses wütet. Unmöglich kann Rossos Modell zu Davids Zeiten noch gelebt haben, aber es ist derselbe Arm, also sind Rosso und David ein und derselbe. Dieser Arm ist ein Rüstzeug. Reinkarnation ist Unsinn. Ebenso ein Rüstzeug sind die GRÜNEN und ROTEN PUNKTE der Girlande in der Priscillagruft, die Renoir ausgemalt hat. Ich habe daneben gestanden und am Tanzschritt gearbeitet. Viele Maler waren in dieser Höhle. Die Frau mit dem Tambourin war noch nicht da. Die Toten brauchen die besten Bilder, das ist die Kunstgeschichte, man kann auch sagen, in der Finsternis sind die Bilder. Ich sage hier alles positiv, Schlechtes sollte beiseite bleiben. Hier die einzelnen Punkte aufgezählt: ALLE MALER LEBEN; die LEIDENSCHAFT KANN SEIN; die HYGIENE; die FARBE, zum Beispiel ROT; ALLE DINGE AUF DEN BILDERN, zum Beispiel GAR NICHTS DRAUF; die LINIE, diese kann aus dem Hintergrund, vom Grunde der Leinwand oder selbst durch die Leinwand durch ins Auge schießen; das ORNAMENT, geflochten, gedreht, gewunden, auch stürzend, kann auch als SCHLANGE oder STRICK sein; der PUNKT, als PUNKT, als FLECK, als HAUFEN wie ein FLADEN, fliegt auch manchmal über die Leinwandfläche; die FLÄCHE selber, nicht auszudenken, was alles, zum Beispiel als HAAR, als KÖRPER, als BRUST eines Helden, als GRÜNES AUGE oder eben als TANNENBAUM, als MEER wenn möglich ohne Perspektive; die ERZÄHLUNG, hier wäre zum Beispiel die MYTHE vom trojanischen Pferd interessant; die MUSIK, in Rembrandts Braunschweiger Familienbild wird dunkelgelb Cello gespielt; ZAHLEN, das MODUL, die Proportion, nicht das Beispiel mit der Leiter, sondern vielmehr Eskimo und Eisberg, Zyklop hinterm Felsen; natürlich auch alles, was Maler erfunden haben, wie den SCHORNSTEIN, das HAUS, die LOKOMOTIVE, die PYRAMIDE, das STRASSENPFLASTER, das FENSTERKREUZ; auch die SACHEN OHNE WINKEL, wie FIRMAMENT und STERNENMEER. Besseres oder schlechteres Leben ist hier nicht drin, im Rüstzeug. Illusionen sind Sache der Interpreten. Der schönste Bilderakt von Modigliani hat keine Haut, kein Fleisch, keine Zähne. Man kann so weit nicht gehen und sagen, Bilder hätten das. In dieser Aufzählung fehlt, wie man merkt, das Motiv, es ist nicht enthalten aus folgendem Grund: Davids Bild mit dem ermordeten Marat in der Badewanne ist selbstverständlich ebenso ein Höhlenbild wie eine ausgemalte Etruskergruft. Sind denn für andere Bilder überhaupt sichtbar? Die große Höhle ist dunkel, die Bilder sind kaum zu sehen. Die Grabhöhle der Etrusker oder Ägypter ist vollständig finster, man sieht die Bilder gar nicht. Der Maler hat also Bilder gemalt, die keiner sieht. Wiederum hat Renoir in der Priscillagruft nicht gepfuscht, wie wir jetzt prüfend sehen, wobei er niemals davon ausgehen konnte, dass wir sie je sehen würden. Warum hat er das dennoch getan? Den Betrachter hat das Publikum erfunden, nicht die Maler. Nur die veränderte Zivilisation, der andere kulturelle Anspruch hat dieses Bild ans Licht gezogen. Alle Toten haben einst gelebt. So ist dieses Bild ein Epitaph. Der Büffel mit den Pfeilspitzen ist hier der tote Marat und das Tintenschwämmchen ganz zweifelsfrei das Brötchen der Stillleben bzw. das Tischleindeckdich. Sieht man die Kostüme der Leute, die reichen Gewänder und hängenden Tücher, das Innere des Zimmers, die Badewanne, so kann man sagen, mit einem Bein stand David im alten Rom. Das ist die verschobene Zivilisation, nicht entwickelt zum Besseren hin, nur verschoben. Das Motiv in Davids Kopf ist die Höhle mit den Höhlenbewohnern und ihrer noch intakten ungebrochenen Übereinkunft, dass der Büffel und das Brötchen sowohl die Lebenden wie die Toten ernähren. Kein Maler geht auf Motivsuche, das wäre paradox, denn das Motiv ist im Kopf des Malers, der Mechanismus, der denkt. Überall, auf jedem Bild, sind die Büffel und Brötchen als Ausdruck des Motivs. Die Instinkte sagen uns, was wir damit anzufangen haben. Unsere Sehnsucht braucht Bilder. Jetzt klopft es an der Tür. "Herein!" Herein tritt ein Maler, was ich gleich an dem Farbspritzer auf der Hose und den schmutzigen Fingernägeln erkenne. "Darf ich mich zu Ihnen setzen?" "Bitte!" "Wollen wir uns über ... unterhalten?" "Warum nicht!" Er sieht die Thermoskaffeekanne auf dem Tisch zwischen uns. "Könnten Sie mir einen Kaffee spendieren?" Wenn er den Parmigianino nicht erkennt, sondern nur an den Kaffee in der Kanne denkt, ist er sicher ein Realist und ganz verdorben. Zumindest könnte er ja auch denken, die Kanne sei leer. Sie ist nämlich inzwischen leer. Bleibt mir also daher nur zu antworten: "Leider nein, denn das hier ist mein Selbstporträt, aus dem Sie Kaffee trinken wollen." Ich will ihn schließlich nicht allzu sehr verwirren, indem ich ihm erst umständlich erkläre, dass in der Kanne gar kein Kaffee mehr ist. Er antwortet, ganz unerwartet: "So etwas können Sie mir nicht vormachen. Ich sehe, was ich weiß." Darauf ich: "Sie wollen wohl das Motiv in meinem Atelier finden?" Er ist ein praktischer Mensch, er liebt die Schönheit, er will sich innerlich wärmen mit Kaffee, dann will er sein Programm vortragen und sich mit mir gemein machen. Jedenfalls antwortet er ganz verblüfft: "Ja, aber hier steht ja gar kein Aktmodell." Jetzt weiß ich, dass er lügt, denn zum Aktzeichnen braucht er einen Zeichenblock, den hat er aber nicht mitgebracht. Was tun? Ich beschließe, ihm nichts vom Rüstzeug zu erzählen und antworte nur kurz: "Es ist eben keine Sibylle zwischen uns getreten."


Derneburg, 12. November 1985