1902 Muthesius, H. - Architektur des 19. Jh.

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Muthesius, Hermann:

Stilarchitektur und Baukunst :

Wandlungen der Architektur im XIX. Jahrhundert und ihr heutiger Standpunkt.

Mülheim-Ruhr: Schimmelpfeng, 1902. – 66 S.

 

"Ich hege die Hoffnung, dass gerade von den notwendigen und anspruchslosen Bauten die neue und echte Architektur, die wir erwarten, ausgehen wird, viel eher jedenfalls, als aus dem Experimentieren mit den mehr oder weniger anspruchsvollen Architekturstilen."

William Morris.

 

Es herrscht heute wohl allgemeines Einverständnis darüber, dass von allen Künsten die Architektur die am wenigsten verstandene ist, diejenige, der das Volk das verschwindendste Interesse entgegenbringt. Ja, man kann heute in Deutschland ernstlich darüber streiten hören, ob die Architektur überhaupt zu den Künsten gehöre, ob der Architekt ein Künstler sei oder nicht. Die alte in allen Zeiten gültig gewesene Wahrheit, dass die Architektur die Mutter aller Künste sei, dass alle bildende Künste: Malerei, Sculptur und die gesamten Kleinkünste von ihr abhängig seien, gewissermassen unter ihrer Führung marschierten, sie klingt heute wie ein Märchen. Und doch, wir brauchen uns nur die grossen Blüten der Baukunst, die griechische, römische, gotische Zeit ins Gedächtnis zu rufen, um zu sehen, dass diese Wahrheit damals so selbstverständlich war, dass gar niemand sie auszusprechen brauchte. Die gesamte bildende Kunst dieser Zeiten stand unter dem Zeichen der Architektur, man kann sagen: sie war Architektur. Das Gemälde war Wandbild, im Dienste eines architektonischen Gedankens auftretend, das Bildhauerwerk war Schmuck der Architektur, wie der Edelstein die goldene Krone schmückt, die Kleinkünste d. h. für die damaligen Zeiten das Handwerk waren selbstverständlich Teile der Architektur.

Dass dies heute so ganz anders geworden ist, ja, dass uns dieses uralte Grundverhältnis der bildenden Künste zu einander so ganz fremdartig anmutet, ist der beste Beweis dafür, unter welchen gekünstelten Umständen sich unser heutiges Kunstleben bewegt. Unsrer bildenden Kunst ist der

Boden entzogen, sie schwebt gewissermassen in der Luft. Malerei und Bildhauerei ermangeln dazu heute jenes straffen Zuges, den ihnen ihre Abhängigkeit von der Architektur von selbst aufnötigte; die gebundene decorative Linie, die bis einschliesslich der Frührenaissance vorherrschte, ist verloren gegangen. Sie haben sich mehr oder weniger ins Anekdotenhafte verloren, und die Anekdote ist es denn auch fast allein, die heute das Interesse des grossen Publikums an ihnen noch wachhält. Die Kleinkünste treiben selbst in dem neuen glücklichen Aufschwung, den sie gerade am Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch genommen haben, ratlos umher, so lange ihnen der Hort der grossen Mutter Architektur, in diesem Falle das künstlerische Haus, fehlt.

Auf welchem Standpunkte befindet sich aber unsere heutige Architektur?

Ueber diese Frage kann uns am besten ein Rückblick auf den Weg belehren, den sie in ihren letzten Entwicklungsabschnitten, vorwiegend aber im neunzehnten Jahrhundert eingeschlagen hat. Als wir die Schwelle des neuen Jahrhunderts überschritten, hat es nicht an Betrachtungen gefehlt, die den Inhalt des scheidenden Jahrhunderts in zwei Worten zusammenzufassen versuchten. Man hat das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert des Verkehrs, der Elektricität, der Naturwissenschaften, der Geschichtsforschung, das Jahrhundert der Volksarmeen, der Arbeit, der Maschinen genannt. Alle diese Benennungen haben an sich wenig Wert, aber betrachtet man sie in ihrer Gesamtheit, so fällt eins an ihnen auf: keine einzige Stimme hat sich bisher erhoben, die es gewagt hätte, das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert der Kunst zu nennen. Alle Errungenschaften, die man hervorgehoben hat, sind wissenschaftlicher Natur, solche, die der Verstandesthätigkeit des Menschen zufallen, von der Kunst wurde nicht gesprochen, sie hat offenbar im neunzehnten Jahrhundert keine Rolle gespielt. Und in der That, es ist zwar in diesem Jahrhundert auf allen Gebieten ganz gewaltig gearbeitet worden, über die gesamte Culturmenschheit ist ein Trieb der Bethätigung, ein Ernst der Lebensauffassung, ein Forschungs- und Erwerbsdrang hereingebrochen, der früheren Zeiten unbekannt war, aber die Thätigkeit war doch eine sehr einseitige, nämlich eine rein verstandliche oder erwerbstechnische. Und so kann man das vergangene Jahrhundert wohl als das grosse Jahrhundert der Verstandesarbeit bezeichnen, will man aber eine Beziehung auf die Kunst, insbesondere auf die bildende Kunst zum Ausgang einer Namengebung wählen, so bleibt wohl keine andere übrig, als die des „unkünstlerischen Jahrhunderts“.

 

Zur Beurteilung der Frage, wie weit eine Zeit künstlerisch oder unkünstlerisch zu nennen ist, ist kein Umstand so massgebend als der, wie weit die Kunst Eigentum des ganzen Volkes, wie weit sie ein wesentlicher Teil der Geistesgüter der Zeit ist. In dieser Beziehung müssen fast alle Urvölker künstlerisch genannt werden; denn die erste menschliche Bethätigung, wie sie sich in der Herstellung von Waffen und Gerät äussert, ist auch bei den wildesten Völkern nur selten von künstlerischer Bethätigung zu trennen, worüber uns ein Gang durch unsere Museen für Völkerkunde belehren kann. Eben dass dies so ist, zeigt uns, dass der Kunsttrieb zu den Elementarkräften der Menschheit gehört und wirft ein um so eigentümlicheres Licht auf eine Zeit wie die unsere, die diese Kräfte der Verschrumpfung überlassen hat.

Von historischen Zeiten ragen in unsrer westlichen Cultur zwei Glanzperioden der Menschheit als vorwiegend künstlerisch heraus: das griechische Altertum und das nordische Mittelalter, das erstere eine Höhenmarke in künstlerischer Beziehung andeutend, die die Welt wohl kaum je wieder zu erreichen hoffen kann, das zweite wenigstens jene vollkommene künstlerische Selbständigkeit und jene unbedingte Volkstümlichkeit der Kunst verkörpernd, die man als Grundbedingungen einer künstlerischen Zeit voraussetzen muss. Die griechische Kunst war so mächtig, so triumphierend, so überlegen, dass nicht nur die gesamte Cultur ihres Heimatlandes unter ihrem Einfluss stand, sondern dass auch das ganze mächtige römische Reich – künstlerisch selbst unfruchtbar – lediglich von ihr lebte.

Die gotische Kunst, keineswegs ohne allen Zusammenhang mit jener, aber doch eine vollkommen selbständige Culturerscheinung, ist die einzige Originalkunst, die in der abendländischen Culturwelt neben der griechischen Kunst entwickelt worden ist. Hing von der griechischen Kunst das ganze Altertum ab, so ruhen in der Gotik die Wurzeln der Kunst einer neuen Zeit, der Kunst der nordischen Völker, aus denen sich in jener ersten gotischen Blütezeit eine so herrliche Frühernte der Architektur und der von ihr abhängigen Künste entwickelte. Das gotische Mittelalter bildet den ersten Triumph einer von der klassischen grundverschiedenen Kunst, hochentwickelt, durchaus einheitlich in allen ihren Erscheinungen, alle Leistungen der menschlichen Hand durchdringend und vor allem im besten Sinne volkstümlich. Es ist daher eine in ihrer Art durchaus vollkommene Kunstzeit.

Wie alles in der Welt war sie der Entwicklung und das Wandelbare in ihr dem Wechsel unterworfen. Es kam die Zeit, da die antike Welt, deren Geist auch nach ihrem körperlichen Untergange in mächtiger Grösse fortlebte, neue künstlerische Ideale über den Norden brachte. Die Zeit des Humanismus in den Geisteswissenschaften, der Renaissance in den Künsten trat ihre Herrschaft an und führte eine Blütezeit der Künste herauf, die sich bezeichnender Weise besonders in der Malerei und Sculptur zeigte. In der Architektur war sie durchaus nicht in gleichem Masse vorhanden. Konnten damals in der Malerei und in gewissem Sinne auch in der Bildhauerkunst die neuen Einflüsse auf Vorhandenes einwirken, ein vorliegendes Frühalter zur Reife bringen, so wurde in der Architektur mit einer vollentwickelten Kunst barsch gebrochen, eine reichentfaltete Kunstüberlieferung in die Ecke geworfen. Was man dafür als Renaissancebaukunst erreichte, konnte doch nur ein blasses Abbild einer besseren Originalkunst sein, worüber jeder Italienreisende klar sein wird, wenn er bemerkt, wie ein einziges antikes Bauwerk – etwa das Colosseum oder das Pantheon in Rom – die ganze Renaissancebaukunst in den Schatten stellt.

Aber noch ein anderer Bestimmungswert für die Kunst wurde mit jener Zeit geboren. Die Renaissance brachte in die gleichmässig geschichteten Volksklassen des Mittelalters eine gesellschaftliche Abspaltung. Sie brachte den Begriff des „Gebildeten“ mit sich, des in den klassischen Sprachen Erfahrenen, dessen Gesamtheit fortan die geistige Auswahl des Volkes darstellte und sich von dem volkstümlichen Untergrund der Nation als besondere Gesellschaftsklasse abhob. An sie war auch die neue Kunst gebunden. Es entstand von jetzt an eine Kunst für die herrschende Klasse an Stelle der gotischen Volkskunst, das Schicksal der Kunst ruhte jetzt bei den höheren Ständen, der reiche und gebildete Kunstbeschützer beschäftigte den Künstler.

Auf den Handwerker, den Kleinkünstler und das ganze Werkgefolge des Architekten hatte die neue Kunstbewegung deshalb nicht den unheilvollen Einfluss, den man bei dem Abbrechen aller formalen Ueberlieferung hätte erwarten können, weil der neue Geist immerhin verhältnismässig langsam

eindrang und der treffliche Zunftgeist der damaligen Zeit das Neue kräftig assimilierte. So hatte der starke gotische Werkcharakter nur dazu beigetragen, auch für die neu eindringenden Kunstformen eine vorzügliche Schulung abzugeben, in der auch die künstlich aufgepfropfte Renaissancekunst gedeihen konnte. Aber die Malerei und Sculptur hatten sich bei dieser Gelegenheit – der ersten künstlerischen Revolution unserer Kultur – selbständig gemacht. Besonders die Malerei wandelte fortan unabhängig von der Architektur ihre Wege, sie strebte dem Tafelbilde zu, in welchem sie in der Folge ihr Schwergewicht fand und sich vollkommen erschöpfte.

Im Verlauf der Renaissancekunst schwankte die Architektur zwischen einer Art selbständiger Weiterbildung der Formen und zeitweisem innigeren Rückanschluss an die alte Mutterkunst Antike hin und her. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war man von der letzteren am weitesten abgewichen, man war in eine beinahe original zu nennende, liebenswürdig-heitere, eine leichte Lebensfreude atmende Kunst geraten, in das sogenannte Rokoko.

 

Betrachtet man die damalige Kunst in Bezug auf ihre Einheitlichkeit und von dem vorhin erwähnten Gesichtspunkte aus, wie weit sie Allgemeingut war, so muss man ihr ein hohes Zeugnis ausstellen. Sie spiegelte nicht nur das Leben der Zeit in einer vollendeten Weise wieder, sondern durchdrang auch, ähnlich wie es in der Gotik der Fall gewesen war, alle Lebensäusserungen der Zeit vollkommen. Von der Tabakdose des einfachen Bürgers bis zum vollendetsten Kunstmöbel der fürstlichen Zimmerausstattung, von der kleinstädtischen Bürgerhausfaçade bis zur prunkenden Jesuitenkirche haben wir ein vollständig einheitliches Kulturbild vor uns. Malerei, Sculptur und Architektur atmen denselben Geist. Vor allem aber war der gesamte Handwerkerstand in der Formensprache der Zeit so zu Hause, dass sie ihm wirklich als das natürliche Ausdrucksmittel erschien, an dessen Richtigkeit niemand zweifelte. Und diese Formensprache wurde von jedem Handwerker und Kleinkünstler in einer Vollkommenheit gehandhabt, dass uns heute das alltäglichste der damaligen Handwerkserzeugnisse als Kunstwerk erscheint, wert in unsere Museen zu wandeln, oder den Schrank des Sammlers zu zieren. Die Architektur aber, die noch durchaus eine vorherrschende Stellung, wenn auch keine so allbeherrschende wie in der Gotik einnahm, war selbst in ihren letzten Abwandlungen, den Leistungen des Maurermeisters so gut und sicher, dass die Bauten jener Zeit uns jetzt wie eine Erquickung anmuten. Wenn wir heute auf jene Zeit zurückblicken, so erscheint sie uns vom künstlerischen Standpunkte aus durchaus paradiesisch.

In jener Zeit war es, dass eine Strömung auftauchte, unter deren Zeichen die ganze folgende Kunstentwicklung stehen sollte und die insbesondere der Kunst des nächsten Jahrhunderts das Gepräge gab. Es war jene eigentümliche, als Gegenwirkung gegen den leichtlebigen Zeitgeist auftretende Sehnsucht nach Reinheit und Einfachheit, die sich künstlerisch in dem Zurückgreifen auf die gerade jetzt neu entdeckte griechische Antike aussprach. Den Markstein dieser Neuentdeckung bildet das 1762 erschienene Werk der englischen Architekten Stuart und Revett über die Altertümer Athens.

Der Umschwung in den künstlerischen Anschauungen, der damals eintrat, die Begeisterung, mit der man einem neuen Ideal zujubelte, war ungeheuer. Die damalige Welt hatte das Gefühl, dass jetzt endlich, nach langer Finsternis, die Sonne der künstlerischen Erkenntnis aufgehe, dass von dieser Sonne aus eine neue, herrliche, reine, grosse Kunstentfaltung ausgehen müsse, dass man nichts besseres thun könne, als alles bisherige liegen zu lassen und sich dem Scheine dieser strahlenden Sonne der antiken Kunst zuzuwenden. In Deutschland wurde Winckelmann der begeisterte Verkünder der neuen Kunstanschauung, seine „Geschichte der Kunst des Altertums“ – ein Buch, dessen Erscheinen geradezu die Grenzscheide zwischen der Kunst zweier Epochen bezeichnet – wurde der Schlüssel für die ganze folgende Zeit. Von hier an muss man die neueste Kunstzeit datieren. Diese zweite grosse künstlerische Revolution gebar die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts.

Für diese Kunstzeit ist noch kein Name erfunden; ihr vielgestaltiges, verworrenes Bild, ihre Kreuz- und Querbewegungen, die grossen Niederungen, die sie in ihrem Entwicklungsgange durchschritt, machen eine Bezeichnung schwer. Der Name des Zeitalters des Idealismus, der für den Hauptzeitraum versucht worden ist, erscheint paradox angesichts des Endpunktes, auf den dieser Idealismus uns künstlerisch geführt hat. Vielleicht geht man nicht ganz fehl, wenn man sie vorderhand als die Zeit des künstlerischen Chaos bezeichnet.

Eine ganze Reihe von Ursachen wirkten mit, um mittels der scharfen Wendung, die das damalige Kunstleben einschlug, schliesslich in dieses Chaos zu gelangen, und ganz hauptsächlich wurde dieses Chaos herbeigeführt durch die Abwege, auf die sich die Architektur und in ihrem Gefolge ganz notwendigerweise das künstlerische Gewerbe begab. Man liess damals in allen bildenden Künsten zum zweiten Male in unserer nördlichen Kunstentwicklung alle Tradition fallen. Der Architekt missachtete die spielende Grazie seiner bisherigen Kunst, die er so unvergleichlich zu handhaben verstanden hatte und wandte sich dem aufsteigenden griechischen Ideale mit seiner angeblich reineren und harmonischeren Linie zu. Die vollendete Ausbildung, die jede Art von Handwerker in den früheren Formen hatte, konnte ihm hierzu nichts helfen. Diese hochentwickelte Handwerkerkunst war freilich nicht ohne weiteres zu ertöten, aber sie wurde einem langsamen Hinsterben überlassen. Es ist höchst lehrreich, zu beobachten, wie sie von da an von Jahrzehnt zu Jahrzehnt herunterkam, wie sich die letzten Reste dieser vollendeten Rokokokunst im Strudel des neunzehnten Jahrhunderts verliefen. Wer von uns erinnert sich nicht noch ihres letzten Todesseufzers, der geschwungenen Sophagarnitur und des eigentümlich verkümmerten geschwungenen Gesimsaufsatzes auf den Kleiderschränken der sechziger und siebziger Jahre?

Die Architektur half sich damals über das Dilemma zunächst besser hinweg als das Gewerbe. Sie umschlang sehnsüchtigst die Formenwelt der griechischen Antike und vermochte wenigstens Werke in die Welt zu setzen, an die sich die Begeisterung aller damaligen Gebildeten heften konnte. In allen Ländern unserer westlichen Kultur begann jetzt das Ideal der sogenannten reinen Antike seine Herrschaft, am strengsten wohl in Deutschland und Frankreich.

 

Deutschland hatte das Glück, in jener Zeit einen Architekten zu besitzen, dessen Genialität ihn über das Niveau der übrigen Welt erhob, es war Schinkel. Dieser Geist würde unter irgend welchen Verhältnissen Grosses geleistet haben, aber es ist bezeichnend, wie selbst er unter der Herrschaft der Zeitströmung stand, die ihm seinen besonderen Wirkungskreis sozusagen vorzeichnete. Waren andere Architekten aber mehr oder weniger in den Formen befangen, so reichte seine Genialität weit genug, um selbst innerhalb seines engeren griechischen Gestaltungskreises die Form zu beherrschen und zu meistern. So hat er in seinen Hauptwerken, dem Berliner alten Museum, dem Schauspielhause und der neuen Wache daselbst Werke geschaffen, die auch über den Geist ihrer Zeit hinaus eine beredte Sprache reden werden. Um aber die Grösse dieses Mannes ganz zu begreifen, heisst es seine Entwürfe durchmustern, in denen er sein Bestes niederlegte, heisst es vor allem das in der Technischen Hochschule in Berlin aufgestellte Schinkelmuseum durchwandern, wo der Besucher mit Staunen erkennen wird, welch umfassender künstlerischer Geist Schinkel war. Alle Zweige der bildenden Kunst, Malerei, Bildhauerei, gewerbliche Kunst, waren seiner Hand spielend geläufig, er war ein vollendeter Meister im Figürlichen, gross in der Landschaft, unübertroffen im Idealentwurf, er sass fest im künstlerischen Sattel, er war imstande, die gesamte bildende Kunst in den Dienst seiner einen grossen Idee, der Architektur zu stellen. Schinkel ist der letzte grosse allumfassende Geist, den die Architektur hervorgebracht hat, sozusagen der letzte Grossarchitekt. Durch ihn wurde in Deutschland die Berliner Architekturschule in den Vordergrund gerückt. In andern deutschen Städten schwärmte man indessen nicht minder warm griechisch. In München trat besonders durch den kunstliebenden König Ludwig I. unter Leo von Klenze eine Zeit der Entfaltung griechischer Bauideale ein, die die Glyptothek und die Propyläen, im weiteren Gefolge auch die mehr in Renaissanceformen gehaltene Pinakothek entstehen liess. Es ist nichts bezeichnender, als dass man es für angemessen hielt, mit der griechischen Begeisterung auch diese gänzlich unvolkstümlichen griechischen Namen einzuführen, über die die Zunge des deutschen Spiessbürgers hinwegstolpern musste. Die Walhalla in Regensburg und die Befreiungshalle in Kehlheim sind weitere Früchte der Münchener Schule. In Wien begann erst spät eine höhere griechische Flutwelle in den Bauten Theophil von Hansens sich auszubreiten, die indessen schon freier gestaltet waren und auch bereits mit dem Namen griechische Renaissance belegt wurden. Jedenfalls blieb in Deutschland die Berliner klassicistische Schule die hervorragendste. Hier hatte der griechische Klassicismus so festen Fuss gefasst, dass eine geschlossene und local gefärbte Schule aus ihm entspross, hier allein dehnt sich seine Herrschaft über eine lange Reihe von Jahrzehnten aus, sicherlich über den bedeutendsten Teil des neunzehnten Jahrhunderts.

Dem specifisch Berliner Geiste, der stets nach Kritik und Verstandesbethätigung drängt, war es vorbehalten, auch eine „wissenschaftliche Erklärung“ des Geistes der antiken Baukunst zu entwickeln. Die „Tektonik der Hellenen“ Böttichers, ein Werk, dessen Entstehung noch in die letzten Lebensjahre Schinkels fällt, erregte durch diese aller Welt als Offenbarung erscheinenden Erklärungen der Kunst in ihrer Zeit ungeheures Aufsehen und wurde noch bis vor einem Jahrzehnt mit der grössten Ehrfurcht genannt. Aber es regten sich bald wieder freiere künstlerische Anschauungen, die teils unter erweitertem Gesichtswinkel auf die Kunst der Vergangenheit sahen, teils sich wieder bewusst wurden, dass es sich in der Kunst nicht um Erklärungen, sondern um Wirkungen handelt, die ihrerseits durch den Verstand nicht weiter definiert werden können. Mit diesem Augenblick musste Böttichers kunstvoller Bau in sich zusammensinken.

Nach Schinkels Tode wirkten in Berlin seine Schüler Persius, Stüler, Strack in seinem Sinne, freilich ohne an die Genialität des Meisters heranzureichen, andere grosse Architekten, wie Hitzig, Lucae und Gropius waren glücklicher, indem sie freiere Bahnen der architektonischen Gestaltung, doch immerhin innerhalb des klassicistischen Cirkels bleibend, einschlugen. Von Bauten der letzteren Art verdient vor

allem das von Gropius und Schmieden herrührende Berliner Kunstgewerbe-Museum als eine sehr gelungene, von grosser Selbständigkeit zeugende architektonische Leistung genannt zu werden.

In Frankreich, dem Lande der strengsten und reinsten Architekturüberlieferung seit Jahrhunderten, nahm der Neuklassicismus eine wesentlich andere Form an als in Deutschland. Hier hatte das Schicksal des Staates unter dem korsischen Länderbesieger eine bequeme Gedankenverbindung mit

dem römischen Cäsarentum geschaffen, unter deren Einfluss auch die Architektur und die dekorativen Künste kamen. Statt griechisch empfand man hier römisch, aber nicht minder begeistert, und statt der reinen griechischen Linie huldigte man dem Dekorationsapparat des römischen Kaiserreiches. Es war der style empire, der damals, hauptsächlich durch das Wirken der Architekten Percier und Fontaine gekennzeichnet, in Frankreich entstand. An Architekturwerken ist aus jener Bewegung wenigstens ein Monument allerersten Ranges hervorgegangen, Chalgrins Arc de l'Étoile, ein mächtiges Werk voller Straffheit und Grösse, dessen architektonischer Wert wie der der Bauten Schinkels die Jahrhunderte überdauern wird. Ein zweites aus der Masse der übrigen Bauten herausragendes Werk, die Madeleine-Kirche von Vignon, besitzt bei aller Monumentalität lange nicht die Eigenart des Triumphbogens.

 

Wie in Berlin, so bildete man in Paris die neuklassische Kunst weiter aus, und es gelang hier, innerhalb der strengen Lehrklassen der École des Beaux-Arts eine mehr oder weniger französisch- national gefärbte klassische Architekturschule zu entwickeln, die sich unter der Pflege dieser höchsten Pariser Akademie bis in die allerneueste Zeit am Leben erhalten hat. Ein Glanzpunkt der Schule, die natürlich bald Renaissance und andere Bestandteile aufnahm, aber doch alles zu einer stilistischen Einheitlichkeit verschmolz, ist Garniers grosse Oper, trotz ihres schwellenden Prunkes und ihrer etwas aufgeblasenen Architekturmacherei ein Werk, das in seiner geschlossenen Erscheinung unsere Bewunderung erregen muss. Eine Steigerung des Garnierschen Architekturprunkes, vielleicht die stärkste, die man eben noch zu ertragen imstande ist, sehen wir in dem Justizpalast in Brüssel von Poelaert, einem Werke, das man vielleicht deshalb in diesem Zusammenhange nennen darf, weil es ohne die École des Beaux-Arts in Paris nicht denkbar wäre. Jedenfalls ragt im neunzehnten Jahrhundert diese aus der École des Beaux-Arts hervorgegangene Architektur durch eine sonst nirgends angetroffene Sicherheit im Detail und durch den hohen Schwung ihrer Leistungen hervor.

Das Feld ihrer Werke ist sehr weit und überall herrscht eine bedeutende Durchschnittshöhe. Dass sie auch Werke edelster Einfachheit hervorbringen konnte, die dadurch heute einen fast modernen Grundzug tragen, beweisen beispielsweise die neuen Bauteile im Pariser Justizpalast.

Die merkwürdigste Rolle hat die neuklassische Architektur wohl in England gespielt. Hier hatte, als sie auftrat, schon über hundert Jahre lang jener Geist der strengen palladianischen Architekturrichtung geherrscht, den einst Inigo Jones aus Italien importierte, und hier hatte eine von den kontinentalen Entwicklungsstufen Barock und Rokoko gänzlich unbeeinflusste, wuchtige und ernste Architekturauffassung unzweifelhafte Triumphe feiern können, die selbst die Augen des Kontinents auf England richteten. Die Monumentalität der Baugesinnung liess sich nicht mehr steigern, und der Eintritt der griechisch-klassischen Richtung hatte hier nicht die Bedeutung einer reinigenden oder vereinfachenden Bewegung. Im Gegenteil, er brachte ein spielendes, fast weichliches Element in den früheren Ernst der architektonischen Formengebung, das sich am deutlichsten in den Bauten und Innendekorationen der beiden Brüder Adam zu erkennen gibt. Dazu kam noch, dass damals schon Unterströmungen anderer, nämlich romantischer Art vorhanden waren, die der jetzt eintretenden griechischen Begeisterung einigen Boden entzogen. Dann aber vermochten die englischen Architekten sich überhaupt nur mit einer gewissen Schwerfälligkeit in den griechischen Geist zu versetzen. Man schien nicht recht zu wissen, was man mit den vielbewunderten antiken Architekturdenkmälern anfangen sollte und setzte sie willkürlich zusammen, wobei man auf die merkwürdigsten Einfälle geriet. Das Beispiel ist allbekannt, dass der Architekt der St. Pankratiuskirche in London, H. W. Inwood, einen Kirchturm so komponierte, dass er auf eine Kopie der Säulenhalle des Erechtheions den Turm der Winde in Athen und auf diesen als Bekrönung das Denkmal des Lysikrates setzte. An dem grössten der neuklassischen Bauten, der Bank von England, brachte der Architekt Soane keine Fenster an, weil die als Vorbild genommene griechische Tempelkunst keine solchen kannte, wodurch er genötigt war, die gesamte Beleuchtung vom Hofe aus zu bewerkstelligen, und als besondere Zierde setzte er an die eine Ecke des so errichteten Gebildes eine Kopie des Rundtempels von Tivoli.

So lächerlich solche als Architektur bezeichnetet Kindlichkeiten uns heute erscheinen, sie waren doch nur die Ueberführung ins Absurde eines gefährlichen Zuges, der dem ganzen damaligen Treiben der Architektur anhaftete. Wenn wir heute, wo sich die Flutwelle griechischer Begeisterung wieder verlaufen hat, auf das Beginnen jener Zeit blicken, so kommt es uns vor, als hätte man im Traume gewandelt. Wo auch der Architekt ans Schaffen ging, trieb ihn ein unwiderstehlicher Drang, die Kopie einer griechischen Tempelfront in die Welt zu setzen. Sei es ein Museum, ein Konzerthaus, eine Kaserne, ein Wohnhaus, es erhielt die dorischen oder jonischen Säulen mit dem Tempelgiebelfeld darüber. Es war vollständig gleichgültig, wie das Gebäude, das hinter den äussern Mauern steckte, dabei wegkam, sobald der Portikus errichtet war, gab man sich zufrieden und stand bewundernd vor seinem Werke, blind und taub gegen jede Forderung der Vernunft.

Man fasste die Werke der Architektur als formale und abstracte Kunstwerke auf, etwa wie eine musikalische Symphonie oder eine dekorative Zeichnung, zu denen die gerade vorliegende praktische Aufgabe nur den Vorwand lieferte. Jeder noch so grosse Zwang, den man dem Bedürfnis anthat, schien erlaubt. Alles hatte sich dem Wahngebilde eines Tempelstils unterzuordnen, der einer längst vergangenen Zeit, vollkommen andern Kulturbedingungen und einem durchaus andern Klima angehörte. Was nicht in den Kram passte, wie z. B. Schornsteine und Dächer, das wurde unterdrückt, versteckt oder vermaskiert. Den Gipfel der Ungereimtheit hat in dieser Beziehung wohl Hansen am Wiener Parlamentshause erklommen, der den hohen, weit herausragenden Schornstein der Zentralheizung als jonische Säule ausbildete, aus deren Kopfe nun, wenn unten geheizt wird, der schwarze Qualm entströmt. Wahrlich eine Satire auf die Kunstanschauungen einer Zeit, wie sie nicht beissender zu denken ist.

 

Eine ähnliche Verblendung war in der Geschichte der Kunst noch nicht dagewesen. Während der Renaissance hatte man sich zwar mit ähnlicher Begeisterung auf die Antike gestürzt, aber zwischen damals und jetzt war der eine grosse Unterschied, dass man dort im wesentlichen römische Profanarchitektur, hier den griechischen Tempel zum Vorbilde nahm. Die Renaissancemeister hielten sich an römische Thermen, Paläste, Zirken, kurz an Bauüberreste, bei denen schon eine Uebertragung der alten starren Tempelkunst auf gesellschaftliche Bedürfnisse stattgefunden hatte. Jetzt hielt man sich an den griechischen Tempel, der nicht einmal Fenster hatte und dessen streng gebundene Formen um so undehnbarer waren, als sie, die Muster sogenannter reinster und harmonischster Schönheit, für unantastbar gehalten wurden. Ja ein Gedanke, der damals alle Kunstkreise beherrschte, war der, dass die ganze Renaissance sich in einem bedauerlichen Irrtum über die Antike befunden habe, und dass man jetzt endlich erst die echten, reinen Formen in Händen habe. Wie hätte man sich erlauben sollen, mit diesen Formen frei zu schalten und zu walten? Der höchste Ehrgeiz war, sie „rein“ zu handhaben, d. h. sklavisch zu kopieren.

Der Rausch der Begeisterung überdeckte die ganze Unwahrheit, die damals unter der Bezeichnung Architektur verübt wurde. Er überdeckte noch mehr. Er überdeckte den schon angedeuteten raschesten Verfall des Handwerks, ja den allmählichen Verfall des architektonischen Könnens selbst.

Die Architektur hatte sich vom Boden der Wirklichkeit zu weit entfernt, als dass sie in Berührung mit dem gesunden Leben die zu ihrer Erhaltung notwendige tägliche Nahrung hätte saugen können. Zum Verfall des künstlerischen Handwerks trug nicht allein der Umstand bei, dass die auf den Thron gesetzte griechische Tempelkunst von den feinen und graziösen Handwerkserzeugnissen der letzten Blüte der Kleinkunst keinen Gebrauch machen konnte und wollte, es kamen noch andere und zwar politische und wirtschaftliche Gründe hinzu.

Das leichtlebige achtzehnte Jahrhundert endete mit einem Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Zustände. Vor allem brachte die Revolution den Sturz derjenigen privilegierten Stände mit sich, in deren Händen seit dem Aufhören der Gotik die Kunstpflege geruht hatte. Der Kavalier, der seinen

Neigungen lebende Edelmann, in höfischen Manieren gleich erfahren wie von Beruf ein Kenner der Kunst und Beschützer der Künstler, diese bezeichnende Figur der drei letzten Jahrhunderte verschwand von der Bildfläche.

Ernstere Zeiten kamen herauf und ein neuer Stand kam an die Oberfläche, der arbeitsame Bürger, der Gelehrte, der Beamte, der Geschäftsmann. Hatte der Kavalier eine höhere Lebensführung, in der die Liebhaberei zu den schönen Künsten eine ganz selbstverständliche Rolle spielte, den andern Kreisen seiner Zeit gleichsam vorgelebt, war er die Verkörperung der geistigen und künstlerischen Bildung seiner Zeit gewesen, so trat der Bürger ohne dieses Erbe seine Stellung an, ohne die standliche Verpflichtung, dem Künstler und Kunsthandwerker Aufträge zu geben, ohne das Bedürfnis, eine höhere künstlerische Kultur zu pflegen.

Er hatte zunächst auch Wichtigeres zu thun. Die Raubzüge Napoleons hielten die ganze Welt in Atem, und die unabweisbare Aufgabe der Zeit, diesem genialen Abenteurer Einhalt zu thun, taxierten alle Kräfte aufs äusserste. Das ohnedies von den Wunden des dreissigjährigen Krieges noch nicht ganz geheilte Deutschland vollends war bis zur Erschlaffung erschöpft, als endlich wieder Ruhe im europäischen Hause eingetreten war. Dabei hielten politische Spannungen in den folgenden Jahrzehnten den Sinn von einer intimeren Kunstpflege von neuem ab.

So ging es denn nur ganz natürlich zu, dass der Kunst und dem Kunsthandwerk der Boden entzogen und dass namentlich in der Unterschicht des Gewerbes unbemerkt eine Verwilderung eingetreten war, wie sie unsere Kultur noch nicht gesehen hatte. Alle Handwerke zehrten den unwägbaren Vorrat an Ueberlieferung auf, den sie bei Eintritt des griechischen Kunstideals, unserer zweiten künstlerischen Revolution, noch im Ueberfluss hatten. Für jeden neuen Zutritt waren die Quellen verstopft, man lebte auf Raub. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war alles zu Ende, wir hatten kein Handwerk mehr.

In den gebildeten und Bürgerkreisen sah es von jetzt an in künstlerischer Beziehung traurig aus. Mit dem Kavalier war nicht nur der Kunstbeschützer, der Kunstgeniesser, der Kunstauftraggeber dahin gegangen, sondern auch der Mann mit Geschmack. Der fleissige Bürger, der Gelehrte von jetzt hatten keinen Geschmack mehr. Und in dieser Abwesenheit von Geschmack in den gebildeten Kreisen ist geradezu eines der Merkmale der Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts zu sehen. Wandte sich von jetzt an der reich gewordene Bürger der Kunst zu, so tappte er im Dunkeln, er vermochte nicht mehr das Edle von dem Unedlen zu unterscheiden. Und in der Regel verfiel er, wie der Barbar, auf das Glänzende und roh Auffällige, wobei natürlich häufig genug noch der Wunsch mitsprach, durch seine Kunstpflege zu prunken und seinen Reichtum zu zeigen. So entstand das für unsere Zeit so ausserordentlich bezeichnende Merkmal des Protzen- und Parvenugeschmackes, es trat ein Barbarentum ein, das seit der spät-römischen Zeit des unter den Soldatenkaisern zerfallenen Kaiserreichs noch nicht wieder dagewesen war.

 

Noch ein anderes Zeichen der Zeit gebar die Not des neunzehnten Jahrhunderts: die sogenannte öffentliche Kunstpflege. Es war niemand mehr vorhanden, der sich der Kunst hätte annehmen können, sie wurde unterstützungsbedürftig und musste auf Kosten der Allgemeinheit unterhalten werden. So entstanden die Waisenhäuser und Unterstützungskassen für Kunst, die wir Museen, staatliche Kunstaufträge, Kunstvereine usw. nennen, eine künstliche Nährmethode des dahinsiechenden natürlichen Kunstlebens, von der man sich im allgemeinen weit mehr versprochen hat, als sie halten konnte. Es gehört wohl mit zu den Enttäuschungen des letzten Jahrhunderts, dass die Museen, so lange sie nichts weiter waren als Kunstspeicher, einen wirklich nennenswerten Segen hätten stiften können, dass die blosse Schaustellung von Kunst für die Menge von irgend welchem kunstfördernden Einfluss sein konnte.

In Frankreich war die Not nicht so gross wie in Deutschland. Hier hatte die Glanzzeit des ersten Kaiserreichs dem Handwerk noch tüchtige Nahrung gegeben, wenngleich die Feinheit der früheren Dekorationsstile ausser Kurs gesetzt war und eine gewisse Vergröberung des Empfindens eintrat. Aber der stete Bedarf an handwerklicher Kunst brachte das Gewerbe bald wieder auf die früheren französisch-historischen Formen zurück, die zwar in ihrem Gepräge im Laufe der Zeit einige Veränderungen durchmachten, im ganzen aber im Sinne der Stile der Ludwige rein reproduziert wurden. Mit diesen Produktionen deckte Frankreich den höheren Bedarf an dekorativer und Kleinkunst von ganz Europa bis in die neueste Zeit.

England hatte in dieser Beziehung, wie die übrigen Kulturländer, für seine aristokratischen Bedürfnisse seit Jahrhunderten stets von Frankreich gelebt und that es auch jetzt noch. Für seine bürgerlichen war es dagegen durchaus unabhängig und hatte mitten in der Zeit der griechischen Verblendung der Architekten einen trefflichen bürgerlichen Möbelstil, die Chippendale-, Hepplewhite- und Sheraton-Möbel ausgebildet, mit dem es einzig dastand. In diesen Möbeln wurde schon damals der Grund für ein echt bürgerliches Hausgerät gelegt, dessen Frühleben ja auch auf dem Festlande in der sogenannten Biedermeierzeit zu bemerken ist, leider um bald durch die später einsetzende Stiljagd überritten zu werden.

Im übrigen wurde auch in England und Frankreich, obgleich hier die wirtschaftlich schwer drückenden Verhältnisse Deutschlands nicht vorlagen, das Kunstleben mit den fortschreitenden Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts immer schlaffer und erreichte in England sogar um die Mitte des Jahrhunderts einen Tiefstand, der den deutschen sogar noch untertraf.

Hierzu hatte in diesem Lande schon seit dem Beginn des Jahrhunderts noch ein anderer Umstand das Seinige beigetragen, der sich in der Folge allerorten fühlbar machen sollte und als eine weitere Ursache des Verfalls des Handwerks zu bezeichnen ist. Es war die Maschine. Die ungemeinen Umwälzungen, die diese neuzeitliche Erscheinung in jeder Hinsicht für die Menschheit heraufbringen musste, äusserte sich für das Handwerk zunächst darin, dass sie diesem den Boden abgrub, ja, wie sie es heute noch thut, mehr oder weniger auf dessen Beseitigung hinarbeitete. Wurde so aber seine Existenz überhaupt in Frage gestellt, wie wenig konnte dann noch von den künstlerischen Eigenschaften desselben die Rede sein! Es rang um sein blankes Leben.

Während sich so das Handwerk, die unentbehrliche Unterschicht aller künstlerischen Zustände, an Hunger und Verfolgung allmählich zu Tode quälte, schwärmten unsere Gebildeten noch immer für ein angeblich Höheres und Reineres in der Kunst, für die letzte harmonische Einheit einer Weltkunst, die sie sich in dem Begriff der griechischen Klassicität zurechtlegten. Sie zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie wie ein Phantom in der Luft schwebte und den Boden des Lebens nicht berührte. Eben deshalb nannte man diese Zeit wohl die des Idealismus. Dieser sogenannte Idealismus fand seinen günstigsten Nährboden in Deutschland, vielleicht deshalb, weil die thatsächlichen Zustände hier die traurigsten waren. Politisch zerrissen, wirtschaftlich arm und von Natur der Bewunderung des Fremden zugeneigt, blickte gerade der Deutsche am sehnsüchtigsten in die Ferne, und so fand jener unglückselige Gedanke des künstlerischen Weltbürgertums gerade hier die kräftigste Nahrung.

Man sah im Griechischen die Normalkunst für die Welt und für alle Zeiten und vergass dabei, dass es nur eine normale Kunst geben kann, nämlich die dem Leben und der Kultur der Zeit entsprechende. Man gab sich auch die grösste Mühe, das sogenannte Normale der griechischen Kunst in Regeln und Formeln zu fassen, um es um so sicherer für die Verwendung bereit zu haben. Die Aesthetik, besonders die Entwicklung von Kunstgesetzen, schoss jetzt üppig ins Kraut und beschäftigte ganze Philosophenschulen. Der ästhetisierende Kunstprofessor, ein neuer Typus des neunzehnten Jahrhunderts, trat sein Amt an und belehrte, begutachtete, kritisierte und systematisierte über Kunst. Er wurde um so mächtiger, je schwächer der lebendige Pulsschlag der Kunst wurde, je mehr das natürliche Kunstleben erstarb. So sitzt an der Verwaltungsstelle der Künste des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr der Künstler, sondern der Kunstprofessor. Nicht der Künstler spricht jetzt zum Publikum, sondern der Kunstgelehrte, und die Welt sucht ihren Zusammenhang mit der Kunst nicht mehr im Kunstgenuss, sondern in der Belehrung über Kunst, man lässt das Kunstwerk nicht mehr auf sich wirken, sondern kritisiert es. Dieser Zustand der Dinge hat sich vorwiegend mit und an dem Neuklassicismus entwickelt. Je mehr man idealistisch wurde, je ferner rückte man der Kunst, je heftiger man griechisch schwärmte, je ärmer wurde man in der eigenen Seele.

 

Diese griechische, auf Nachahmung ausgehende Bewunderung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gleicht einer Narkose, in die die ganze Welt und selbst unsere vornehmsten Geister gezogen wurden. Sogar ein allumfassender Geist wie Goethe stand unter ihrem Einfluss, wodurch er selbst ein Beispiel für seinen Ausspruch gab, dass auch „die grössten Menschen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwachheit zusammenhängen“.

Wie nun aber jede Ueberspannung eine Gegenwirkung erzeugt, so rief auch dieser griechische Idealismus eine solche hervor. Es war die romantische Bewegung. In ihr haben wir die zweite grosse künstlerische Strömung des neunzehnten Jahrhunderts vor uns. Auch sie trat in allen Ländern auf,

freilich in sehr verschiedener Stärke, und sie ist als das Gegengewicht, als das Aufbäumen des nordischen Empfindens gegen die ihm im Grunde zuwiderlaufende griechische Klassicität zu betrachten.

Zum ersten Male seit dem Verlassen der geschichtlichen Gotik sehen wir hier wieder mittelalterliche Kunstideale aufspriessen, ganz besonders in der Baukunst. Es gab also noch einen Bestandteil in der nordischen Brust, der das eigentlich nordische Kunstempfinden bewahrt hatte, noch regte sich die alte Innerlichkeit der Empfindung, die wir in der mittelalterlichen Kunst antreffen auf Kosten der Vorliebe für den äusseren Schwung der klassischen Linie, noch war also ein Rest des Gemütvollen, Gedankenreichen, des Sinnes für Werklichkeit, Konstruktion und kleinkünstlerische Tüchtigkeit vorhanden, noch suchte sich jenes Sehnen nach Verinnerlichung, jenes auf das Traute, den Umständen angepasste, kurz auf das Individuelle gerichtete Streben zu verkörpern, das in der Gotik und den gesamten mittelalterlichen Kleinkünsten einen so beredten Ausdruck gefunden hatte.

Die romantische Geistesbewegung, welche sich im neunzehnten Jahrhundert abspielte, ist von weit grösserem Einfluss, als es für den ersten Augenblick scheinen mag, sie ist von unendlicher Bedeutung für die ganze künstlerische Entwicklung unserer Zukunft. Keine Entwicklungsstufe unserer Kultur ist zufällig, jede verfolgt ihren Zweck und leistet ihre notwendige Arbeit. Auf die erste Blüte einer nordischen, von der altklassischen grundsätzlich verschiedenen Kunst, der gotischen, musste, sobald nur die Quellen geöffnet waren, die unabweisbare Einwirkung einer künstlerischen Kultur folgen, die damals noch mächtiger war, als sie, die der klassischen. Sie überschwemmte die germanischen Völker für vier Jahrhunderte fast vollständig, dabei unzweifelhaft ein gewisses Erziehungswerk ausübend. Aber die Flutwelle der letzten Phase des Neuklassicismus führte ihre Bedeutung zum Absurden. Sie zeigte die unsichern Füsse, auf denen diese Kunst in einer Zeit voller eignen geistigen Lebenskraft wie der unsrigen stehen musste, sie deckte die Widersprüche mit dem Zeitgeiste und dem Volkscharakter offen auf. Jetzt konnte die echte nordische Eigenart wieder auftauchen.

Mit diesem Romanticismus trat im neunzehnten Jahrhundert der germanische Geist wieder in seine Rechte ein. Was dies heissen will, können wir erst heute, am Anfang eines zwanzigsten, ermessen, wo wir nicht nur ein offenbares Sinken aller romanischen Völker, sondern auch einen Niedergang ihrer Kulturwerte und – was hier besonders interessiert – ihrer Kunst offen vor Augen sehen, und wo eine neuartig gestaltete, ganz wesentlich von den germanischen Völkern erzeugte Kunst die Schwelle der Zeit überschreitet.

Die romantische Bewegung, deren eigentlicher Ursprung in der in England zuerst wiedererwachten Naturpoesie zu suchen ist, hat sich in der Folge auf alle Künste, ja auf das gesamte Geistesleben der europäischen Völker erstreckt, aber sie war im Anbeginn ein mehr oder weniger dunkler Drang, der sich seiner, das Nordische herauskehrenden Bedeutung zunächst kaum im vollen Umfange bewusst war. War doch der Sammelplatz der frühen Romantiker Rom, das Wanderziel der romantischen Jugend Italien, der letzte Hort vieler ihrer Anhänger die katholische Kirche. Aber was den Ideenkreis der Romantiker anbetrifft, so bewegte er sich durchaus im nordisch gefärbten Mittelalter und im besonderen war und konnte der Angelpunkt in architektonischer Beziehung nur die gotische Baukunst sein. Und so sehen wir denn, ähnlich wie man in der Renaissance das Altertum wieder neu entdeckt hatte, jetzt allerorten die Gotik wieder neu entdeckt werden, an deren Werken man fast vier Jahrhunderte lang mit Verachtung vorübergegangen war.

In Deutschland ist der Kölner Dom das Werk, an dessen Vollendung und Wiederherstellung sich Jahrzehnte lang das romantische Interesse heftete, wie sich denn überhaupt der romantische Baueifer zunächst zum grossen Teil an den überkommenen mittelalterlichen Baudenkmälern ausliess.

Insofern das letztere der Fall ist, kann man freilich jetzt nur mit gemischten Empfindungen auf diese Thätigkeit zurückblicken. Im blinden Eifer, obgleich vom besten Willen beseelt, sind hier Eingriffe in den überkommenen mittelalterlichen Bestand unserer Baudenkmäler verübt worden, die jede folgende Zeit als barbarisch bezeichnen muss. Wie man in früheren Jahrhunderten aufgefundene antike Statuen ergänzte und überarbeitete, wodurch man ihren Wert fast vollkommen vernichtete, so restaurierte man jetzt alte Kirchen, brach Teile ab, setzte neue hinzu, überarbeitete den ganzen Bau und war dabei hier und da sogar so naiv sich einzubilden, dass man die alten Meister korrigieren könne. Auf solche Weise sind gerade diejenigen Zeugen der Kunst, an die man jetzt seine Begeisterung heftete, oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt und geschändet worden, sodass sie für alle folgenden Zeiten so gut wie wertlos sind. Auch heute ist die Denkmalpflege noch in ihrer Kindheit begriffen; und solange man nicht allgemein eingesehen hat, dass es sich hier um geschichtliche Dokumente handelt, die in ihrem, wenn auch lückenhaften Bestande anzutasten ein historisches Verbrechen ist, solange kann man jedem alten Bau nur wünschen, dass er vorläufig der Aufmerksamkeit der Restauratoren zu seinem Heile noch entzogen bleiben möge.

Dass man mit solchen Händen an die aus dem Mittelalter überkommenen Bauten herantrat, beweist übrigens, wie fremd trotz aller Bewunderung der Geist geworden war, der aus ihnen zu der Gegenwart sprach. Es erforderte Jahrzehnte des langsamen Wiedereinlebens, es bedurfte eifrigsten Studiums und grosser versenkender Liebe, um ihm wieder nahe zu kommen. Beides hat man reichlich aufgewandt, und so konnte allmählich eine Schule mittelalterlich schaffender Architekten heranwachsen, die die mittelalterliche Kunst beinahe bis zur Lebenskräftigkeit wieder erweckte. Die Bewegung war anfangs hauptsächlich von München ausgegangen, wo Friedrich von Gärtner in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine ganze Reihe von Monumentalbauten im romanischen Stil errichtete. Sie breitete sich aber bald über Mittel- und Westdeutschland aus und machte sich in Städten wie Hannover, wo Hase wirkte, in Köln, in Kassel unter Ungewitter – dessen treffliche Bücher viel zu ihrer Verbreitung beitrugen – in breiterem Masse ansässig. In einzelnen Städten, wie in Hannover, bildeten sich örtliche neugotische Schulen und drückten der dortigen neueren Architektur ihr Gepräge auf. Am längsten leistete Berlin mit seiner klassicistischen Hochburg der Gotik Widerstand; erst ziemlich spät äusserte sich überhaupt in Norddeutschland die neue mittelalterliche Richtung, und zwar dann vorwiegend in der Wiederaufnahme des nordischen Backsteinbaues, dessen hervorragendster Vertreter Johannes Otzen wurde.

Eine allgemeinere Bedeutung hat die Neugotik trotz des reichen Lebenswerkes einer Generation begeisterter Anhänger in Deutschland nicht zu erringen vermocht. Abgesehen von den oben erwähnten örtlichen Leistungen ist ihre Anwendung auf den Kirchenbau beschränkt geblieben, und

auch hier brachte das Rückblickende der Bestrebungen gewisse archäologische Einflüsse in Bezug auf die Plangestaltung mit sich, die sich als hemmend erwiesen und gegen die es aller Kraft bedurfte, erfolgreich anzukämpfen. Diesen Kampf nahm eine jüngere Partei auf, die unter dem Stichwort „Protestantischer Kirchenbau“ neuzeitliche, dem protestantischen Kirchengebrauch mehr angepasste Raumgestaltungen verlangte, als sie das Mittelalter überlieferte. Sie wurde so von selbst auf die Wiederanknüpfung an die Grundrissgestaltung der nordischen Barockkirchen geführt, welche den protestantischen Gedanken in weitgehender Weise verkörperten. Zwischen beiden Parteien spielt sich heute die Thätigkeit im deutschen Kirchenbau ab, wobei die erstere noch immer die bei weitem mächtigste geblieben ist, obgleich man annehmen kann, dass die Zukunft sich mehr und mehr für die letztere erklären wird.

In Wien wurde die Gotik durch Heinrich von Ferstels eindrucksvolle Votivkirche vorteilhaft eingeführt. Sie fand später unter Friedrich von Schmidt, der sich mit Vorliebe einen gotischen Steinmetzen nannte, einen bedeutenden Vertreter, zumal er es verstand, freiere Anschauungen in die Anwendung der gotischen Formen zu tragen. Am bekanntesten ist sein Wiener Rathaus, eine grosse und straffe Schöpfung, deren Wert weit über die Grenzen des Stilinteresses hinausreicht.

In Frankreich war der Verlauf der romantischen Richtung in der Architektur ganz ähnlich wie in Deutschland; auch hier bethätigte sie sich anfangs vorwiegend in der Wiederherstellung alter Denkmäler; auch hier sehen wir im übrigen die vorwiegende Anwendung auf den Kirchenbau; auch hier macht sich, und zwar noch weit mehr als in Deutschland, das Zurücktreten der romantischen Richtung gegen die klassische stark bemerkbar. Aber aus der Reihe der französischen Neugotiker ragt eine Erscheinung hoch empor, die eine ungemein einflussreiche Bedeutung im Sinne der Beförderung mittelalterlicher Architekturziele in der ganzen europäischen Welt erlangen sollte: es war Viollet-le-Duc. Er ist der Schöpfer der unsterblichen Bücher Dictionnaire de l'Architecture und Entretiens sur l'Architecture, Werke, in denen ein unendlicher Fleiss Schätze für Generationen aufgespeichert hat, und aus denen eine Reinheit baulicher Gesinnung und eine unbedingte Ueberzeugungsfähigkeit spricht, die geradezu epochemachend wirkten. Man wird nicht anstehen, diese Werke zu den ersten architektonischen Büchern des Jahrhunderts zu rechnen. Als ausübender Architekt war Viollet-le-Duc hauptsächlich in Wiederherstellungen thätig, wobei er durchaus unter dem Banne seiner Zeit stand und viel zu viel that. Auf diese Weise zerstörte er so manches treue Zeugnis aus alter Zeit mit derselben Hand, die so begeistert den Griffel zu seinem Lobe zu führen verstand. Auffallenderweise hat im neueren französischen Kirchenbau die eigentliche Gotik eine viel geringere Rolle gespielt, als die früheren, vorwiegend romanischen und byzantinischen Stilrichtungen. Von den zahlreichen neueren Kirchen dieser Art ragen zwei mächtige Werke durch ihre Eigenart und die an ihnen bekundete Beherrschung der Mittel, besonders im raumbildenden Sinne, hervor: Vaudoyers Kathedrale von Marseille, und Abadies noch im Bau begriffene Herz-Jesu-Kirche auf dem Montmartre in Paris. Namentlich in letzterem Werke spricht sich dasselbe hohe Können und dieselbe klare Erkenntnis der eigentlich architektonischen Werte aus, die die neue französische Schule auch auf dem Gebiete der klassicistischen Architekturrichtungen auszeichneten.

 

Ganz anders als auf dem Kontinent verliefen die Dinge in England. Hier schien das gotische Empfinden von Natur näher zu liegen, ja hier gab es sogar einige Landstriche, in welchen der alte gotische Geist sich noch vom Mittelalter her lebendig erhalten hatte. Hier trat auch der Romanticismus in der Litteratur mit zwingenderer Gewalt auf, als auf dem Kontinent. Vor allem bahnten die Meisterwerke der Romanschriftstellerei, die Bücher Walter Scotts, mittelalterlichen Kunstidealen die Wege. So kam es, dass in England die Entwicklung der romantischen Baukunst der des Kontinents etwa um zwanzig Jahre voraus war. Und nicht allein dies, sondern sie trat mit ungleich grösserer Gewalt ein, sie wurde eine durchaus nationale Bewegung, gegen die, umgekehrt wie auf dem Festlande, die klassicistische Schule an Bedeutung zurücksank. Dies spricht sich am deutlichsten aus in dem schon in den dreissiger Jahren stattfindenden grossen Wettbewerbe um das englische Parlamentshaus, in welchem die Gotik zur Bedingung gemacht wurde. Der Bau dieses Riesengebäudes unter Barry, dem als Gehülfe der geniale Architekt Pugin – der eigentliche Begründet der Neugotik in England – zur Seite stand, bildete die hohe Schule für eine vollentwickelte neugotische Kunstausübung, mit welcher England einzig dasteht.

Ein anderer Umstand kam hier noch zu Hülfe. Eine eingetretene kirchliche Reorganisation, verbunden mit einer eifrigen Wiedererweckung kirchlichen Leben, führte hier der Baukunst kirchliche Aufgaben in übergrosser Fülle zu, und der neu geweckte Opfersinn einer seit Jahrhunderten wohlhabenden Bürgerschaft stellte fast unbegrenzte Mittel für den Bau von Kirchen zur Verfügung. So waren die besten Vorbedingungen gegeben, um in England eine Glanzzeit der Neugotik heraufzuführen. Die Namen der Architekten Pugin, Scott, Street und Pearson glänzen als leuchtende Sterne am Himmel der englischen Architekturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Namentlich in den Werken des letztgenannten Meisters spricht sich eine Beherrschung der baukünstlerischen Mittel in einem echten nordischen Sinne aus, wie sie sonst nirgends erreicht worden ist.

Freilich in einem täuschte man sich auch hier: die mittelalterliche Kunst zu einer kräftigen Gegenwartskunst beleben zu können. Gerade in England sind in dieser Beziehung die gewaltigsten Anstrengungen gemacht worden. Seit dem Bau des Parlamentshauses hat man sich die grösste Mühe gegeben, eine gotische Handwerkskunst zu gründen, das Handwerk gotisch zu reorganisieren. Die ganze Architektenschaft hat sich mit der Aufgabe beschäftigt, die gotische Architektur dem Profanbau anzupassen. Es sind auch in beiden Beziehungen sehr gute Erfolge erzielt worden. Aber sie waren nicht von Dauer: es wollte sich keine neue gotische Tradition bilden. Vollends was den lebendigsten Organismus im Gebiete der Architektur anbetrifft, das Wohnhaus mit seiner Ausstattung, so wurden hier Ergebnisse erzielt, die höchstens in das Gebiet des Sonderbaren fallen. Diese gotischen Möbel und diese gotischen Villen, an deren Hervorbringung sich Jahrzehnte herumquälten, wirken heute fast lächerlich. Aber auch von der öffentlichen Architektur ist die Gotik in England schon seit zwanzig Jahren wieder abgedrängt worden, ja selbst im Kirchenbau gilt sie nicht mehr als die allein herrschende. Wer etwa heute noch glaubt, dass wir bei grösserer Concentration in der Wiederaufnahme der mittelalterlichen Baukunst einen Rettungsanker aus dem künstlerischen Chaos hätten finden können, dem kann das englische Beispiel lehren, dass er in einer Täuschung befangen ist.

Und doch hat England durch die sorgsamere und ausgedehntere Pflege der romantischen Richtung in der Baukunst einen Vorteil erreicht, der allen Aufwand reichlich aufwiegt, und um den ihn jedes Land beneiden kann: es ist in die Lage versetzt worden, zuerst von allen Völkern eine moderne und dabei vollständig nationale Kunst zu entwickeln. Um die sechziger Jahre fing sich hier das an zu bilden, was wir als den modernen englischen Stil zu bezeichnen gelernt haben, und zwar fand die Entwicklung in direktem Anschluss an die Gotik statt. Der Vater dieser neuen Kunstrichtung ist William Morris, ihr Mittelpunkt die Ausstattung des englischen Hauses, ihr Leitsatz gesunde Handwerklichkeit, Vernünftigkeit und Aufrichtigkeit und ihre Triebfeder eine echte volkstümliche Begeisterung für die Kunst, die namentlich durch die weit verbreiteten Schriften Ruskins angefacht worden war. Jedermann kennt den Triumphzug, den diese Kunst vor etwa zehn Jahren auch über das Festland unternahm, wo sie mit Gewalt die Geister aufrüttelte und zur Erstrebung gleicher Ziele anstachelte: er wäre ohne die eingehende Beschäftigung Englands mit der Gotik, ohne die hier stattgefundene Sättigung des Volksgeistes mit den aus ihr abgeleiteten neuen Kunstidealen nicht möglich gewesen.

Diesen Vorteil hatte das Festland, wo noch immer die alten griechischen und italienischen Schönheitsideale in den Köpfen spukten, nicht, dazu vermochte die Gotik eine zu geringe Bedeutung zu erlangen. Aber schon allein ihre Aufnahme als eines der Hauptfächer in den architektonischen Unterricht der Fachlehranstalten hat in Deutschland viel guten Samen ausgestreut. In dieser Hinsicht hat namentlich der geniale Lehrer Karl Schaefer einen bestimmenden Einfluss auf die jüngere Generation ausgeübt. Eine neue, aufrichtigere Art künstlerischer Gesinnung ist in dieser allmählich heraufgezogen, die ähnlich wie in England der Nährboden für künstlerische Neuausgänge, namentlich für eine heimische Kunstauffassung und für Ideale wurde, die man im Gegensatz zu den klassischen als germanisch-nordischer Art bezeichnen kann. Freilich so lange hauptsächlich die äussere Form der Gotik noch diktatorisch als das Erstrebenswerte gelehrt wurde und wird, konnte sich der Geist, auf den allein es als erziehlichen Endwert ankommt, noch nicht in völliger Freiheit entfalten. Dazu gehört noch ein Durchringen bis zu einem weitsichtigen Beherrschen des Gebiets, das erst von der Zukunft zu erwarten ist.

Innerhalb der klassicistischen Richtung, die in Deutschland trotz Gotik und Romanticismus die herrschende blieb, sollten noch ernstliche Wandlungen vor sich gehen, ehe ihre Stellung ernstlich ins Wanken geriet. Die streng klassische Art eines Schinkel hatte sich, wie schon erwähnt, unter seinen

Nachfolgern in eine freiere Ausübung umgewandelt, und so war schliesslich der Schritt von den römischen Vorbildern, wie sie beispielsweise in Stracks Nationalgalerie in Berlin eingehalten worden waren, zu denen der italienischen Renaissance nicht sehr ungewöhnlich. Die italienische Renaissance wurde also bald das Losungswort. Ihre Hauptvertreter waren in Berlin Kyllmann und Heyden und Ende und Böckmann, in Wien Ferstel und Hasenauer, in Stuttgart Leins; alle überragte jedoch in Deutschland der geniale Gottfried Semper, der nach Schinkel wohl die bedeutendste Erscheinung auf dem Gebiete der historischen Architekturrichtungen wurde. Unter seinen zahlreichen Bauten zeichnet sich vor allem sein neues Dresdener Hoftheater durch eine grosse Meisterschaft Im Gebrauch der architektonischen Gestaltungsmittel aus. Ausserdem war er einer der bedeutendsten Architekturschriftsteller des Jahrhunderts, sein Buch „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ hat eine Weltberühmtheit erlangt. Wer sich freilich heute die Mühe nimmt, sich in die Gedankengänge dieses Buches zu vertiefen, der wird sogleich erkennen, wie sehr es mit gewissen Vorurteilen der Zeit zusammenhängt, in der es entstand. Es war die Zeit heftigster Stil-Parteikämpfe zwischen Romantikern und Klassicisten. Semper stand so sehr auf dem Boden der letzteren, dass er von der Baukunst des Mittelalters nicht anders als in den verächtlichsten Ausdrücken spricht. Die Gotik ist ihm „ein starres System“, die antikisierende Richtung das „freie Persönliche“. Welches Spiel mit Worten! Auch Semper kannte und sah noch keine nordische Kunst, er erblickt in allen ihren bisherigen Aeusserungen nur unwillkommene Abweichungen von seiner grossen Weltkunst Antike. Die ganze Richtung, die sich in dem Schaffen Sempers verkörpert, ist eben durchaus noch als der Ausläufer jener weltbürgerlichen Architektur aufzufassen, die der Neuklassicismus in Deutschland geschaffen hatte. Eine auf der Antike fussende kosmopolitische Zukunftsarchitektur war ihr Ziel.

In diese noch immer jenseits der Alpen blickenden Bestrebungen brachte nun plötzlich ein Ereignis, anscheinend äusserlicher Art, aber für Deutschland von universaler Bedeutung, einen Wandel: der deutsch-französische Krieg. Er warf in die verworrenen Kunstbestrebungen der Zeit die Flamme vaterländischer Begeisterung. Wie in allen Verhältnissen, so führte er auch in künstlerischen eine Umwälzung herauf: er bewirkte die allgemeine Wiederaufnahme der deutschen Renaissance. Nächst der klassicistischen Flutwelle, die das Jahrhundert einleitete, ist diese Deutsch-Renaissance- Strömung die kraftvollste, die sich in der Architektur und im Kunstgewerbe im verflossenen Jahrhundert abgespielt hat. Der ersteren gegenüber hatte sie zwei grosse Vorzüge: sie war national und im Zusammenhang damit volkstümlicher als jene, vor allem aber, sie hatte einen durchgreifenden Einfluss auf das Handwerk. Sie brachte noch mehr als in der Architektur eine mächtige Bewegung in den Kleinkünsten hervor, und unter ihrem Einfluss geschah es, dass über ganz Deutschland Kunstgewerbeschulen, Kunstgewerbevereine und Kunstgewerbemuseen gegründet wurden, die wenigstens das eine unbezahlbare Gute mit sich brachten, ein kräftiges Leben und ein in weitere Kreise dringendes neues Interesse am Kunstgewerbe zu erwecken. Hiermit war die Hauptbedingung für eine fernere Entfaltung gegeben, und alles, was sich seitdem bei uns in dieser Richtung entwickelt hat, knüpft sich an die damals entstandene Bewegung.

In stilistischer Beziehung freilich befand man sich noch in tiefer Befangenheit. Architektur und Kunsthandwerk gaben sich auch hier noch damit zufrieden, mit eifriger Hand die reiche Ernte einzuheimsen und zu verwenden, die der Formenschatz der alten Kunst so bequem lieferte. Daraus

musste sich aber notwendigerweise der Zustand einer gewissen Unbefriedigtheit ergeben, es musste eine Zeit kommen, wo man der gleichmässigen Nahrung müde wurde und nach Abwechslung verlangte. Und so folgte ganz von selbst, dass man schleunigst auf spätere Zeitabschnitte der alten Kunst überging, sobald die Sättigung an den früheren erfolgt war. Wie eine hungrige Heerde grasten darauf Architekten und Kunstgewerbetreibende in den letzten zwei Jahrzehnten alles ab, was die auf die deutsche Renaissance folgenden Entwicklungsabschnitte an Vorbildern geliefert hatten. Ein unwürdiges Stiltreiben begann, in welchem Spätrenaissance, Barock, Rococo, Zopf und Empire gleichmässig abgeschlachtet und nach kurzer Zeit des Blutsaugens in die Ecke geworfen wurden. Was konnte also einfacher sein, als dass man sich binnen kurzem dem Nichts gegenüber befand? Dieser Zeitpunkt trat ein und zwar erst vor wenigen Jahren. Wahrscheinlich wird eine spätere Geschichte mit ihm den Zeitabschnitt der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts beschliessen und als das wesentliche Merkmal derselben die äusserliche Wiederholung sämtlicher Stile der Vergangenheit hinstellen. Wir sehen im Verlauf dieses Zeitabschnittes die mächtige Flutwelle des griechischen Klassicismus sich ausbreiten, danebenherlaufend und vorwiegend gegen sie ankämpfend die romantische Bewegung, die aber in Deutschland von verhältnismässig geringem Einfluss blieb, und gegen Schluss den Stilwettlauf in der Reproduktion sämtlicher Stile der letzten vierhundert Jahre. Bezeichnend ist das Verlorengehen jeder handwerklichen Tradition und die Unmöglichkeit, neue dauerhafte Anknüpfungen an die früheren Zeiten zu schaffen, was sowohl die neugotische als auch die Renaissance-Bewegung versucht und erhofft hatte. Hand in Hand mit diesen Erscheinungen läuft ein schon an der vorigen Jahrhundertwende eingeleiteter Rückgang der natürlichen Kunstpflege und damit des öffentlichen Geschmackes, der von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ab seinen Tiefstand erreicht und gegen den auch alle vom Staat und von öffentlichen Körperschaften versuchten Mittel zunächst vergeblich ankämpften. Für das ganze Jahrhundert ist der künstlerische Rückgang in jeder Form das bezeichnende Merkmal, der Zustand eines künstlerischen Chaos daher wohl das treffendste Bild.

Und doch wäre es verfehlt, eine Betrachtung wie die vorliegende mit einem lediglich negativen Ergebnis abzuschliessen. Das Leben einer Zeit ist so vielgestaltig, dass kategorische Verallgemeinerungen stets gewagt erscheinen; und die grossen an der Oberfläche liegenden Erscheinungsformen sind nicht immer das einzig Wesentliche. Gerade in der Zeit, wo diese ausreifen, pflegen sich unter der Oberfläche Keime eines neuen Anfangs zu entwickeln und meist gerade eines Anfangs zu einer Gegenäusserung gegen das Bestehende. Auch ist kein Abweg in irgend einer Lebensentwicklung so nutz- und zwecklos, dass er nicht wenigstens etwas Gutes mit sich brächte. Alles dies trifft auch von der Architekturentwicklung des letzten Jahrhunderts zu.

Wenn wir z. B. das, was die heutige Architektur in ihren besten Aeusserungen erstrebt, betrachten, so fällt uns gegenüber der an und für sich gewiss einheitlicheren und geschlosseneren Kunst der vorangehenden Jahrhunderte eins auf: sie wendet ein viel reicheres Register des Ausdrucks an, als irgend einer der historischen Stile. So suchen wir heute, schon was die einzelnen Gebäudegattungen anbetrifft, die besondere Bestimmung durch die architektonische Gestaltung zu charakterisieren, indem wir z. B. in einem Rathause etwas Bürgerliches, in einem Fürstenschlosse etwas Majestätisches, in einem Landhause etwas Wohnliches und Trautes auszudrücken versuchen. Wir suchen nach architektonischen Ausdrucksformen für das Erhabene, z. B. in einem Heldendenkmal, das Düstere, z. B. in einer Grabkapelle, das Festliche und Fröhliche, z. B. in einem Ballsaal, das Liebliche, z. B. in einem Damenzimmer, das Gemütliche, z. B. in einer Kneipstube. Die alte Kunst kannte solche Ziele im allgemeinen nicht, sie machte keinen Unterschied in der Anwendung ihrer Mittel, gleichgültig, ob sie eine Kirche oder einen Ballsaal ausgestaltete.

Wie sind wir auf solche Anforderungen gekommen? Offenbar durch die Schulung, die wir in dem Durchlaufen der geschichtlichen Stile durchmachten. Denn dort erblickten wir die verschiedensten Stimmungsbestandteile in den verschiedenen Stilen einzeln, wir lernten z. B. das Bürgerliche, Traute in der deutschen Renaissance, das Erhabene, Edle in der Antike, das Leichte, Gefällige in der Rococo-Baukunst kennen. Was war natürlicher, als das wir uns in unserm Wiederholungslehrgang der bisherigen Formenkunst an diese Verschiedenheit der Ausdrucksregister gewöhnten und sie nach

Absolvierung des Kursus nach Belieben zu verwenden wünschten? So erwuchs aus der an und für sich sinnlos erscheinenden Stiljagd des neunzehnten Jahrhunderts nur eine höhere künstlerische Forderung an die moderne Architektur: die der Beherrschung aller Mittel, die die bisherige Kultur zur Verfügung gestellt hat in einem einheitlichen Sinne, ihre Verwendung zu einem höheren künstlerischen Zwecke.

Aber, wohl gemerkt, es kann sich dabei nicht darum handeln, diese Aufgabe in historisch treuer Gotik, jene in deutscher Renaissance, eine dritte in den Formen der griechischen Antike zu gestalten, dieses Stadium haben wir bereits auf der Schulbank der Wiederholung der Stile erledigt. Da der Kursus jetzt beendigt ist, heisst es frei mit den Mitteln schalten und walten, in der Weise des Meisters, der die Form zerbricht, dem nur die Darstellung der Idee am Herzen liegt und der in allen Architekturformen nur das Handwerkszeug, die äusseren Mittel zu seinem höheren Zwecke sieht. So folgt in diesem stilistischen Sinne schon, dass die Architektur heute an der Schwelle einer neuen Zeit steht, einer Zeit, die freilich die Anforderungen an sie ins Unbegrenzte vergrössert, und der gerecht zu werden ein weit höheres Maass von künstlerischem Können erfordert, als die bisher üblich gewesene Handhabung der einzelnen Stile.

Aber auch noch andere neuzeitliche Forderungen haben sich im Laufe des letzten Jahrhunderts in der Baukunst geltend gemacht und haben – für die grosse Menge zwar unbemerkt und gegenüber dem durchaus im Vordergrunde stehenden Stiltreiben auch ziemlich im Verborgenen wirkend – doch eine Art Unterströmung hervorgerufen, die einen bestimmenden Bestandteil einer anbrechenden neuen Architektur zu liefern verspricht. Es sind die Forderungen, die sich aus den neuen wirtschaftlichen und Verkehrsverhältnissen, den neuen Konstruktionsprinzipien und den neuen Materialien ergaben. In letzterer Beziehung hat uns das neunzehnte Jahrhundert zwei neue Baustoffe gebracht: Eisen und Glas, für die sich sogleich in den ungemein erweiterten Verkehrs- und anderen neuzeitlichen Verhältnissen die Verwendung ergab. Diese Verhältnisse brachten uns einige wichtige neue Gebäudegattungen, vor allem die Bahnhofshalle und das Ausstellungsgebäude. In beiden war die weite Raumbehandlung mit Zuführung eines Höchstmaasses von Licht die Grundbedingung. Eisen und Glas schienen hier die gegebenen Materialien.

 

Inbezug auf Ausstellungsarchitektur hat England durch den für die erste Weltausstellung von 1851 errichteten Krystallpalast der Welt die Wege gewiesen, ein für seine Zeit völlig einzig dastehendes Unternehmen, ein Wunderwerk des damals noch blühenden englischen Unternehmungsgeistes. Das Gebäude wurde von einem Gärtner, dem später geadelten Joseph Paxton errichtet, den seine Erfahrungen an Gewächshäusern auf die eigenartige Konstruktion aus Eisen und Glas brachten. Man reihte es seiner Zeit wohl kaum in die Werke der Architektur ein, und doch ebnete sein Vorbild einer neuen architektonischen Erscheinung der folgenden Jahrzehnte die Wege: der weitgewölbten Eisenhalle. Sie kam besonders zur Geltung in den Ausstellungspalästen einer Reihe von Weltausstellungen, die Frankreich von da an veranstaltete, und Frankreich, wo der geniale Architekt Labrouste schon früher in seiner Bibliothèque Sainte-Geneviève und der Nationalbibliothek dem Eisen in reichem Maasse Zutritt gewährt hatte, übernahm als eigentliches Ausstellungsland die Führung auf diesem Gebiete. Seine glänzendste Leistung inbezug auf Eisenarchitektur führte es 1889 in der grossen Maschinenhalle und dem Eiffelturm vor, Werken, gegen die alle Bauten der letzten Weltausstellung einen peinlichen Rückschritt bedeuteten. Dieser Rückschritt war allerdings schon vorbereitet worden durch Amerika, das in Chicago zum Erstaunen der Welt, die gerade von dort etwas Neuzeitliches erwartete, nichts besseres zu thun gewusst hatte, als das bekannte antike Maskenkleid über die Eisengerippe seiner Ausstellungshallen zu hängen. Mochte das Märchenbild, das so geschaffen war, noch so bezaubernd sein, für den Kunstfortschritt konnte diese rückblickende Leistung mit nicht mehr als Null angesetzt werden.

Das Konstruktionsprinzip des aus Eisen und Glas gebildeten Ausstellungspalastes griff bald auch auf andere Gebiete über. Die Bahnhofshalle, die Markthalle, das Museum mit dem glasüberdeckten Mittelhofe, der weite glasüberwölbte Saal in jeder Form, und schliesslich auch das sich mit grossen Glasflächen gegen die Strasse öffnende städtische Geschäftshaus sind Kinder desselben Gedankens.

Die Entwicklung des Geschäftshauses hat sich ganz hauptsächlich in dem rasch aufstrebenden Berlin abgespielt. In ihr verkörpert sich eine wirkliche Kulturleistung Berlins, die in Messels Waarenhause Wertheim sogar ein klassisch zu nennendes Beispiel aufzuweisen hat. In dem letzteren Bau schuf der Architekt, lediglich indem er neuen Bildungsgedanken in logischer und vorurteilsfreier Weise Ausdruck gewährte, etwas durchaus Modernes, ohne dass er eigentlich darauf ausgegangen wäre, es zu thun. In noch weitgehenderem Maasse wie beim Geschäfts- und Waarenhause haben Eisen und Glas in unsern Sammelpunkten des öffentlichen Verkehrs Anwendung gefunden, die der riesig gesteigerte Bewegungstrieb der modernen Menschheit zu so hoher Bedeutung entwickelt hat. Es wäre verfehlt, solche aus vollkommen modernen Bedürfnissen erwachsenen und mit modernen Mitteln errichteten Bauten aus dem Gebiete einer streng künstlerischen Betrachtung auszuschliessen. Niemand wird sich dem befreienden, mächtigen Eindrucke entziehen können, den die modernen, weit gewölbten Eisendächer unserer Bahnhöfe machen: Diese Kinder einer neuen Zeit und einer neuen Aesthetik gehören ebensogut in das Gebiet der Kunst wie die Kirche und das Museum, ja niemand kann etwas dagegen haben, selbst reinen Ingenieurbauten, wie der kühn geschwungenen Eisenbrücke ein künstlerisches Interesse abzugewinnen und in ihnen eine Aeusserung menschlichen Kunstschaffens zu erblicken. Spricht sich doch gerade in ihnen ein vollständig neuer, moderner Bildungsgeist aus, der, so unentwickelt er noch auftreten mag, aus den eigensten Bedürfnissen unserer Zeit geboren ist und weit mehr ein echtes Kind derselben genannt werden muss, als die allzusehr auf Stilwiederholungen ausgehenden Bestrebungen der Architekten.

Als ein Bau, an welchem viele der genannten neuen Gedanken zum ersten Male vereinigt auftraten, ein Bau, auf den sich überhaupt in den letzten Jahrzehnten das architektonische Interesse Deutschlands zusammenzog, muss das neue Reichstagsgebäude in Berlin von Paul Wallot gelten. Gerade die neuen Gedanken, nicht zum mindesten das Wagnis der Hinzuziehung von Glas und Eisen für die äussere Gestaltung der Kuppel, waren der Grund des vielfachen Widerspruches, dem der Bau begegnete. Es ist eine bekannte Erscheinung, dass das vollkommen Neue in der Kunst zunächst immer von der Mehrzahl der Menschen abgelehnt wird, ein Umstand, der sich daher erklärt, dass sich das allgemeine Kunsturteil fast ausschliesslich aus der Gewohnheit ableitet. Das am Reichstagsgebäude enthaltene Neue deckt sich mit den vorhin genannten Forderungen, die uns als die Frucht des Repetitionskursus sämtlicher Stile der Vergangenheit entgegentraten: die freie künstlerische Gestaltung mit Beherrschung aller Mittel der bisher geleisteten Kulturarbeit. Aus dieser Beherrschung ergab sich hier eine individuelle, persönliche Sprache des Künstlers, bei der zwar die Formen der Vergangenheit unbedenklich angewandt wurden, die aber nicht darauf ausging einen Stil zu reproducieren, vielmehr frei mit den verschiedenen Stilerrungenschaften schaltete und waltete und eigene, gedankliche Werte mit ihnen schuf. Bei solchen Werten versagt allerdings die im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts üblich gewesene Einreihung in einen bestimmten Stil. Sie haben ihr Wesen in Inhalt, Stimmung und Charakterisierung des Besonderen. So wird jeder Besucher des Reichstagsgebäudes von dem feierlichen, fast düsteren Ernst der südlichen Eintrittshalle eingenommen worden sein, in welchem die gesamte Raumbildung und Ausschmückung auf das eine Ziel hinarbeitet, den Eintretenden in eine weihevolle, die Grösse und Bedeutung des Gesamtwerkes vorahnende Stimmung zu versetzen; jeder wird die Wirkung der grossen Wandelhalle an sich erfahren haben, in der die Majestät des Reichsgedankens in packender Form ausgeprägt liegt. Die im Reichstagsgebäude zum ersten Male klar ausgesprochenen neuartigen Werte machen ihn zu einem Schöpfungsbau. Mit ihm beginnt ein neuer Zeitabschnitt in der deutschen Baukunst. Und Wallot ist in der That die einzige Persönlichkeit, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in der deutschen Architektur Schule gemacht hat: Er hat jenen Sinn für das Wuchtig-Monumentale, jene von Stilbestrebungen freie, das Charakteristische hervorhebende und auf künstlerische Stimmung hinwirkende Grösse eingeführt, der heute die besten Architekten unserer mittleren und jüngeren Generation nachstreben. Die Befreiung von den Fesseln der Stilnachahmung, das ist der ungeheure Dienst, den Wallot der deutschen Architektur geleistet hat. Er drückte seine Ansicht über die Stile selbst treffend dahin aus, dass sie dem Architekten nur das Sprungbrett sein sollten, von dem aus er sich zu eigenem, selbständigen Schaffen erhöbe.

Aber es darf nicht vergessen werden, dass die von Wallot geschaffene Architekturrichtung in diesem ausschliesslich monumentalen Sinne eine gewisse Einseitigkeit in sich birgt. An das grosse Hauptgebiet dessen, was die Baukunst im Leben des Menschen zu leisten hat, die Lösung der

einfachen Alltagsaufgaben, hat sie nicht herangereicht. Und man kann nicht einmal wünschen, dass sich ihr besonderer Einfluss auf diese erstrecken möge, denn die phantastische Formenfülle und der hohe Schwung, der ihr eigentümlich ist, wären hier verderblich – schon das Reichstagsgebäude seufzt gewissermassen unter einer Ueberladung mit Formen – und würden einen schon ohnedies offenbaren bedenklichen Zug unserer heutigen Alltagsarchitektur nur noch steigern: das Ueberwuchern des rein Formalen.

Man kann es geradezu als den Fehler des architektonischen Schaffens des letzten Jahrhunderts bezeichnen, dass an den Alltagsaufgaben Monumentalarchitektur zu machen versucht wurde. In fast allen früheren Zeiten, zum mindesten in denen, in welchen die Kunstausübung noch etwas Eigenwüchsiges hatte, hat man einen Unterschied eingehalten zwischen Monumentalbaukunst und bürgerlicher Baukunst. Neben der Architektur, die sich an den grossen Werken ausliess, welche als Denkmäler der historischen Baukunst auf uns gekommen sind, lief stets eine bauliche Ausübung her, die in einer gewissen handwerks- und zunftgerechten Weise dem Alltagsbedarf der Menschheit an Wohnhäusern und anderm Kleinbedarf gerecht wurde. Bei ihr sah man ab von der Entfaltung hoher Kunstmittel, man blieb einfach und natürlich, beschränkte sich auf das Notwendige und Nächstliegende und folgte im allgemeinen einer durch Jahrhunderte weitergeführten örtlichen Zunfttradition, auf die die Wandlungen der Monumentalarchitektur, wenn überhaupt, so nur in einer gewissen grossen Abschwächung eingewirkt hatten. Sie stand fest auf dem Boden des praktischen Bedürfnisses, der örtlich gegebenen Verhältnisse und vor allem des gesunden Menschenverstandes. Diese Art der alten Bauausübung ist während des neunzehnten Jahrhunderts im allgemeinen verloren gegangen, sie erhielt gerade so wie das Handwerk ihren Todesstoss durch das Eintreten der griechischen Begeisterung und wurde sodann in der siechen Verfassung, in der sie sich noch eine Zeitlang weiter quälte, vollständig überrannt durch die Jagd nach den historischen Stilen. Ihre letzten Ausläufer erstreckten sich bis knapp in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Sie kann augenblicklich als vollständig erloschen betrachtet werden. Wer heute unsere Landstädte besucht, der findet in der Regel in der neuentstandenen „Bahnhofsstrasse“ das, was an ihre Stelle getreten ist, jene unwahr empfundenen, von der höheren Baukunst reducierten und mit den gesuchtesten Mitteln auf „Architektur“ Anspruch erhebenden Kleinstadtbauten, für die vorwiegend unsere heutigen Baugewerkenschulen verantwortlich zu machen sind. Nur in den älteren Bauten der inneren Städte tritt uns in der Regel noch die alte unverfälschte Zunfttradition entgegen, die, schlecht und recht wie sie vor uns stehen, heute gerade durch den Gegensatz zu den modernen Bauten wie eine Erquickung wirken.

Diese Bahnhofsstrassen der Landstädte, sie enthüllen uns mehr als irgend etwas den Standpunkt des Bankerotts, auf dem wir heute in der Bauausübung unserer Alltagsaufgaben angelangt sind. Die stucküberladene, den Fürstenpalast nachahmende grossstädtische Mietskaserne konnte man noch für ein ungesundes Erzeugnis unserer ungesunden grossstädtischen Verhältnisse erklären; aber das flache Land zeigt uns, dass das Gift heute überall hingedrungen ist, dass unsere Alltagsbauausübung bis in die untersten Schichten hinein verseucht ist, und zwar durch das Bestreben unsachlicher Architekturmacherei, durch den Formalismus und Akademismus, den die künstlerischen Irrfahrten des neunzehnten Jahrhunderts über sie verhängt haben.

Jede Uebernahme alter oder fremder Entwicklungserscheinungen in der Architektur muss die Gefahr in sich bergen, auf formalistische Abwege zu führen. Es ist der Fluch jedes abgeleiteten Stils, dass er in dem Vorbilde nur die Form sieht und bewundert, während diese doch in jeder echten Kunst nur eine Aeusserung des inneren Wesens, eine Folge der zeitlichen Entwicklungsvorgänge ist. Unsere im letzten Jahrhundert so ungeahnt erweiterte historische Erkenntnis, die sich auch auf die historische Baukunst erstreckt, sollte uns höchstens veranlassen, uns vor einer direkten Uebertragung zu hüten. Denn diese Erkenntnis eröffnet uns, auf welch gänzlich verschiedenen Bedingungen die Existenz unserer alten Bauten beruhte, von welch gänzlich verschieden denkenden Menschen sie gebaut wurden, welch gänzlich verschiedenen Zwecken sie dienten. Was wir heute an ihnen bewundern, sind zum nicht geringen Teil Werte, die wir aus irgend welchen sentimentalen Gründen künstlich aus ihnen abgeleitet, zum Teil in sie hinein phantasiert haben. Solche Werte sowohl wie die besondere Gestaltung, in der uns alte Kulturerzeugnisse entgegentreten, lassen sich einem neuen Werke nur mit Einbusse seiner künstlerischen Echtheit aufpfropfen. Denn die künstlerische Echtheit beruht in der vollen Uebereinstimmung von Wesen und Form, nicht darin, dass das Wesen der Sache einer hergeholten Form zum Opfer fällt.

Von dem Klassicismus in Reinkultur gezüchtet und während dieses Zeitraumes unbedingt den Ton angebend, griff der Formalismus des neunzehnten Jahrhunderts durchaus auch auf die romantische Baurichtung über, die doch eigentlich ein Protest gegen die Fesseln sein sollte, die er der Menschheit in der Form des Klassicismus angelegt hatte. Unsere Gotiker verwickelten sich in derselben Weise in den Schlinggewächsen der äusseren Formen und verfielen in derselben Weise in blosse Achitekturmacherei wie die Klassicisten. Und dass sie im Kirchenbau ihre sichern Hütten aufschlagen konnten, lag wohl vor allem daran, dass das kirchliche Leben im neunzehnten Jahrhundert selbst mehr oder weniger zu einem Scheindasein herabgesunken war, dem die kulturbildende Macht der früheren religionskräftigen Zeiten fehlte. Wenn das Christentum der Zukunft etwa mit grösserer Entschiedenheit als es bisher geschehen ist dazu übergehen sollte, seine Aufgabe in der Bethätigung des christlichen Wirkens, vielleicht gar in der Lösung der sozialen Frage zu sehen, statt sich im gemeinsamen Singen und Beten der Gemeindemitglieder zu genügen, dann werden aus einer solchen neuzeitlichen Programmänderung auch Aufgaben für die Baukunst erwachsen, die sich nicht mehr so ohne weiteres mit der gotischen Phrase lösen lassen werden. Die Bauten der englischen und amerikanischen Sekten, die weniger das Ideal eines stimmungsvollen Kirchenraumes als das eines Gemeindehauses verfolgen, in welchem sich das ganze reichentwickelte gemeinnützige Wirken und die Pflege christlicher Brüderlichkeit dieser Gemeinschaften abspielt, geben hier wertvolle Fingerzeige.

Am ausgesprochensten trat der architektonische Formalismus unbedingt in der Stiljagd auf, die, mit der deutschen Renaissance beginnend, um die siebziger Jahre eintrat und sämtliche Stile der letzten vierhundert Jahre im Fluge durcheilen liess. Hier handelte es sich um ganz und gar nichts anderes als um ein Geklingel mit Formen, die in einem verhängnisvollen Irrtum für „Architektur“ genommen wurden. Und nicht nur schwelgte man in diesem Formenvorrat an anspruchsvollen Architekturwerken, wie Monumentalbauten, sondern man überspann auch, wie gesagt, die harmlosesten Tagesaufgaben mit diesen Gebilden. Dazu verleitete vorwiegend der Umstand, dass von den Bauten aus alter Zeit nur die Denkmalbauten die Blicke auf sich zogen, während die Alltagsbauten, die doch gewiss gesundere Fingerzeige hätten geben können, wegen ihrer bescheideneren Erscheinung ganz unbeachtet blieben, soweit sie überhaupt unsere Tage erlebt hatten. So übertrug man die Formen Deutscher- Renaissance-Schlösser auf das kleine Bürgerhaus und verfiel so auf denselben Irrtum, den der Klassicismus begangen hatte, indem er die griechische Tempelfront übertrug, oder die Zeit der Nachahmung der italienischen Renaissance, indem sie bei jeder kleinsten Gelegenheit den Pallazzo Pitti in winzigem Maassstabe reproducierte.

Wie äusserlich das ganze Treiben der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts in dieser Hinsicht war, das zeigt schon deutlich die Bedeutung, die das Wort Stil in ihm annahm. Die Architekten befehdeten sich durch Jahrzehnte um den Wert der verschiedenen Stile; Klassicisten und Romantiker standen sich als feindliche Parteien gegenüber und verschwendeten ihre beste Kraft in versuchten Beweisen der Ueberlegenheit des einen Stiles über den andern. Für das Publikum verdichtet sich noch heute das geringe Interesse, das es der Architektur überhaupt entgegenbringt, in dem Begriff Stil. Die erste Frage, die bei einem neuen Architekturwerk aus dem Munde des Laien vernommen wird, ist die nach dem Stil. In dem Unterscheidungsvermögen der verschiedenen Stile genügt sich selbst derjenige, der für einen Kenner in Architektursachen gehalten sein will. Die Welt liegt im Banne des Wahngebildes einer „Stilarchitektur“. Dass die eigentlichen Werte in der Baukunst von der Stilfrage gänzlich unabhängig sind, ja dass eine echte Betrachtungsweise bei einem Architekturwerk gar nicht von Stil reden wird, dies zu begreifen ist dem heutigen Menschen kaum möglich.

Ja, wie man im Laufe des letzten Jahrhunderts die Architektur überhaupt nur aus dem Stilgesichtswinkel betrachten gelernt hatte, so konnte auch die in ihm wiederholt gehörte Forderung, neben den historischen Stilen einen neuen Stil, den Stil der Gegenwart zu erfinden, nur auf reine Aeusserlichkeiten abzielen, und in der That hat es nicht an Versuchen gefehlt, das äussere Stilkleid der Bauten in einer Weise zu arrangieren, die man zur Zeit gerade für modern hielt. Es sei hier an die in München unter König Maximilian II. angelegte Maximilianstrasse erinnert, bei deren Häusern man darauf ausging, den neuen Stil durch Verschmelzung von antiken und gotischen Detailformen zu entwickeln, ein Unternehmen, das uns heute ebenso kindisch erscheint, wie seine klägliche Erfolglosigkeit vor aller Augen steht. Zu solchen Versuchen müssen auch diejenigen allerneuesten Leistungen gezählt werden, die das Wesen eines modernen Stils darin suchen, dass sie auf den alten Organismus moderne Pflanzenornamente und Bäumchenmotive leimen, den Säulenköpfen statt der jonischen Schnecken oder korinthischen Blätter naturalistische Pflanzenformen umlegen und den Fensterumrahmungen statt der früheren geraden Umrisslinien solche von geschwungener Form geben. Diese Art modernen Stils ist in den allermeisten Fällen nur eine verschlechterte Auflage der früheren äusserlich gebrauchten historischen Stile, die er ablösen sollte und gehört durchaus noch in das Gebiet der im Formalismus befangenen Architekturmacher, von der wir füglich genug haben sollten.

Denn nicht in solchen Aeusserlichkeiten kann das Neue bestehen, das von der Architektur wie von jeder andern Aeusserung einer lebenskräftigen Gegenwart vorausgesetzt werden muss. Neue Gedanken sind es, die wir erwarten und nicht in neue Worte gekleidete Gemeinplätze. Die Architektur hat, wie jedes andere Kunstwerk, ihre Wesenheit im Inhalt zu suchen, dem sich die äussere Erscheinung anzupassen hat, und man muss auch von ihr verlangen, dass diese äussere Form nur dazu diene, das innere Wesen wiederzuspiegeln, wobei die Art der Detailformen, „der architektonische Stil“, zunächst eine verschwindend geringe Rolle spielt.

Von diesem Standpunkte aus wird ein grosser Teil der heutigen Architekturleistungen völlig versagen, denn die Befangenheit ihrer Schöpfer in Stilbestrebungen ist ihnen fast als durchgehendes Merkmal aufgeprägt. Will man daher nach einem neuen Stile, dem Stile unserer Zeit suchen, so wäre den Kennzeichen desselben viel eher in solchen neuartigen Schöpfungen nachzuspüren, die wirklich ganz neu entstandenen Bedürfnissen dienen, wie etwa in unsern Bahnhöfen, Ausstellungsbauten, Riesenversammlungshäusern, ferner auf allgemein-tektonischem Gebiete, in unsern Riesenbrücken, Dampfschiffen, Eisenbahnwagen, Fahrrädern usw. In der That sehen wir gerade hier wirklich neuzeitliche Gedanken und neue Gestaltungsgrundsätze verkörpert, die uns zu denken geben müssen. Wir bemerken eine strenge, man möchte sagen, wissenschaftliche Sachlichkeit, eine Enthaltung von allen äussern Schmuckformen, eine Gestaltung genau nach dem Zweck, dem das Werk dienen soll. Und trotzdem, wer möchte den gefälligen Eindruck einer weit geschwungenen Eisenbrücke leugnen, wem gefällt nicht der heutige elegante Landauer, das schmucke Kriegsschiff, das zierliche Zweirad? Da sie aus unserer Zeit heraus so entstanden sind, wie sie heute vor uns stehen, so sehen wir doch offenbar in ihnen einen modernen Empfindungsbestandteil niedergelegt. Sie müssen eine ausgesprochen moderne Gestaltung verkörpern, sie müssen das Empfinden unserer Zeit ebenso wiederspiegeln, wie das mit reichem Akanthuswerk überzogene Kanonenrohr das Empfinden des siebzehnten Jahrhunderts oder die mit vergoldeter Schnitzerei verzierte Sänfte das des achtzehnten Jahrhunderts verkörperte.

In solchen neuartigen Gebilden sind die Fingerzeige gegeben, welche auf unsere ästhetische Vorwärtsbewegung hinweisen. Diese kann nur in der Richtung des streng Sachlichen, der Beseitigung von lediglich angehefteten Schmuckformen und der Bildung nach den jedesmaligen Erfordernissen des Zweckes gesucht werden. Andere Anzeichen bestätigen dies, so z. B. unsere Kleidung. Die Männerkleidung, die noch bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts – wenigstens soweit der Anzug der Kavaliere in Frage kommt – in den reichsten Formen gehalten war, Verzierungen aus Stickerei trug und aus kostbaren, leicht verletzlichen Stoffen gefertigt wurde, hat im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts eine ständige Vereinfachung bis auf unsern heutigen schmucklosen Frack und Ueberrock hin erfahren. Die heutige Kleidung ist dazu dieselbe für jeden Stand unserer Gesellschaft, deren Eigentümlichkeit es ist, dass sie in allen ihren Teilen auf das bürgerliche Ideal abgestimmt ist, während noch im achtzehnten Jahrhundert eine besondere Sitte, Lebensart und Kleidung des obersten Standes vorlag. Nur in der militärischen Uniform hat sich heute noch ein Rest der alten schmückenden Kultur erhalten, aber man kann jetzt auch ihre Tage als gezählt betrachten, nachdem schon das Bild der aus der Tropenuniform verallgemeinerten, glanz- und farblosen Soldatenkleidung der Zukunft am Horizont aufgetaucht ist. Selbst im Anzug der Frau, der doch stets künstlerischen Gesichtspunkten im höchsten Maasse Rechnung trug, gehen bereits Umbildungen nach der Einfachheit und unbedingten Zweckmässigkeit hin vor sich, die sich, als vorwiegend von England aus verbreitet, für uns heute in dem Begriff tailor made verdichten.

Trotzdem wäre es gewagt, anzunehmen, dass uns die Befriedigung des blanken Zwecks allein schon genügte. Der „Reformanzug“, in welcher Form er auch empfohlen wurde, hat noch stets für unser Empfinden die Karikatur gestreift. Unsere heutige einfache Kleidung ist auch keineswegs ohne alle überflüssigen Bestandteile. Der heutige elegante Herrenanzug kennt noch den Cylinder, die Glanzlederschuhe und die seidenen Rockaufschläge – Bestandteile, die man fast mit gewissen polierten und vernickelten Sonderteilen einer Maschine vergleichen könnte. In beiden Fällen scheint ein gewisses Sauberkeitsbedürfnis sie geschaffen zu haben, und zwar ein Bedürfnis, unwillkommene Ablagerungen nicht nur zu verhindern, sondern auch stets den Beweis zu liefern, dass sie nicht vorhanden sind, dass alles schmuck und in bester Ordnung ist. Dahin gehört auch durchaus unsere gestärkte weisse Wäsche.

Es berühren sich also hier gewisse ideal-sanitäre Anschauungen mit den ästhetischen. Und die Verknüpfung beider tritt auch durchaus in den modernen Umgestaltungen auf, wie sie jetzt beispielsweise das Innere unseres Wohnhauses durchzumachen beginnt. Hier gehen Umbildungen vor sich – am besten erkennen wir sie im heutigen englischen Hause – welche auf Beförderung des Eintritts von Luft und Licht, unbedingt zweckmässige Gestaltung des Raumes, Vermeidung aller unnützen Anhängsel in der Dekoration, Beseitigung des schweren, unbeweglichen Hausgeräts und auf durchaus helle, den Eindruck der Sauberkeit erweckende Gesamtstimmung hinzielen, Umbildungen, die sich genau in derselben Richtung abspielen, wie es bei unserer Kleidung, der engeren Wohnung, die uns umgibt, der Fall gewesen ist.

Fasst man dies alles zusammen, so lässt sich unsere heutige ästhetisch-tektonische Anschauung vielleicht dahin feststellen, dass wir statt nach Entfaltung von rein äusserlichem, mit dem Wesen der Sache nicht in unmittelbarem Zusammenhange stehenden Schmuck jetzt mit Entschiedenheit auf eine zweckmässige Gestaltung hinstreben, jedoch nicht ohne gleichzeitig auch eine gewisse, mehr sinnbildlich als praktisch mitsprechende schmucke Eleganz, eine gewisse saubere Knappheit der Form darzulegen.

Auf dem Gebiete dessen, was wir gemeinhin mit dem Begriff Architektur bezeichnen, wird man freilich diesen scharf modernen Zug heute weder schon deutlich erkennbar ausgesprochen finden, noch ihn auch durchweg erwarten dürfen. Einmal muss man, wenn von Architektur die Rede ist, zunächst den schon erwähnten Unterschied zwischen Werken der höheren Baukunst und den Alltagsaufgaben (Monumentalbaukunst und bürgerlicher Baukunst) einhalten, wenn auch zugegeben werden muss, dass dieser Unterschied nur ganz allgemein genommen werden darf, und dass sich scharfe Grenzen nicht ziehen lassen. Von der ersteren wird eine gewisse gebundene Form nicht zu trennen sein; die Einteilung in ein festes architektonisches Gerippe, das Vorwalten des strengen Rythmus sind hier ebenso unerlässlich, wie der regelrechte Bau eines Dramas, oder die poetische Form in einem Gedicht. Eine realistische, rein nach dem Bedürfnis zugeschnittene Gestaltung wird man hier nicht verlangen können und dürfen. Anders liegt die Sache aber natürlich bei den Tagesaufgaben, insbesondere beim Wohnhausbau, wo wir die Ansprüche, ein höheres Kunstwerk in gebundener Form hervorzubringen, füglich fallen lassen sollten und wo solche Ziele ebenso am unrechten Platze sind, wie etwa die Absicht des Tagesschriftstellers, einen Zeitungsaufsatz in die Form eines Epos zu bringen.

Sodann ist aber auch noch in Rechnung zu ziehen, dass eine im Grunde ihres Wesens konservative Kunst wie die Architektur die gewohnten Geleise nicht so leicht wird verlassen können, als etwa die Malerei oder das Kunstgewerbe. Denn der Gegenstand, um den es sich beim Bauen handelt, ist immer von ziemlich grosser wirtschaftlicher Bedeutung, seine praktische Durchführung erfordert eingehende Vorbereitung und hängt von einer Menge von äussern Umständen ab, mit denen andere Künste nicht zu rechnen haben. Die Baukunst ist von allen Künsten die schwerfälligste.

Aber dennoch hat sich unsere bisherige Architektur, ganz besonders die der kleineren Tagesaufgaben, in einer Weise den sich sonst überall Geltung verschaffenden Gegenwartsbestrebungen verschlossen, dass sie heute von dem Anschein einer gewissen Verknöcherung und Entfremdung von dem Leben nicht frei ist. Hierfür sind aber vorwiegend die äusserlich-stilistischen Bestrebungen verantwortlich zu machen, die sie während des ganzen letzten Entwicklungszeitraumes im Banne gehalten haben. Eine Abstreifung solcher blossen Architektur- und Stilmacherei, wie sie heute noch fast das ganze Feld beherrscht, wird zunächst notthun, um einen Verjüngungsprozess einzuleiten. Wenn es gelänge, den Begriff Stil zunächst einmal ganz zu verbannen, wenn sich der Baukünstler mit Absehung von allem Stil zunächst immer klar und in erster Linie an das hielte, was die besondere Art der Aufgabe von ihm verlangt, so wären wir von dem richtigen Wege zu einer Gegenwartskunst, zu dem wirklichen neuen Stil nicht mehr weit entfernt. Bedächte er nur, dass man in einem Kaufhause vor allem verkaufen, in einem Wohnhause wohnen, in einem Museum ausstellen, in einer Schule lehren will, suchte er nur in der Grundanlage, im Aufbau, in der Gestaltung der Räume, in der Anordnung von Fenstern, Thüren, Wärme- und

Beleuchtungsquellen zunächst lediglich den sich daraus ergebenden Forderungen gerecht zu werden und zwar bis in alle Einzelheiten, so wären wir schon auf dem Wege zu jener strengen Sachlichkeit, die wir als den Grundzug modernen Empfindens kennen gelernt haben. Dass allen diesen Forderungen, deren Berechtigung ja eigentlich auf der Hand liegt, heute schon in befriedigender Weise Rechnung getragen würde, wird niemand behaupten können. Der Durchschnittsarchitekt von heute baut noch immer in allererster Linie stilistisch, er baut entweder in einem von der Antike

abgeleiteten, oder in einem der mittelalterlichen Richtung angehörenden Stile. Im erstern Falle zwängt er den Körper, den er architektonisch behandeln will, in die Fesseln strenger akademischer Achsen, unterdrückt jede durch die Verhältnisse bedingte Unregelmässigkeit zu gunsten seines formalistischen Schemas, legt die Fenster viel eher dahin, wo es seine imaginären Achsen vorschreiben, als dahin, wo es Bedürfnis und Himmelsrichtung erwünscht machen, unterdrückt das Dach, die Schornsteine und alles, was seinen formalistischen Anschauungen einer korrekten italienischen Façade zuwiderläuft. Baut er mittelalterlich oder in deutscher Renaissance, so ist das Losungswort malerisch; er pflegt sich dann in einer rein äusserlich bestimmten, vielfach willkürlichen Gruppierung zu ergehen, die wiederum .mit dem Wesen der Sache nichts zu thun hat; er bringt Türmchen, Giebelchen, Erker da an, wo sie ihm für die malerische Gruppe erwünscht erscheinen und legt die Treppe so, dass ihre aufsteigenden Fenster von der Strasse aus ein gutes Bild machen. In beiden Fällen macht er eben in erster Linie Architektur, statt in erster Linie seine Aufgabe sachlich zu lösen. Er schafft ein Wahngebilde von abstrakter Schönheit, unter dem sich der Benutzer drehen und winden kann, wie er will; der Architekt glaubt dieses Opfer zu gunsten seiner Stil- und Architekturbestrebungen von ihm verlangen zu können. Ja er hält dieses Stil- und Architekturmachen für seinen eigentlichen Beruf, seinen Apparat an Säulen, Giebeln, Verdachungen, Turmlösungen für sein eigentliches Handwerkszeug, in dessen Handhabung er auf der Bauschule zunftgemäss ausgebildet worden und von dem er sich keinesfalls zu trennen gesonnen ist. Er bethätigt sich vor allen andern Dingen als „Stilarchitekt“.

Mit dieser Stilbefangenheit sowohl als mit der natürlich bedingten Schwerfälligkeit der Architektur mag es zusammenhängen, dass eine grundsätzliche Schwenkung aus unsern bisherigen Kunstzuständen, die unter dem Begriff der neuen Bewegung seit einigen Jahren im Gange ist, zunächst nicht innerhalb der Architektur ihren Anfang nahm, sondern beim Kunstgewerbe, und dass bisher hier nicht Architekten die Führer waren, sondern Künstler aus einem ganz andern Lager, vornehmlich dem der Maler. Nur in Wien, wo die Architektenschule Otto Wagners schon seit Jahren auf eine künstlerisch freiere, dem Zweckmässigkeitsbedürfnis Rechnung tragende Architektur hingearbeitet hatte, war die Baukunst von vorn herein in der Lage und bereit, eine Verbindung mit dem neu aufstehenden Kunstgewerbe einzugehen. An andern Orten, vornehmlich in Deutschland, verhielt sich bisher die Architektenschaft ziemlich ablehnend. Aber wie das Kunstgewerbe im letzten Ende doch nur auf die Ausgestaltung des Innenraumes gerichtet ist, so arbeitet es der Architektur, selbst wenn man diese in dem heute üblichen engen Begriffe des Gebäudeerrichtens fasst, doch unmittelbar in die Hand. Ein Erfolg der neuen Richtung im Kunstgewerbe kann daher keineswegs ohne Einfluss auf die Architektur bleiben, ja er kann dazu führen, dass das Kunstgewerbe die Architektur jetzt ebenso nach sich zieht, wie es in der deutschen Renaissance-Bewegung in den siebziger Jahren der Fall war, die ebenfalls beim Kunstgewerbe ihren Ursprung nahm.

Noch lässt sich freilich über diese engere kunstgewerbliche Bewegung selber nicht ganz klar sehen. Die Bewegung stellt sich in Deutschland heute noch als ein brodelndes Kochen sich vielfach widerstreitender Elemente dar, das weit davon entfernt ist, ein einheitliches Bild zu gewähren. Im

letzten Ende eine Folgeerscheinung derjenigen Bewegung, die unter der Führerschaft von William Morris in England in den sechziger Jahren entstand, ist sie von dieser doch grundverschieden. Was sie von der englischen Bewegung äusserlich am meisten unterscheidet, ist der schwellende Formenaufwand und die Sucht nach sensationellen Gestaltungen, die sich in den Leistungen der neuen kontinentalen Kunst bisher ausgedrückt hat. Die ganze Bewegung ging in Deutschland eigentlich von dem Bestreben aus, sogenannte neue Formen zu suchen, Formen, die grundsätzlich mit den überlieferten nichts mehr gemein haben sollten. Mochte nun zu diesem plötzlich ausbrechenden Verlangen das seit Jahren bei Abhaspelung der alten Stile aufgespeicherte Missbehagen die unmittelbare Veranlassung abgeben, so ist doch nicht zu vergessen, dass sich in ihm eine Auffassung kund gibt, die auf den Grund der eigentlichen künstlerischen Zeit fragen nicht hinabreicht. Es sind eben wieder Formen, um die es sich handeln soll, im Grunde also wieder die alte Stil- und Ornamentmisère. Denn was kann es der Menschheit nützen, wenn sie nun jetzt statt der alten Akanthusranke eine solche aus Linienschnörkeln vorgeführt erhält? Glaubt man von einer solchen Aenderung von Aeusserlichkeiten, dass sie uns die künstlerische Erlösung bringen wird, nach der wir heute so sehr verlangen?

Indessen, wer tiefer zusieht, und wer sich durch die gewaltthätige Art, mit der derartige Aeusserlichkeiten uns hier und da entgegengestreckt werden, nicht beirren lässt, der wird doch in der jetzigen Bewegung tiefere Gründe entdecken. Und vielleicht gelangt er dann zu der Hoffnung, dass dieser Formenstandpunkt, der auch in dieser sogenannten neuen Kunst im allgemeinen heute noch vorwaltet, nur ein Durchgangsstadium darstellt, dass er nur die Kinderkrankheit ist, durch die sich eine heraufkommende neue Kunstauffassung durchzuwinden im Begriff steht.

Denn zu der früheren Kunstausübung, die sich unter dem Banne der historischen Stile abspielte, steht die neue Bewegung, wenn man die besten Leistungen ihrer Führer betrachtet, doch in vieler Beziehung in einem vorteilhaften Gegensatze. An Stelle der lediglich schulmässigen Gestaltung von früher tritt eine freie, durch keine Fesseln beengte Formengebung, die den jedesmaligen Sonderumständen Rechnung trägt, die sich flüssig jedem Bedürfnis anpasst, dem innern Wesen der Aufgabe nachspürt und dieses äusserlich auszudrücken sucht. An die Stelle der schulmässigen, akademischen Ausbildung ist die individuelle getreten, und schon hierin liegt ein Sieg des Gegenwartsgeistes ausgedrückt, den die Bewegung verkörpert. Neben den mehr realistischen Bestandteilen entdecken wir noch einen feinen Stimmungsbestandteil. Man strebt eine gewisse seelische Einheitlichkeit der Farben- und Formenwerte des Innenraumes an, wobei man jenen verfeinerten Farbensinn bethätigt, der sich aus der neuern farbigen Wiedergeburt in der Malerei herüber verpflanzt hat. In der Formengebung bevorzugt man die weiche, flüssige Linie, die ja jedenfalls an Ausdrucksfähigkeit von der starren, geraden, die vor ihr herrschte, nicht erreicht werden kann. Sie allein ist, so sagt man, im stande, den feineren Abstufungen des modernen, stark differenzierten Gefühlslebens gerecht zu werden, die flüchtigen Stimmungen, die der moderne Mensch im Kunstwerk verkörpert sehen will, festzuhalten. So stellte sich diese neue kontinentale Kunst bisher vorzugsweise als Gefühlskunst dar, worin ihre starken und schwachen Seiten ausgedrückt liegen. Als Gefühlskunst kann sie es dahin bringen, das gerade vorliegende Gefühlsleben unserer Zeit zu decken und vielleicht ganz zu erobern. Aber sie muss sich bewusst bleiben, dass sie sich damit auf dem schwankenden Boden sich stetig ändernder Werte bewegt. Die innerhalb der Pendelschwingungen der Gefühlswerte liegende Gravitationsachse, das in dem Wechsel allein Dauernde und mathematisch zu Fassende ist für die tektonischen Künste in den sich stets gleich bleibenden Forderungen bestimmt, welche Material, Zweckmässigkeit und Konstruktion diktieren. Je vollkommener sie erfüllt werden, um so dauernder werden die gewonnenen Werte sein. Vom Standpunkt dieser Forderungen jedoch erscheint an den bisherigen Leistungen der modernen Bewegung durchaus nicht alles unbedenklich.

Man kann von den Verirrungen absehen, in die unsere heutige niedere Industrie in missverstandener Nachahmung der Aeusserlichkeiten der Grossen gerathen ist, Verirrungen, die den sogenannten Jugend- oder Secessionsstil – mit welchem Namen die Fabrikanten ihre neueste Mode bezeichnen – schlimmer erscheinen lassen, als irgend eine der früher unter der Flagge der historischen Stile gepflegten Moden. Auch die Kunst der Grossen fordert vielfach zum Widerspruche heraus. Die erwähnte gefühlvolle Geschwungenheit aller Linien, deren Ursprungsland Belgien ist, nimmt auf kein Material Rücksicht, sie zwingt das Buchornament, den Messingleuchter und das Möbel in gleicher Weise in ihren Bann. Gerade in der Möbelkunst aber fordert sie unverantwortliche Opfer an Konstruktions- und Materialrücksichten. Die ausgeprägteste Eigenschaft des Holzes ist die Faserung in einer bestimmten Richtung. Ist nun auch unsere heutige Technik in der Lage, jede sich daraus ergebende Konstruktionsschwierigkeit zu überwinden, und versorgen uns auch überseeische Länder mit Holzarten, bei denen die Spaltbarkeit die denkbar geringste ist, so bewegt sich doch diese ganze Tischlerei in gewissen gekünstelten Verhältnissen. Dadurch wird sie aber vor allem äusserst kostspielig, und ihre Erzeugnisse bleiben den breiteren Schichten des Volkes vorenthalten. Auch im allgemeinen genommen scheint es mit dem Geiste einer im ganzen sachlich und nüchtern denkenden Zeit wie der unsern wenig vereinbar, ein Material im entgegengesetzten Sinne davon zu behandeln, wie es seine Natur erfordert. Die neue Bewegung würde an Ueberzeugungsfähigkeit und Volkstümlichkeit ungemein gewinnen, wenn in ihr mehr Natürlichkeit und gesunde Werklichkeit zur Geltung käme. Ein kräftiger Schuss Realismus thäte ihr ungemein gut. Zugleich würde sich dann der wirtschaftliche Rahmen ihrer Erzeugnisse der grössern Verbreitung im Volke anpassen, wodurch ungemein viel erreicht wäre; denn es kann sich heute bei einer Bewegung, die reformierend wirken will, nicht lediglich darum handeln, eine Luxuskunst zu entwickeln, es muss vielmehr das Ziel bestehen, der bürgerlichen Gesellschaft, die das Gesamtbild unserer modernen gesellschaftlichen Zustände bestimmt, eine ihr angepasste Kunst entgegenzubringen.

Aber hier stossen wir sogleich auf einen neuen Missstand unserer heutigen deutschen Verhältnisse: unsere moderne Gesellschaft hat gar noch nicht das Verlangen, ihre Umgebung verändert, sie künstlerisch gestaltet zu sehen. Hierzu ist sie vor allem auch kaum in der Lage, so lange unsere

gegenwärtigen Wohnungszustände weiter dauern. Zum Unterschiede von England, wo die um soviel ältere Bewegung fast von Anfang an Gelegenheit hatte, im Hause ihren natürlichen Stützpunkt zu sehen, wo durch alle Schichten noch das Verlangen wach ist, im eigenen Hause zu wohnen, sich dauernd ansässig zu machen, hat der Deutsche kein eigentliches Haus. Er sucht in einer Unstetigkeit, die noch etwas vom Nomadenleben behalten zu haben scheint, im fabrikmässig hergestellten Mietshause seine Unterkunft. Das geringe Interesse, dass ihn so an die Räume fesselt, in die ihn der Zufall getrieben hat, und die er wie ein Hotelzimmer leichten Herzens wechselt, ist im Grunde der Krebsschaden, der unsern gesamten deutschen Kunstverhältnissen anhaftet.

In der That wird eine Aenderung unserer deutschen künstlerischen Zustände nur in einem, im wesentlichen noch zu schaffenden, deutschen Hause ihren Anfang nehmen können. Die Kunst beginnt, wie so vieles andere, zu Hause. Nur wer in seinen vier Wänden künstlerischen Interessen obliegt, wer hier in einem natürlichen Drange seine persönliche Umgebung künstlerisch gestaltet, wird jenes Gefühl für Kunst aus seinen Räumen auf die Strasse und in die weitere Umwelt mitnehmen, das unerlässlich ist, wenn die heutige Welt wieder zu einer breitern volkstümlichen Kunst gelangen soll. Auch die jetzt ganz und gar unvolkstümliche Architektur kann nicht zur Volkstümlichkeit gelangen, es sei denn durch das Stadium der häuslichen Baukunst. Diese wird es zunächst gelten neu zu gestalten. Und auch hier wird die Umbildung nur von dem Kleinen ins Grosse, vor allem von innen nach aussen vor sich gehen können. Jeder Einzelne hat es in der Hand, das Zimmer, in dem er lebt, vernünftig-künstlerisch zu gestatten. Ist der Sinn dafür in breitern Schichten geweckt, so muss notwendigerweise ein echteres Volksempfinden inbezug auf die Erscheinung des Hauses eintreten; und ist dieses vorhanden, so hat der Einzelne wieder den Schlüssel für das Verständnis von Architekturfragen überhaupt in der Hand. Die Baukunst wird ihm vielleicht dann nicht mehr jene nichtssagende, ja abweisende Fachkunst sein, die sie bis jetzt für das grosse Publikum war, sie wird wieder in den Bereich seines Verständnisses und seines Interesses kommen.

 

Dieses Bild eines möglichen Ganges der Ereignisse lässt sich bereits durch ein Beispiel belegen: in England hat die Entwicklung diesen Weg eingeschlagen und bis jetzt wenigstens zu einer glänzend entfalteten Hausbaukunst geführt. Auch hier fing die kunstgewerbliche Bewegung unter William Morris zunächst im Innern des Hauses ihr Umbildungswerk an. Es dauerte nicht lange, so folgte eine gänzliche Revolution in der häuslichen Baukunst. Auch hier lag die letztere in den Fesseln eines abstrakten Formalismus; Gotiker und Klassicisten überboten sich gegenseitig in der unsachlichsten Architekturmacherei. Die einen führten ihre aus unechten Kirchenformen aufgebauten Kastellchen auf, die andern setzten jene geputzten und ölfarbegestrichenen dachlosen Kästen in die Welt, die letzte Abwandlung des Pallazzo-Strozzi-Ideals, von der wir auch in Deutschland Beispiele genug haben.

Hier setzte nun die neue Architekturbewegung ein, deren Vater der Architekt Norman Shaw ist, und die man gemeinhin mit dem Namen Queen-Anne-Richtung bezeichnet. Was diese Richtung wollte und was man damals that, hatte mit der Königin Anna sehr wenig zu thun. Es war nichts anderes, als eine Beseitigung des architektonischen Formalismus zu gunsten einer einfach-natürlichen, vernünftigen Bauweise. Eine solche brauchte man gar nicht neu zu erfinden, sie war vorhanden und Jahrhunderte lang geübt worden in der heimischen kleinbürgerlichen und ländlichen Architektur, in jenen Regionen der Bauausübung, in die der italienisch gebildete Architekt nicht hinabgereicht hatte, die in früheren Jahrhunderten, den örtlichen Traditionen folgend, der Landmaurermeister ausgeübt hatte. Hier fand man alles, was man wünschte, und wonach man inmitten des Architekturaufwandes, den die Architekten veranstalteten, so sehr lechzte: Anpassung an die Bedürfnisse und die örtlichen Verhältnisse, Schlichtheit und Biederkeit der Empfindung, äusserste Traulichkeit und Behaglichkeit der Raumbildung, Farbe, eine ungemein anziehende und malerische, dabei aber vernünftige Gesamtgestaltung, Sparsamkeit der Bauausführung. Die auf diesem Boden entwickelte neuenglische

Hausbaukunst hat es heute zu kostbaren Leistungen gebracht. Aber sie hat noch mehr gethan: sie hat das Interesse und das Verständnis für Hausarchitektur im ganzen Volke verbreitet, sie hat den einzig sichern Untergrund für eine neue künstlerische Kultur überhaupt geschaffen: das künstlerische Haus.

Sie hat es unter anderm auch mit sich gebracht, dass die neue kunstgewerbliche Richtung in England ganz genau weiss, für wen sie arbeitet: für das englische Haus, während unsere kontinentale neue Bewegung sich solange in Zeitschriften und auf Ausstellungen herumziehen lassen muss, bis wir Deutsche erst ein künstlerisches Haus haben werden.

Es liegt kein Grund vor, weshalb wir nicht dasselbe in unserm Sinne thun sollten, was man damals in England that: in unserer bürgerlichen Baukunst zur Einfachheit und Natürlichkeit zurückkehren, wie sie in unsern alten ländlichen Bauten eingehalten worden ist, auf jedes Architekturgeklingel an und in unserm Hause verzichten, Gemütlichkeit der Raumbildung, Farbe, natürlichen Aufbau, sinngemässe Gesamtgestaltung einführen, statt uns weiter in die Fesseln formalistischer und akademischer Architekturmacherei zu begeben. Der Weg, den man in England zu diesem Ziele beschritt, nämlich die Wiederaufnahme örtlich-bürgerlicher und ländlicher Baumotive, verspricht uns aber gerade in Deutschland die reichste Ernte, wo die ländliche Bauweise der Vergangenheit mit einer Poesie und einem Stimmungsreichtum umkleidet ist, wie kaum einer der altenglischen Bauten. Halten wir uns aber an das Bodenwüchsige, und folgt nur jeder von uns unbeeinflusst seinen persönlichen künstlerischen Neigungen, so haben wir bald nicht nur eine vernünftige, sondern auch eine nationale bürgerliche Baukunst. Die Nationalität in der Kunst braucht nicht künstlich gezüchtet zu werden. Man erziehe echte Menschen und wir haben eine echte Kunst, die bei aufrichtiger Gesinnung jedes Einzelnen gar nicht anders als national sein kann. Denn jeder echte Mensch ist ein Bestandteil einer echten Nationalität.

Freilich gehört dazu ein Entkleiden von jenem mit der Jugend unserer neubürgerlichen Kultur zusammenhängenden Zuge, der jetzt noch nur allzuhäufig bei uns angetroffen wird: dem Bestreben, möglichst viel zu scheinen, dem Nebenmenschen zu imponieren, durch prunkvollen Aufwand nach aussen zu glänzen. Gerade dieser Zug ist es, der das Architekturbild ganzer deutscher Städte, wie z. B. des im amerikanischen Tempo aufgeschossenen Berlin, heute so unangenehm macht. Gerade er hat auch das so oft angetroffene Verlangen deutscher Bauherren mit sich gebracht, aus ihrem bürgerlichen Heim den Palazzo eines italienischen Renaissancefürsten gemacht zu sehen. Ohne eine

Abstreifung solcher falschen Sinnesweise können wir zu natürlich-gesunden Kunstzuständen nicht gelangen. Eine echte Kunst kann nur auf echter Empfindung beruhen. Und Kunst ist überhaupt nicht allein Sache des Könnens und der Bethätigung ästhetischer Gefühle, sondern vor allem auch Sache des Charakters und der Gesinnung. Ganz besonders muss dies aber von der Architektur als der Kunst des täglichen Lebens behauptet werden, in der sich jedes Fallenlassen der sachlichen Ziele, jedes Unterschieben von hergeholten Gesichtspunkten aufs bitterste rächen muss, so bitter, wie wir es in der zur „Stilarchitektur“ gewordenen Baukunst des letzten Jahrhunderts gesehen haben. Unter den Ergebnissen, welche die mannigfaltigen Architekturwandlungen des neunzehnten Jahrhunderts mit sich gebracht haben, ist vielleicht die beginnende neue Stellung zur Stilfrage das wichtigste. Das Jahrhundert, das sich in der Architektur am deutlichsten als das des chaotischen Durcheinanders aller Stile der Vergangenheit kennzeichnet, hat wenigstens das Eine mit sich gebracht: eine völlige Entwertung dieses Stiltreibens, sodass wir heute bereits dahin gekommen sind, dass die blosse schulmässige Anwendung eines geschichtlichen Architekturstils nicht mehr als Verdienst gilt, ja kaum mehr unser Interesse in Anspruch nimmt. Es steht heute ausser aller Frage, dass keiner der wieder aufgenommenen alten Architekturstile als Gegenwartsstil sich bewährt, dass keiner von ihnen sich als lebenskräftig erwiesen hat. Auch die gewaltsamen Versuche, mit äusserlichen Mitteln einen neuen Stil zu erfinden haben zu nichts geführt; weil sie eben äusserlich blieben. Der ungeheure Aufwand an Aesthetik und Archäologie, den das Jahrhundert in die Schranken gefordert hat, die krampfhaften Anstrengungen ganzer Philosophenschulen, dem Kunstschaffen mit Gesetzen unter die Arme zu greifen, sie sind an dem immer mehr in Erkrankung geratenden Körper der Architektur abgeprallt, nicht ohne dessen Lebenskräfte, wie falsche Medicamente, nur noch mehr zu erschüttern.

Unterdessen wirkte aber das nie rastende Leben weiter und schuf sich, während sich die Mutter Architektur auf Abwegen befand, selbst Formen für das, was es an Neuem hervorbrachte, die anspruchslosen Formen der reinen Sachlichkeit, es schuf unsere Maschinen, Wagen, Geräte, eisernen Brücken und Glashallen. Indem es dabei ganz nüchtern vorging, indem es praktisch, man möchte sagen rein wissenschaftlich verfuhr, verkörperte es nicht nur den herrschenden Geist der Zeit, sondern passte sich auch den unter dem Einfluss desselben sich umbildenden ästhetisch- tektonischen Anschauungen an, die immer entschiedener statt der früheren schmückenden Kunst eine sinngemässe sachliche Kunst verlangten.

Auf eine sachliche Kunst hatten im Grunde schon die unklaren romantischen Bestrebungen, soweit sie in der Architektur sich äusserten, abgezielt, sie waren – als höchst bezeichnendes Merkmal – im neunzehnten Jahrhundert zum ersten Male wieder auf jene nordischen Anschauungen einer im Grunde ihres Wesens sachlich und werklich empfindenden Kunst zurückgekommen, die die gotische Zeit in so grosser Klarheit verkörpert. Nur der Umstand, dass sich die neugotische Schule in derselben Weise in das Aeusserlich-Formale, in die blosse Stilauffassung verwickelte, wie es die

klassicistische gethan hatte, konnte den grossen Umbildungsprozess etwas verdunkeln, der sich trotz aller Schwankungen und Gärungen im neunzehnten Jahrhundert mit steigender Folgerichtigkeit zu vollziehen begann: den Ersatz des klassischen Schönheitsideals durch ein neues, dem nordisch- germanischen Geiste entsprechendes.

Will man beide Ideale mit Worten charakterisieren, so kann man sagen, dass die Kunst der romanischen Völker das als allgemein gültig betrachtete formal Schöne anstrebt, während die germanische das Charakteristische will. An Stelle der schwungvollen, die Wesenheit überdeckenden

Harmonie der klassischen und italienischen Kunstauffassung liebt die nordische das Kennzeichnen der Sonderumstände zu setzen, an Stelle der anerkannten, äusseren Schönheitslinie das innerlich Ansprechende, an Steile des Symmetrischen die den Umständen angepasste Gestaltung, an Stelle des Pathetischen das Vernünftige. Die klassische Kunst ist die Kunst des Allgemeinen, die germanische die des Besonderen.

In dem Individualismus berührt sich die germanische mit derjenigen Kunstauffassung, die wir augenblicklich im besten Sinne als die moderne bezeichnen. Aber auch schon die weiter vorn erörterte neuere Anschauungsweise in der architektonischen Gestaltung, die die Errungenschaften

der bisher geleisteten architektonischen Arbeit in den Dienst einer persönlichen, dem jedesmaligen Zweck und Stimmungsziel angepassten Gestaltung stellt, gehört dahin, ebenso wie das jetzt auftretende Verlangen, die Sonderheit des Gebäudes, die Bestimmungsart des Raumes architektonisch zu charakterisieren. Ganz und gar aber entspricht diesem Geiste der realistische Grundzug sowohl wie das Stimmungs- und Individualisierungsmotiv der neuen kunstgewerblichen Bewegung, die ja übrigens eine ausgesprochen germanische Färbung schon dadurch hat, dass sie von nordischen Völkern entwickelt worden und bisher fast ausschliesslich auf diese beschränkt geblieben ist. Parallelbestrebungen finden sich in andern Künsten: die letzten auf Naturalismus einerseits, auf Stimmungswerte anderseits ausgehenden Wandlungen in der Malerei und Poesie deuten auf dasselbe Ziel hin.

In einem Zusammenfassen aller dieser schwankenden Bewegungen der Gegenwart, mit klarer Erkenntnis ihres gemeinschaftlichen Gravitationspunktes, wird heute das Ziel unseres Kunststrebens gesucht werden müssen. Denn es gibt keine Specialkünste, sondern nur eine grosse Allgemeinkunst. Aber es gehört zu deren Lebensmark, dass sie eine einheitliche Ueberzeugung vertritt. Die Architektur wird als schwerfälligste der Künste naturgemäss erst zuletzt in die Lage kommen, die vollen Konsequenzen des neuen Geistes zu ziehen. Aber sie wird sich hierzu entschliessen müssen, wenn sie die ihr gebührende Stellung im Concert der Künste wieder erobern will. Sollten wir aus dem Irrgarten der Kunst der letzten hundert Jahre je wieder zu Kunstzuständen gelangen, die auch nur eine entfernte Aehnlichkeit mit den grossen Epochen der Kunstgeschichte aufweisen, so wird auch die Architektur wieder die Führerrolle in der Gemeinschaft der Künste übernehmen müssen. Von ihr aus werden die Strahlen eines neuen künstlerischen Lebens ausgehen müssen, sie wird es sein, die den andern Künsten das Rückgrat gibt und ihnen wieder die Grösse und Straffheit einhaucht, die sie unter ihrer Führung in früheren Glanzzeiten hatten.

 

Dies fühlte der künstlerische Apostel Englands, Ruskin, indem er schon Ende der vierziger Jahre die Worte niederschrieb: „Ich bin der Ueberzeugung, dass die Architektur der Anfang aller Kunst sein muss, und dass die andern Künste ihr folgen müssen nach Zeit und Ordnung. Und ich glaube, dass das Gedeihen unserer Maler- und Bildhauerschulen in erster Linie von dem Gedeihen unserer Architektur abhängig ist. Alle Künste müssen solange im Schwächezustande verharren, bis diese bereit sein wird, die Führung wieder zu übernehmen.“

Wann wird unsere Architektur hierzu bereit sein?

Nicht eher jedenfalls, als bis sie sich aus den Fesseln des Stilgesichtspunktes, in denen sie während eines Jahrhunderts festgebannt lag, zu neuer goldener Freiheit emporgerungen hat, nicht eher, als bis sie aus einer schemenhaften Stilarchitektur wieder zu einer lebendigen Baukunst geworden ist.